Schwerpunktthema
Scham – Entstehung und Auswirkung
in Familie und Schule
in Familie und Schule
Einleitung
Pädagogik ist traditionell durch Ausgrenzung, Entwürdigung und Beschämung geprägt, nicht zuletzt auch um Macht aufrechtzuerhalten. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts war es üblich, vor der versammelten Klasse für Verhaltensweisen, die den herrschenden Erwartungen und Normen widersprachen, bestraft zu werden.
Die Macht der Scham wurde als legitimes Erziehungsmittel genutzt, um zu bestimmten Verhaltensweisen zu veranlassen oder diese zu erzwingen. Dabei konnte auch die stellvertretende Scham, das Fremdschämen genutzt werden. Nämlich dann, wenn die oder der Beschämte ein naher Angehöriger, eine Bezugsperson oder ein/-e Klassenkamerad/-in war. Sei es, dass man sich mit der Person identifizierte oder sich für die Beziehung zu ihr schämte.
Die Vielfalt beschämender Methoden war grenzenlos: Kinder mussten sich in die Ecke stellen, manchmal dekoriert mit Eselsohren oder einer ‹idiotischen› Kasperlikappe. Schüchterne, gehemmte Kinder wurden gezwungen Antworten laut herauszuschreien, demütigende Sätze mehrmals zu wiederholen oder diese seitenweise zu schreiben. Sie erhielten ‹Tatzen› (Schläge mit Lineal, Massstäben oder Ruten auf die Hände), Linkshänder/-innen ‹lernten› die gute Hand zu gebrauchen, indem ihnen die linke Hand auf den Rücken oder an den Stuhl gebunden wurde. Lehrpersonen verteilten korrigierte Klassenarbeiten, kommentiert mit persönlichen Verurteilungen. Im Turnunterricht durften die stärksten Knaben die Zusammensetzung der Gruppen auswählen, eine Tortur für unsportlichere Knaben und die meisten Mädchen.
Diese Formen von Beschämung durch Autoritätspersonen wird in der heutigen Schule kaum mehr akzeptiert. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass unter Scham die höheren geistigen Fähigkeiten nicht zur Verfügung stehen und somit kein Lerneffekt erreicht werden kann. Beschämt wird nach wie vor, die Ausprägung hat sich aber verändert:
Das Messen von Leistungen in Wettbewerben und das Erstellen von Ranglisten und Zeugnissen sind für einen nicht zu unterschätzenden Anteil von Schülerinnen und Schülern beschämend. Chancenungleichheit demütigt die Betroffenen und beeinflusst das Selbstwertgefühl ungünstig.
Jede Kultur entwickelt eine Vorstellung, wie Menschen zueinander in Beziehung treten, wie sie die Welt um sich herum verstehen, welche Verhaltensweisen angebracht sind oder eben nicht. Sie wissen, welche gesellschaftlichen Normen notwendig sind, um das Zusammenleben zu regeln. Strikte Verbote, die rational nicht verständlich wären, lernt und verinnerlicht der Mensch in einer Entwicklungsperiode, in der das ER-Ich erst in Entwicklung ist. Wir lernen so, uns in unserem Kulturkreis unhinterfragt angemessen zu verhalten.
Scham lehrt uns kulturelle Normen und Wertvorstellungen, die für ein seiner Umgebung angepasstes Leben in Würde von Bedeutung sind. Fatal wird die ausgeprägte Scham, wenn lebenswichtige Beziehungen davon bestimmt werden.
Erik Erikson (Lehranalytiker von E. Berne) hat in Zusammenarbeit mit seiner Frau Joan Erikson ein Stufenmodell der Entwicklung erstellt. Damit haben sie die Phasenlehre von Sigmund Freud um die psychosoziale Dimension ergänzt. Eriksons Entwicklungstheorie beschreibt die psychosoziale Entwicklung des Menschen im Spannungsfeld zwischen eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen der sozialen Umwelt.
Jede der acht Stufen befasst sich mit Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit und ist in ihrer Folge unumkehrbar. Die vorangegangene Phase bildet somit das Fundament für die nächstfolgende. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsstufe liegt in der positiven Klärung des Konflikts und ist hilfreich für die Bewältigung der folgenden Stufen. Konflikte werden dabei nicht ‹vollständig› gelöst, sie bleiben ein Leben lang aktuell.
Es ist für die Entwicklung notwendig, dass eine Stufe ausreichend bearbeitet wird, damit die nächste erfolgreich bewältigt werden kann.
Dieses Modell ist die Grundlage der Ideen von E. Berne über den Lebensplan eines Menschen (Skript).
Im ersten Lebensjahr muss sich das Kind mit der Klärung des Konflikts Ur-Vertrauen versus Ur-Misstrauen auseinandersetzen.
Die meisten Menschen entwickeln beide Tendenzen, je nachdem stärker oder weniger stark ausgeprägt. Das bedeutet, wenn ein Kleinkind Zuwendung in adäquater Weise für sein Kind-Ich erhält, entwickelt es eine Grundtendenz in Richtung Vertrauen zu sich selbst und ande-ren – oder eben eine Grundtendenz zum Misstrauen.
In den folgenden zwei Jahren steht der Konflikt Autonomie versus Scham und Zweifel. Die Bedingung für Autonomie wurzelt in einem festen Vertrauen in die Bezugspersonen und sich selbst, also sollte die erste Stufe der Entwicklung entsprechend bewältigt sein. Das Kind möchte das Gefühl haben, seine Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen zu dürfen, ohne Gefahr, dafür in Frage gestellt oder bestraft zu werden. Es will die Welt entdecken und seine Un-Abhängigkeit austesten.
Die weitgehende oder gar andauernde Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung, der Neugierde, der Entdeckungsfreude des Kindes führt dazu, dass es seine Wünsche und Bedürfnisse als falsch und schmutzig wahrnimmt. Es zweifelt an deren Richtigkeit und schämt sich dafür, so zu sein, wie es ist.
Scham als Beziehungsstörung impliziert: ‹Mit mir ist etwas nicht in Ordnung, mit mir stimmt etwas nicht›. Die Zugehörigkeit ist nicht gewährleistet, die Überanpassung wird unterstützt. Das Kind verlernt seine eigenen Gefühle wahrzunehmen und ihnen zu trauen. Es unterdrückt die Trauer darüber, nicht akzeptiert zu werden wie es ist, verdrängt die Angst verlassen zu werden, weil es ist, wie es ist. Es vermeidet Wut und Ärger, um den Anschein einer engen Beziehung zu erhalten.
Das Kind gibt seine eigenen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse auf und treibt in die Anpassung, aktiviert seinen aK-Ich-Zustand, um Zuwendung zu erhalten.
Die Botschaft ‹mit dir stimmt etwas nicht› setzt sich im K-Ich fest und wird zum Glaubenssatz: ‹Mit mir stimmt etwas nicht›. Das ER1 im Kind-Ich-Zustand hat sich entschieden so zu sein, wie es von den Bezugspersonen, von denen es abhängig ist definiert wird. Aus Angst vor Verlust der Beziehung. Der ‹kleine Professor› sichert sich so die Zuneigung der Eltern.
Die Grundeinstellung mit Unterlegenheitsgefühlen ist –/+.
Hat das Kind die Entwicklungsaufgabe der 2. Stufe einseitig gelöst und seine Autonomiebestrebungen unterdrückt, wird die Bewältigung der anstehenden Entwicklungsschritte stark beeinträchtigt. Die Frage ‹wer bin ich?› kann schlecht gelöst werden, wenn das Selbstbild fremdbestimmt ist und die Angst vor Beziehungsverlust überlebenswichtig ist.
Ebenso werden die weiteren Entwicklungsschritte erschwert, das überangepasste Kind bemüht sich so zu sein, wie es denkt, sein zu müssen: ‹Sei liebenswürdig!›
Scham und Selbstgerechtigkeit spiegeln die Abwehrmechanismen, die eine Person benutzt, um zu vermeiden, dass sie spürt, mit welcher Intensität sie verletzlich und machtlos dem Verlust der Beziehung ausgesetzt ist.
Die Hilflosigkeit der Scham drückt die Hoffnung aus, dass die andere Person die Verantwortung für die Wiederherstellung der Beziehung übernimmt.
Selbstgerechtigkeit enthält die Verleugnung des Bedürfnisses nach Beziehung.
Um die Beziehung dennoch aufrechterhalten zu können, passt sich das beschämte Kind an die demütigende Fremdsicht an, im Sinne einer Abwehrstrategie, eines Selbstschutzes. Es kann die Beziehung aufrechterhalten, indem es die Wut und die Trauer über sein vermindertes Selbstbild durch Anpassung verleugnet. Es entsteht die Illusion, dass die eigenen Bedürfnisse erfüllt werden können ‹wenn ich gut genug bin›.
Der Hunger nach Zuwendung, nach Beziehung wird befriedigt mit negativen Strokes: erhaltene Zuwendung, sei sie noch so negativ, ist immer noch besser als überhaupt keine.
Selbstgerechtigkeit will den Schmerz über die Demütigung abwehren, die Sehnsucht nach Beziehung nicht wahrnehmen, die eigene Unwirksamkeit überdecken. Selbstgerechte Fantasien sind ein verzweifelter Versuch der Demütigung und der Scham durch Selbstrechtfertigung zu entkommen.
Die andere Person wird voller Fehler fantasiert, sei es die scheinbare Unzulänglichkeit, die unpassende Kleidung, die unangebrachten Verhaltensweisen, die aus der Luft gegriffene Kritik und anderes. In diesem Dialog mit dem eigenen inneren Kritiker wird die andere Person zunichte gemacht, um sich selbst als überlegen erfahren zu können. Ich vermute, dass in diesen Fantasien das eigene Selbstbild erkennbar wird, ein zwanghaftes Wiederholen von Antreibern, ein sich Anpassen an Einschärfungen. Häufig werden auch alte, demütigende Erinnerungen wieder belebt, dass mit mir etwas nicht stimmt, und auch meine Überzeugung, dass ich keine Möglichkeit habe das zu ändern.
Diese selbstgerechten Fantasien löschen das Verlangen nach Beziehung aus und zeigen gleichzeitig das Bedürfnis, respektiert zu werden, wirksam zu sein und die eigene Ohnmacht zu kontrollieren. Äusserlich wird jedoch das Bedürfnis nach Anerkennung durch Anpassung gelebt.
Solche Überlegenheitsfantasien ändern die Grundeinstellung zu +/–.
Das beschämende Gefühl der Verlassenheit, das mit dem Zornesausbruch bekämpft werden wollte, ist von neuem bestätigt, und die vertraute Grundeinstellung –/+ kann wieder eingenommen werden.
Dieser Mechanismus hilft den Bezugsrahmen, der gerade bedroht wird, aufrechtzuerhalten. Der Ursprung des Redefinierens liegt in der ungelösten symbiotischen Beziehung der Kindheit. Der Kampf um deren Erfüllung wird weitergeführt.
Redefinitions-Transaktionen (tangentiale und blockierende Transaktionen) helfen das Skript zu fördern und voranzutreiben. Erskin benutzt den Begriff ‹demütigende Transaktionen›, nämlich Transaktionen, die die Person herabsetzen, kritisieren, interpretieren oder ignorieren.
Ist das Gefühl von Scham einmal fixiert, wird das Abwehrsystem durch das kritische, negative EL-Ich und das angepasste K-Ich sofort in seinem Überlebenskampf angesprochen und mit Energie besetzt.
Bezugspersonen, die eine Beziehungsstörung erfahren und verinnerlicht haben, wiederholen diese in ihrer Tätigkeit als Erzieher, solange sie nicht aufgearbeitet wurde. Das Rad dreht sich weiter und weiter.
Der Lehrer als Respektsperson und Autorität im Dorf hat seine Machtstellung glücklicherweise im Laufe der gesellschaftlichen Weiterentwicklung verloren. Das hat Frauen zunehmend die Möglichkeit eröffnet, nicht nur Kleinkinder und Unterstufenkinder zu unterrichten, sondern auch kompetent auf allen Stufen ihren Beruf auszuüben. In der Volksschule wird heute vorwiegend von Frauen unterrichtet. Gleichzeitig ist der Respekt gegenüber der Schule teilweise verloren gegangen. Dadurch wird Beschämung auf allen Ebenen praktiziert:
Berichterstattungen in den Medien, missachtende Aussagen von politischen Behörden, gegenseitig entwürdigende Gespräche zwischen Eltern und Lehrpersonen, Konkurrenz im Schulteam können von gegenseitiger Entwürdigung geprägt sein. Beschämung entsolidarisiert – das gefährdet die konstruktive Zusammenarbeit zu Gunsten unserer Kinder.
Scham ist ein Versuch, einen Beziehungsabbruch abzuwehren, und muss die Grundgefühle unterdrücken. Sie fixiert sich im K-Ich und im EL-Ich und kann zu einem schwach besetzten ER-Ich führen.
Als Lehrer/-innen begegnen wir immer wieder Kindern mit mehr oder weniger heftigen Schamgefühlen.
Der Weg, diese Beziehungsstörung abzubauen, aus dem Skript auszusteigen, den Bezugsrahmen zu erweitern ist anspruchsvoll.
Lernen hat mit Trauen, Anvertrauen, Vertrauen zu tun. Uns als Professionelle verpflichtet das! Die Qualität unserer Beziehung zum Kind, sein Vertrauen würdigen – das ist der Schlüssel zum Lernen.
Seien wir aufmerksam gegenüber Kindern, die eigentlich lernen könnten, wenn man sie liesse. Sie wollen, helfen wir ihnen zu können. Schaffen wir Beziehung durch behutsames Nachfragen.
Die Qualität einer Beziehung liess sich für Eric Berne an der Haltung ablesen, in der Menschen einander begegnen.
Die Formel dafür ist: ‹Ich bin OK – du bist OK.›
Die Macht der Scham wurde als legitimes Erziehungsmittel genutzt, um zu bestimmten Verhaltensweisen zu veranlassen oder diese zu erzwingen. Dabei konnte auch die stellvertretende Scham, das Fremdschämen genutzt werden. Nämlich dann, wenn die oder der Beschämte ein naher Angehöriger, eine Bezugsperson oder ein/-e Klassenkamerad/-in war. Sei es, dass man sich mit der Person identifizierte oder sich für die Beziehung zu ihr schämte.
Die Vielfalt beschämender Methoden war grenzenlos: Kinder mussten sich in die Ecke stellen, manchmal dekoriert mit Eselsohren oder einer ‹idiotischen› Kasperlikappe. Schüchterne, gehemmte Kinder wurden gezwungen Antworten laut herauszuschreien, demütigende Sätze mehrmals zu wiederholen oder diese seitenweise zu schreiben. Sie erhielten ‹Tatzen› (Schläge mit Lineal, Massstäben oder Ruten auf die Hände), Linkshänder/-innen ‹lernten› die gute Hand zu gebrauchen, indem ihnen die linke Hand auf den Rücken oder an den Stuhl gebunden wurde. Lehrpersonen verteilten korrigierte Klassenarbeiten, kommentiert mit persönlichen Verurteilungen. Im Turnunterricht durften die stärksten Knaben die Zusammensetzung der Gruppen auswählen, eine Tortur für unsportlichere Knaben und die meisten Mädchen.
Diese Formen von Beschämung durch Autoritätspersonen wird in der heutigen Schule kaum mehr akzeptiert. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass unter Scham die höheren geistigen Fähigkeiten nicht zur Verfügung stehen und somit kein Lerneffekt erreicht werden kann. Beschämt wird nach wie vor, die Ausprägung hat sich aber verändert:
Das Messen von Leistungen in Wettbewerben und das Erstellen von Ranglisten und Zeugnissen sind für einen nicht zu unterschätzenden Anteil von Schülerinnen und Schülern beschämend. Chancenungleichheit demütigt die Betroffenen und beeinflusst das Selbstwertgefühl ungünstig.
Funktion von Scham
Scham ist ein Aspekt, der das menschliche Zusammenleben reguliert. Durch sozialen Anpassungsdruck verhindert sie, dass Menschen aus der Gemeinschaft herausfallen, schamlos werden. Die Normen werden gewahrt, die Zugehörigkeit ist gewährleistet, ‹ich bin wie die anderen›. Das garantiert einen respektvollen Umgang miteinander.Jede Kultur entwickelt eine Vorstellung, wie Menschen zueinander in Beziehung treten, wie sie die Welt um sich herum verstehen, welche Verhaltensweisen angebracht sind oder eben nicht. Sie wissen, welche gesellschaftlichen Normen notwendig sind, um das Zusammenleben zu regeln. Strikte Verbote, die rational nicht verständlich wären, lernt und verinnerlicht der Mensch in einer Entwicklungsperiode, in der das ER-Ich erst in Entwicklung ist. Wir lernen so, uns in unserem Kulturkreis unhinterfragt angemessen zu verhalten.
Scham lehrt uns kulturelle Normen und Wertvorstellungen, die für ein seiner Umgebung angepasstes Leben in Würde von Bedeutung sind. Fatal wird die ausgeprägte Scham, wenn lebenswichtige Beziehungen davon bestimmt werden.
Entwicklung von Scham
Scham hat also die Funktion, das Kind im Guten wie im Bösen an die Lebensweise der Familie anzupassen.Erik Erikson (Lehranalytiker von E. Berne) hat in Zusammenarbeit mit seiner Frau Joan Erikson ein Stufenmodell der Entwicklung erstellt. Damit haben sie die Phasenlehre von Sigmund Freud um die psychosoziale Dimension ergänzt. Eriksons Entwicklungstheorie beschreibt die psychosoziale Entwicklung des Menschen im Spannungsfeld zwischen eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen der sozialen Umwelt.
Jede der acht Stufen befasst sich mit Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit und ist in ihrer Folge unumkehrbar. Die vorangegangene Phase bildet somit das Fundament für die nächstfolgende. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsstufe liegt in der positiven Klärung des Konflikts und ist hilfreich für die Bewältigung der folgenden Stufen. Konflikte werden dabei nicht ‹vollständig› gelöst, sie bleiben ein Leben lang aktuell.
Es ist für die Entwicklung notwendig, dass eine Stufe ausreichend bearbeitet wird, damit die nächste erfolgreich bewältigt werden kann.
Dieses Modell ist die Grundlage der Ideen von E. Berne über den Lebensplan eines Menschen (Skript).
Im ersten Lebensjahr muss sich das Kind mit der Klärung des Konflikts Ur-Vertrauen versus Ur-Misstrauen auseinandersetzen.
Die meisten Menschen entwickeln beide Tendenzen, je nachdem stärker oder weniger stark ausgeprägt. Das bedeutet, wenn ein Kleinkind Zuwendung in adäquater Weise für sein Kind-Ich erhält, entwickelt es eine Grundtendenz in Richtung Vertrauen zu sich selbst und ande-ren – oder eben eine Grundtendenz zum Misstrauen.
In den folgenden zwei Jahren steht der Konflikt Autonomie versus Scham und Zweifel. Die Bedingung für Autonomie wurzelt in einem festen Vertrauen in die Bezugspersonen und sich selbst, also sollte die erste Stufe der Entwicklung entsprechend bewältigt sein. Das Kind möchte das Gefühl haben, seine Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen zu dürfen, ohne Gefahr, dafür in Frage gestellt oder bestraft zu werden. Es will die Welt entdecken und seine Un-Abhängigkeit austesten.
Probleme in der 2. Entwicklungsstufe: Scham als Beziehungsstörung
Übermässige Scham entsteht, wenn das Kind gedemütigt, ausgelacht oder verspottet wird. Es erlebt Misserfolge beim Versuch, die Umwelt durch Gefühlssignale wie lächeln oder weinen zu einem passenden Verhalten zu bewegen. Es kann den Kontakt zur Bezugsperson nicht herstellen trotz seines mächtigen Verlangens nach Verbundenheit. Es hat das Gefühl, einer Beziehung nicht wert zu sein. Es möchte ernst genommen werden und auf die Bezugspersonen eine Wirkung haben. Gelingt ihm das nicht, verliert es sein Selbstvertrauen, seine Autonomie.Die weitgehende oder gar andauernde Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung, der Neugierde, der Entdeckungsfreude des Kindes führt dazu, dass es seine Wünsche und Bedürfnisse als falsch und schmutzig wahrnimmt. Es zweifelt an deren Richtigkeit und schämt sich dafür, so zu sein, wie es ist.
Scham als Beziehungsstörung impliziert: ‹Mit mir ist etwas nicht in Ordnung, mit mir stimmt etwas nicht›. Die Zugehörigkeit ist nicht gewährleistet, die Überanpassung wird unterstützt. Das Kind verlernt seine eigenen Gefühle wahrzunehmen und ihnen zu trauen. Es unterdrückt die Trauer darüber, nicht akzeptiert zu werden wie es ist, verdrängt die Angst verlassen zu werden, weil es ist, wie es ist. Es vermeidet Wut und Ärger, um den Anschein einer engen Beziehung zu erhalten.
Das Kind gibt seine eigenen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse auf und treibt in die Anpassung, aktiviert seinen aK-Ich-Zustand, um Zuwendung zu erhalten.
Die Botschaft ‹mit dir stimmt etwas nicht› setzt sich im K-Ich fest und wird zum Glaubenssatz: ‹Mit mir stimmt etwas nicht›. Das ER1 im Kind-Ich-Zustand hat sich entschieden so zu sein, wie es von den Bezugspersonen, von denen es abhängig ist definiert wird. Aus Angst vor Verlust der Beziehung. Der ‹kleine Professor› sichert sich so die Zuneigung der Eltern.
Die Grundeinstellung mit Unterlegenheitsgefühlen ist –/+.
Hat das Kind die Entwicklungsaufgabe der 2. Stufe einseitig gelöst und seine Autonomiebestrebungen unterdrückt, wird die Bewältigung der anstehenden Entwicklungsschritte stark beeinträchtigt. Die Frage ‹wer bin ich?› kann schlecht gelöst werden, wenn das Selbstbild fremdbestimmt ist und die Angst vor Beziehungsverlust überlebenswichtig ist.
Ebenso werden die weiteren Entwicklungsschritte erschwert, das überangepasste Kind bemüht sich so zu sein, wie es denkt, sein zu müssen: ‹Sei liebenswürdig!›
Scham und Selbstgerechtigkeit
Transaktionsanalytische Sichtweise nach Richard G. ErskineScham und Selbstgerechtigkeit spiegeln die Abwehrmechanismen, die eine Person benutzt, um zu vermeiden, dass sie spürt, mit welcher Intensität sie verletzlich und machtlos dem Verlust der Beziehung ausgesetzt ist.
Die Hilflosigkeit der Scham drückt die Hoffnung aus, dass die andere Person die Verantwortung für die Wiederherstellung der Beziehung übernimmt.
Selbstgerechtigkeit enthält die Verleugnung des Bedürfnisses nach Beziehung.
Um die Beziehung dennoch aufrechterhalten zu können, passt sich das beschämte Kind an die demütigende Fremdsicht an, im Sinne einer Abwehrstrategie, eines Selbstschutzes. Es kann die Beziehung aufrechterhalten, indem es die Wut und die Trauer über sein vermindertes Selbstbild durch Anpassung verleugnet. Es entsteht die Illusion, dass die eigenen Bedürfnisse erfüllt werden können ‹wenn ich gut genug bin›.
Der Hunger nach Zuwendung, nach Beziehung wird befriedigt mit negativen Strokes: erhaltene Zuwendung, sei sie noch so negativ, ist immer noch besser als überhaupt keine.
Selbstgerechtigkeit will den Schmerz über die Demütigung abwehren, die Sehnsucht nach Beziehung nicht wahrnehmen, die eigene Unwirksamkeit überdecken. Selbstgerechte Fantasien sind ein verzweifelter Versuch der Demütigung und der Scham durch Selbstrechtfertigung zu entkommen.
Die andere Person wird voller Fehler fantasiert, sei es die scheinbare Unzulänglichkeit, die unpassende Kleidung, die unangebrachten Verhaltensweisen, die aus der Luft gegriffene Kritik und anderes. In diesem Dialog mit dem eigenen inneren Kritiker wird die andere Person zunichte gemacht, um sich selbst als überlegen erfahren zu können. Ich vermute, dass in diesen Fantasien das eigene Selbstbild erkennbar wird, ein zwanghaftes Wiederholen von Antreibern, ein sich Anpassen an Einschärfungen. Häufig werden auch alte, demütigende Erinnerungen wieder belebt, dass mit mir etwas nicht stimmt, und auch meine Überzeugung, dass ich keine Möglichkeit habe das zu ändern.
Diese selbstgerechten Fantasien löschen das Verlangen nach Beziehung aus und zeigen gleichzeitig das Bedürfnis, respektiert zu werden, wirksam zu sein und die eigene Ohnmacht zu kontrollieren. Äusserlich wird jedoch das Bedürfnis nach Anerkennung durch Anpassung gelebt.
Solche Überlegenheitsfantasien ändern die Grundeinstellung zu +/–.
Das beschämende Gefühl der Verlassenheit, das mit dem Zornesausbruch bekämpft werden wollte, ist von neuem bestätigt, und die vertraute Grundeinstellung –/+ kann wieder eingenommen werden.
Dieser Mechanismus hilft den Bezugsrahmen, der gerade bedroht wird, aufrechtzuerhalten. Der Ursprung des Redefinierens liegt in der ungelösten symbiotischen Beziehung der Kindheit. Der Kampf um deren Erfüllung wird weitergeführt.
Redefinitions-Transaktionen (tangentiale und blockierende Transaktionen) helfen das Skript zu fördern und voranzutreiben. Erskin benutzt den Begriff ‹demütigende Transaktionen›, nämlich Transaktionen, die die Person herabsetzen, kritisieren, interpretieren oder ignorieren.
Ist das Gefühl von Scham einmal fixiert, wird das Abwehrsystem durch das kritische, negative EL-Ich und das angepasste K-Ich sofort in seinem Überlebenskampf angesprochen und mit Energie besetzt.
Warum werden in Schule und Elternhaus Kinder beschämt?
Es ist anzunehmen, dass heute die allermeisten Eltern Beschämung nicht mehr als Erziehungsmethode anstreben, und doch werden viele Kinder durch Bezugspersonen beschämt bis zur Beziehungsstörung. Es ist nicht allen Eltern bewusst, dass Beschämung keinen positiven Lerneffekt hat, im Gegenteil sogar Lernen verhindern kann. Schamgefühle können auch eine ‹Familien-Krankheit› sein, die wie eine heisse Kartoffel weitergereicht wird.Bezugspersonen, die eine Beziehungsstörung erfahren und verinnerlicht haben, wiederholen diese in ihrer Tätigkeit als Erzieher, solange sie nicht aufgearbeitet wurde. Das Rad dreht sich weiter und weiter.
Der Lehrer als Respektsperson und Autorität im Dorf hat seine Machtstellung glücklicherweise im Laufe der gesellschaftlichen Weiterentwicklung verloren. Das hat Frauen zunehmend die Möglichkeit eröffnet, nicht nur Kleinkinder und Unterstufenkinder zu unterrichten, sondern auch kompetent auf allen Stufen ihren Beruf auszuüben. In der Volksschule wird heute vorwiegend von Frauen unterrichtet. Gleichzeitig ist der Respekt gegenüber der Schule teilweise verloren gegangen. Dadurch wird Beschämung auf allen Ebenen praktiziert:
Berichterstattungen in den Medien, missachtende Aussagen von politischen Behörden, gegenseitig entwürdigende Gespräche zwischen Eltern und Lehrpersonen, Konkurrenz im Schulteam können von gegenseitiger Entwürdigung geprägt sein. Beschämung entsolidarisiert – das gefährdet die konstruktive Zusammenarbeit zu Gunsten unserer Kinder.
Was bedeutet diese Betrachtungsweise für die Schule?
Scham als Beziehungsstörung manifestiert sich körperlich, durch heftiges Erröten, Erstarren und Herzklopfen. Das verdrängte Gefühl von Scham kann auch Mitauslöser von Depressionen, Angst, Migräne, Sucht, Essstörungen und Zwängen sein.Scham ist ein Versuch, einen Beziehungsabbruch abzuwehren, und muss die Grundgefühle unterdrücken. Sie fixiert sich im K-Ich und im EL-Ich und kann zu einem schwach besetzten ER-Ich führen.
Als Lehrer/-innen begegnen wir immer wieder Kindern mit mehr oder weniger heftigen Schamgefühlen.
Der Weg, diese Beziehungsstörung abzubauen, aus dem Skript auszusteigen, den Bezugsrahmen zu erweitern ist anspruchsvoll.
Lernen hat mit Trauen, Anvertrauen, Vertrauen zu tun. Uns als Professionelle verpflichtet das! Die Qualität unserer Beziehung zum Kind, sein Vertrauen würdigen – das ist der Schlüssel zum Lernen.
Seien wir aufmerksam gegenüber Kindern, die eigentlich lernen könnten, wenn man sie liesse. Sie wollen, helfen wir ihnen zu können. Schaffen wir Beziehung durch behutsames Nachfragen.
Die Qualität einer Beziehung liess sich für Eric Berne an der Haltung ablesen, in der Menschen einander begegnen.
Die Formel dafür ist: ‹Ich bin OK – du bist OK.›
Literaturliste:
Richard G. Erskine: Scham und Selbstgerechtigkeit: Transaktionsanalytische Sichtweisen und klinische Interventionen
Fanita English: Transaktionsanalyse, Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen
Erik H. Erikson: Childhood and Society
Norbert Nagel: Beziehung als Schlüssel zum Lernen
Kouwenhoven, Klitz, Elbing: Schwere Persönlichkeitsstörungen
Stephan Marks: Scham