6. Kapitel


Oxidativer Stress

Viel diskutiert und immer wieder erwähnt in Bezug auf den zellulären Verfall wird der sogenannte „oxidative Stress“. Dieser scheint maßgeblich am Alterungsprozess des Körpers beteiligt und die normale Funktion unserer Zellen zu beeinträchtigen. In jüngerer Zeit wird der Einfluss von oxidativem Stress auf neurodegenerative (= neuronenschädigende) Erkrankungen diskutiert.
Aber was genau ist eigentlich oxidativer Stress? In unserem Körper entstehen ständig und in jeder Zelle bei fast allen Stoffwechselvorgängen (z.B. der Zellatmung) freie Radikale – das ist also erstmal völlig normal und nicht besorgniserregend. Im Gegenteil – entgegen dem früheren Irrglauben aus den 50er-Jahren weiß man inzwischen, dass freie Radikale auch wichtige Regulationsfunktionen in der Zelle übernehmen. Problematisch wird es allerdings dann für unseren Körper, wenn zu viele freie Radikale gebildet werden oder sie nicht mehr abgebaut werden können: Freie Radikale sind nämlich instabile, reaktionsfreudige Moleküle, denen ein Baustein, ein sogenanntes Elektron (= negativ geladenes Elementarteilchen), fehlt. Dass ihnen dieses Teilchen fehlt, passt den freien Radikalen nicht und so versuchen sie, diese Lücke mit „fremden“ Bausteinen, die nicht ihnen gehören, aufzufüllen. Man kann sich das in etwa so vorstellen, als dass die freien Radikale umherziehen und die Bausteine fremder Moleküle an sich reißen, ob die nun wollen oder nicht. So reagieren freie Radikale in Sekundenbruchteilen mit allem, womit sie in Berührung kommen und zwingen damit andere Moleküle, Bausteine an sie abzutreten. Problematisch ist nun, dass die „bestohlenen“ Moleküle durch den Raub Schaden erleiden können – denn nun fehlt ja ihnen ein Baustein. Diesen Vorgang – die vermehrte Bildung von freien Radikalen, die sich dann ungehindert an den Elektronen anderer Moleküle bedienen – nennt man „oxidativen Stress“. Die Folgen können beispielsweise Schäden an der DNA, an der Zellmembran und anderen Molekülen sein. Unser Organismus schafft es zwar, die freien Radikale in Schach zu halten, wenn seine Abwehrkräfte intakt sind und die Radikalbildung nicht übermäßig hoch ist, wenn wir aber beispielsweise einer erhöhten Umweltbelastung ausgesetzt sind, reicht die Radikalfängerfunktion unseres Körpers nicht mehr aus. Die aktuelle Studienlage zeigt auf, dass oxidativer Stress durch Rauchen, Alkohol- und Medikamentenkonsum, Umwelt- und Wohnraumgifte, UV-Strahlung sowie ungesunde körperliche Belastung (z.B. falsches Training) begünstigt wird.
Wenngleich sehr viele Studien oxidativen Stress und Krankheitsbilder wie Alzheimer oder Parkinson untersucht haben, ist der Zusammenhang zwischen oxidativem Stress und demenziellen Erkrankungen noch nicht abschließend geklärt. Oxidativer Stress an sich scheint keine Erkrankung zu verursachen, begünstigt aber das Entstehen diverser Krankheitsbilder und wird oft als Begleiterscheinung beobachtet. So kann in Gehirnen von Alzheimer-Patienten bereits im frühen Stadium ein hohes oxidatives Stresslevel nachgewiesen werden. Unter anderem hängt dies mit der Aβ-Plaquebildung (= alzheimertypische „Eiweißablagerungen“ im Gehirn) zusammen, denn diese erhöhen die Produktion von freien Radikalen, was wiederum zu einer erhöhten Produktion von Aβ führt – ein Teufelskreis.
Antioxidantien sind chemische Verbindungen, die eine Oxidation bei anderen Stoffen verlangsamen oder verhindern: Sie brechen den „Raubzug“ der freien Radikale ab, indem sie freiwillig ein Teilchen abgeben, dabei aber selbst keinen Schaden nehmen und nicht weiterreagieren. Antioxidantien wirken demnach als Radikalfänger, inaktivieren die freien Radikale und verhindern damit oxidativen Stress. Natürliche Antioxidantien sind insbesondere Vitamin C (Ascorbinsäure), Vitamin E (Tocopherol) und Betacarotin (Provitamin A). Vitamin C kommt in frischem Obst und Gemüse, Vitamin E in Pflanzenölen, Betacarotin in Obst, Gemüse und Eiern vor.
Die Frage, ob die Zufuhr von Antioxidantien unseren Körper vor Krankheiten durch freie Radikale schützt, ist noch nicht abschließend beantwortet worden. Weil viele Studien zu kontroversen Ergebnissen gekommen sind, und teilweise sogar eine negative Wirkung zusätzlicher Antioxidantien festgestellt wurde, wird eine Supplementation (= das Einnehmen von ergänzenden Nährstoffen zusätzlich zur gewöhnlichen Nahrung) generell nicht mehr empfohlen. Konkret bedeutet das, dass du keine antioxidativ wirkenden Substanzen (oft als Anti-Aging oder antioxidativ wirkende Vitaminpräparate auf dem Markt) kaufen musst, denn die antioxidativen Substanzen kommen natürlicherweise in unserer Nahrung vor. Vielmehr solltest du auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung mit täglichem Obst- und Gemüsekonsum achten (siehe Kapitel 1), denn eine unausgewogene und einseitige Ernährung begünstigt die Entstehung von oxidativem Stress.
Flavonide, die beispielsweise in Kräutertees, naturbelassenen Fruchtsäften, Kakao und Rotwein enthalten sind, können oxidiertes Vitamin C und E recyceln.
Industriell gefertigte und auf Haltbarkeit getrimmte Produkte können uns häufig keinen antioxidativen Schutz liefern.
Kettenrauchen führt zu einer regelrechten Explosion freier Radikale in unserem Körper. Nicht-Rauchen ist daher neben einer ausgewogenen Ernährung eine der wichtigsten Maßnahmen, um oxidativen Stress in unserem Körper zu vermindern.
Wusstest du, dass…
… der Körper aus etwa 70 Billionen Körperzellen besteht und jede einzelne davon mindestens 10.000-mal pro Tag von freien Radikalen angegriffen wird? Menschen mit erhöhter Umweltbelastung (Elektrosmog, Raucher, Alkoholkonsum etc.) sind einem achtfach erhöhtem Angriffsrisiko ausgesetzt.
Merk dir, dass…!
… die Zufuhr von zusätzlichen Vitaminen zur normalen Nahrung generell nicht empfohlen wird. Du kannst deinen Bedarf an Antioxidantien mit einer ausgewogenen und gesunden Ernährung abdecken.

7. Kapitel


Kognitive Reserve

Wer in Beruf und Freizeit geistig rege ist, hat ein geringeres Risiko, im Laufe seines Lebens an einer Demenz zu erkranken bzw. kann den Krankheitsausbruch hinausschieben. Geistige Aktivität regt den Stoffwechsel an und fördert die Bildung neuer Synapsen (= Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen). Wissenschaftler nennen den Aufbau zahlreicher synaptischer Verbindungen „kognitive Reserve“: Diese „Reserve“ sorgt dafür, dass man länger dem Alzheimer-Zellenabbau im Gehirn widersteht, ohne Symptome zu zeigen. In einer großangelegten Studie mit 600 Nonnen fand ein amerikanischer Professor heraus, dass einige der Glaubensschwestern post mortem (= in Untersuchungen nach dem Tod) zwar typische Alzheimer-Veränderungen im Gehirn hatten, kaum eine hatte vorher jedoch über Gedächtnis- oder Konzentrationsprobleme geklagt: Alle Nonnen waren als Lehrerinnen tätig gewesen, viele von ihnen bis zum Tod.
Zwar ist der Aufbau neuronaler Verbindungen ganz besonders stark in der Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenalter gilt für unsere Nervenzellen: Use it or lose it! (Benütze sie oder verliere sie!) Dabei muss es nicht Algebra sein – unsere grauen Zellen werden bei kulturellen Aktivitäten, im sozialen Austausch, durch kreative Hobbys und Knobeleien angeregt und gefordert. Denn Lernprozesse in jedem Alter führen zur Anpassung neuronaler Netze.
Bleibe sozial aktiv. Nimm dir Zeit für den Austausch mit anderen Menschen, für deine Hobbys, suche aktiv die Gesellschaft von Menschen, die dir gut tun. In Südtirol gibt es Organisationen, die regelmäßig gemeinsames Wandern, Turnen oder Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten (z.B.: KVW, Haus der Familie).
Bleibe geistig aktiv und verwende dein Gedächtnis: Nutze alle Sinneskanäle, höre aktiv zu, versuche aufmerksam zu bleiben, wiederhole Gedächtnisinhalte und assoziiere einzuprägende Dinge mit anderen (= baue Eselsbrücken).
Routinehandlungen bringen dem Gedächtnis nicht viel, die kennt es ja schon – ändere sie: Nimm beispielsweise gelegentlich einen anderen Weg nach Hause oder kauf in einem anderen Supermarkt ein. Erledige alltägliche Handlungen wie Frühstücken, Anziehen, Duschen und Zähneputzen in einer veränderten Reihenfolge.
Gesellschaftsspiele, Musizieren, Lesen, Malen, Spazierengehen oder ein Museumsbesuch bringt dem Gedächtnis mehr als TV schauen.
Als besonders effektiv gelten das Musizieren und das Tanzen, denn dabei werden die Konzentration und die körperliche Koordination gleichermaßen gefördert.
In Rente gehen sollte nicht eine „Zwangsstilllegung“ bedeuten: Auch nach dem aktiven Arbeitsleben solltest du versuchen, mit einer aktiven Freizeitgestaltung körperlich und geistig aktiv zu bleiben.
Vielleicht wolltest du schon immer an die Universität: Nach dem Motto „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans immer noch!“ bietet die Universität Bozen ein „Studium Generale“ an, das allen offensteht, egal welchen Alters und ob mit oder ohne Matura. Informationen gibt es unter der Telefonnummer 0471 /  012803.
Wusstest du, dass…
… man früher glaubte, dass die sogenannte Neurogenese (=Bildung von neuen Nervenzellen) nur während der Embryonalentwicklung (also noch vor der Geburt) stattfindet? Inzwischen weiß man aber, dass die Neurogenese in bestimmten Hirngebieten ein Leben lang möglich ist, das konnte auch bei über 70-jährigen Probanden nachgewiesen werden.
Merk dir, dass…!
… Lernprozesse in jeder Altersstufe unsere neuronalen Verbindungen fordern und fördern.