Schwerpunktthemen

Auf der Spur der frühen Skript-entscheidungen

Professionelle und kindliche Intuition in der Positiven Transaktionsanalyse
Dr. Klaus Sejkora
Arbeitet in freier Praxis in Linz (Österreich) als Klinischer Psychologe, Psychotherapeut (Transaktionsanalytische Psychotherapie), Trainer, Coach, Supervisor
Lehrender Transaktionsanalytiker (CTA-Trainer & Supervisor – P)

Co-Leiter des Donau Instituts Campus für Transaktionsanalyse (DICTA) gemeinsam mit Henning Schulze. Zahlreiche Vorträge und Publikationen zur Positiven Transaktionsanalyse
praxis@klaus-sejkora.at
www.klaus-sejkora.at
www.dic-ta.eu
Intuition war das erste zentrale Thema, mit dem Eric Berne sich in seiner klinischen Praxis und seinen Veröffentlichungen beschäftigte (Berne 1949, 1962). Sie ist der Ausgangspunkt vor allem seiner frühen Konzepte zur Transaktionsanalyse (Berne 1958). Er sieht in ihr das Instrument klinischer Beobachtung und Diagnostik schlechthin und bezeichnet sie als «Wissen, das auf Erfahrung beruht und mittels präverbaler, unbewusster oder vorbewusster Funktionen, durch unmittelbaren Kontakt mit dem Wahrgenommenen erworben wird» (Berne 1949, S.36). Sie – die Intuition ist für ihn ausschließlich ein Instrument für «den Kliniker, der, wenn es ihm wünschenswert erscheint, seine intuitiven Fähigkeiten überlegt nutzt» (Berne 1962, S. 191).
Ich beschäftige mich seit mehr als 25 Jahren mit dem Thema Intuition im Rahmen der Landkarten der Transaktionsanalyse und fasse es deutlich weiter, als Berne das vorgeschlagen hat. Dabei habe ich dieses Konzept über den ursprünglichen Kontext der therapeutischen «Eingebung» hinaus auf andere Aspekte hin ausgeweitet, z.B. auf die Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung (Sejkora 1991), auf die Arbeit mit Träumen (Sejkora 1995), die Beschreibung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (Sejkora 2011a) als Bestandteil der Resilienz (Schulze/Sejkora 2015, Sejkora/Schulze 2016, und schließlich auf die Skriptdynamik bei Paaren (Sejkora 2016).
Im vorliegenden Artikel verknüpfe ich die zwei meiner Ansicht nach zentralen Aspekte der Intuition: Ihre Bedeutung in der Bildung und Entwicklung des Skripts einerseits und andererseits den Zugang, den sie in Therapie und Beratung zum Skript des Patienten und der Klientin ermöglicht. Das werde ich an einem Fallbeispiel darstellen.
Kindliche Intuition als Schlüssel zur Skriptbildung
Entgegen weitverbreiteten Auffassungen in der TA über die generelle Destruktivität des Skripts sind wir in der Positiven Transaktionsanalyse der Ansicht, dass die Entwicklung des unbewussten Lebensplans eine positive und lebensstrukturierende Funktion darstellt (vgl. English 1980). «Durch die Entwicklung unseres Skripts schaffen wir Lösungen für subjektiv unlösbare Konflikte zwischen äußeren Anforderungen und inneren (Grund-)Bedürfnissen. In diesen Lösungen liegt hohes individuelles, kreatives und konstruktives Potenzial.» (Schulze/Sejkora 2016, S. 8/9).
Die Instanz dafür liegt im persönlichkeitsstrukturellen «kindlichen Erwachsenen-Ichzustand», dem ER1, das auch als «Kleiner Professor» bezeichnet wird. Cornell et.al. (2016) beschreiben das ER1 als «the Little Professor (...), which harbours strategies which the child possesses for solving problems: intuition and pre-logical thinking.» (S.13). Intuitiv erarbeitet sich der kleine Mensch so eine Art von früher Resilienz (Schulze/Sejkora 2018).
Die Intuition des Therapeuten/der Therapeutin als Zugang zur kindlichen Intuition der Klientin/des Klienten
Der «klassische» Zugang Eric Bernes von seiner Intuition hin zum Skript des Klienten/der Klientin richtet sich an den entwickelten Erwachsenen-Ichzustand, also an das ER2. Da das Skript jedoch in der kindlichen Intuition des ER1 wurzelt, ist es sinnvoll, diese strukturelle Instanz zu erreichen und zu berühren, um deren konstruktive und kreative Anteile zu fördern und im Hier und Jetzt nutzbar zu machen. Dafür habe ich die Landkarte der «Narrativen Imagination» entwickelt (Sejkora 2010, 2011). «Ich lasse mir von (...) meiner Intuition Geschichten über den Menschen erzählen, mit dem ich spreche, über den Menschen und über seine Geschichte. Diese Geschichten erzähle ich dann weiter – die Patientin oder der Patient nehmen den Faden auf und erzählen mit» (Sejkora 2010, S.9).
«Das wesentliche Medium meiner Arbeit mit dem Unbewussten und der Intuition (...) ist die narrative Imagination, oder, verständlicher formuliert: Ich erfinde und erzähle Geschichten. Noch genauer: Ich erfinde sie nicht, ich lasse sie mir von meiner Intuition erzählen. Sie tauchen in mir in bestimmten situationalen Kontexten des therapeutischen oder beratenden Geschehens auf und sind nichts anderes als (...) Reaktionen meines Unbewussten auf das Unbewusste des Klienten/der Klientin» (Sejkora 2011, S.43/44).
Intuition, natürlich auch die des Therapeuten/der Therapeutin, beruht auf der frühen Skriptbildung im ER1. Durch die Analyse des Skripts, durch die Überwindung der destruktiven Elemente des Lebensplans und das Nutzen seiner konstruktiven Anteile, können wir erwachsene Intuition im ER2 als Ausdruck unserer Autonomie entwickeln und so Bewusstheit, Spontaneität und Intimität entfalten. Ausführlich haben wir – Henning Schulze und ich – diese Landkarte in unserem Buch «Vom Lebensplan zum Beziehungsraum» entwickelt und (Sejkora/Schulze 2017) beschrieben. Intuition ist dann immer noch ein primär unbewusster Vorgang, der aber bewusst eingesetzt und nutzbar gemacht werden kann. Meine Intuition ist dann der Zugang zum intuitiven Skript eines anderen Menschen.
Fallbeispiel
Frau A., Ende Vierzig, kommt zur Therapie, weil sie Probleme in ihrer Ehe hat. Sie erlebt sich als «abgeschnitten» von ihrem Mann, sie finde keinen emotionalen Zugang mehr zu ihm. In der Therapie spiegelt sich dieses Thema in einem parallelen Prozess wieder: Ich finde anscheinend keinen emotionalen Zugang zu Frau A. (und sie auch nicht zu mir). Auf meine Fragen und Interventionen bezüglich ihrer Gefühle reagiert sie regelmäßig kognitiv, meist mit tangentialen Transaktionen:

Th: Was fühlen Sie, wenn Sie Ihren Mann nicht erreichen können?
A: Dass ich mich einfach mehr anstrengen muss.
Schließlich meint sie:
A: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie denken, meine Gefühle wären der Schlüssel zu meiner Beziehung zu meinem Mann? Wie kann ich denn meine Gefühle fühlen?
An dieser Stelle achte ich auf meinen inneren Prozess, meine Gefühle, Gedanken und meine Intuition.Was geht in mir vor? Mein erster Einfall: Gar nichts. Ich versuche, logisch zu denken und eine einfache logische Antwort auf ihre Frage zu finden.
Wirklich gar nichts? Ich erlebe mich abgeblockt. Ich soll selbst denken, nicht fühlen. Ein Bild taucht auf: Ein Kind, ein kleines Mädchen von vielleicht sechs, sieben Jahren, schaut mich mit hoffnungslosen Augen an. Sie erwartet keine Antwort.
Ich werde ärgerlich. Was sollen diese kognitiven Fragen?
Das ist mein Ärger, weil ich mich abgeblockt erlebe. Er hat nichts mit ihr zu tun, ich mag es nicht, dass ich meine Intuition gebremst erlebe, ich bin mit mir beschäftigt statt mit Frau A.
Jetzt fühle ich etwas anderes: schade. Schade, dass ich sie nicht erreichen kann. Jetzt taucht dieses Kind wieder in meinem inneren Bild auf: Es sitzt allein auf dem Boden in einem riesengroßen leeren Raum. Dreht sich weg. Erlaubt sich nicht, etwas zu fühlen. Hat keine Hoffnung. Schade, dass ich dieses Kind nicht erreichen kann. Schade, dass dieses Kind mich nicht erreichen kann. Nicht kann? Oder nicht will? Will ich es überhaupt erreichen? Ich fühle mich ängstlich.
Soll ich ihr dieses Bild erzählen? Wieder bremse ich mich selbst. Wird sie darauf einsteigen? Oder wieder abblocken?
Jetzt tauche ich selbst in meinem inneren Bild auf: ich betrete das Zimmer. Mir wird kalt. Es ist einsam hier. Da sieht mich das Mädchen an und sagt: warum hast du die anderen Kinder nicht mitgebracht? Du bist doch auch wieder ein Erwachsener, und die verstehen mich sowieso nicht. Nur Kinder verstehen mich.
Jetzt weiß ich, welche Geschichte ich ihr erzähle.
Th: Frau A., mir ist gerade eine Geschichte eingefallen, einfach so. Möchten Sie sie hören?
A (erstaunt): Eine Geschichte? Ja, gerne!
Th: Die Geschichte spielt in einem großen, großen Zimmer. Es ist ganz leer, und vor den Fenstern sind weiße Vorhänge. Auf dem Parkettboden sitzt in der Mitte ein kleines Mädchen, sie ist vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Sie sitzt so, dass wir ihr Gesicht sehen können, und sie hat große Augen. Sie sieht uns lange an, und in ihren Augen ist keine Hoffnung.
A (hat Tränen in den Augen)
Th: Da kommt noch jemand bei der Türe herein. Es ist ein kleiner Junge, ungefähr im selben Alter. Er sieht das Mädchen, zögert, und geht dann noch zwei, drei Schritte auf sie zu. Dann bleibt er stehen. Er möchte ihr gerne etwas sagen, aber er weiß nicht, was. Doch da sieht sie an, und sie sagt: «Warum hast du die anderen Kinder nicht mitgebracht?»
A: Die anderen Kinder!
Th: Die anderen Kinder. Doch er weiß nicht, was sie damit meint. Vielleicht wissen Sie es und können die Geschichte weitererzählen?
A: Natürlich kann ich das. Es gibt eine Vorgeschichte dazu: es ist noch nicht lange her, da war das Mädchen sehr krank und musste ins Krankenhaus. Wenn seine Mutter zu Besuch kam, durfte sie ihr Kind nur durch eine Glasscheibe sehen. Aber das machte dem Mädchen nichts aus, denn im Krankenzimmer waren noch fünf andere Kinder, mit denen es den ganzen Tag spielen und plaudern konnte. Endlich war es nicht mehr alleine. Es spürte keine Kopfschmerzen mehr, und auch seine Eltern fehlten ihm nicht. Sie hatten sich ohnehin nie wirklich um sie gekümmert. Alle im Krankenhaus waren erstaunt, dass das Mädchen so schnell wieder gesund wurde, denn eigentlich war sie in großer Lebensgefahr gewesen. Doch dann... (verstummt)
Th: ...doch dann musste sie wieder nach Hause, und alles war wieder wie vorher.
A (nickt und beginnt zu weinen)
Th: Sie war wieder genauso allein, nein, eigentlich war es schlimmer als vorher, weil sie jetzt so große Sehnsucht nach den anderen Kindern hatte. Die Wohnung war noch leerer als zuvor.
A: Obwohl das Kinderzimmer doch voller Spielsachen war. Aber es gab keine anderen Kinder mehr, mit denen sie spielen und reden konnte.
Th: Doch eines Tages...
A: ... kam der Junge aus dem Krankenhaus wieder, der ihr liebster Freund gewesen war. Sie wünschte ihn sich so sehnlich herbei, dass er wirklich wieder auftauchte. Das war zwar nur eine Geschichte in ihrem Kopf, aber es fühlte sich so wirklich an, als ob er tatsächlich dagewesen wäre. Jeden Abend vor dem Einschlafen erzählte sie sich nun eine solche Geschichte, und mit der Zeit tauchten auch die anderen Kinder darin auf.
Th: Das half ihr, die einsamen Tage zu überstehen.
A: Und erst recht die einsamen Abende, wenn niemand sie ins Bett brachte und niemand ihr eine Geschichte erzählte.
Th: Sie erzählte sich all diese Geschichten selbst. Bis sie groß war.
A: O nein, ich habe nie damit aufgehört. Auch heute noch, wenn mein Mann schon längst schläft, erzähle ich mir Geschichten. Meistens Geschichten über mich und ihn, als es noch schön war. Und wie es wieder schön werden wird.
Th: Und am nächsten Morgen?
A: Ist alles wieder so wie vorher. Aber das macht nichts: am Abend erzähle ich mir wieder meine Geschichte.
Th: Und können Sie Ihren Mann mit diesen Geschichten erreichen?
A: Nein. Aber ich muss mich dann nicht mehr schlecht fühlen. Ich kann mich auf das konzentrieren, was wir beide in unserer Firma zu tun haben.
Th: Sie können denken und müssen nicht fühlen.
A: Genau.
Th: Und wenn Sie fühlen würden?
A: Dann würde es mir schlecht gehen.
Th: So schlecht wie damals als kleines Mädchen allein in dem leeren Zimmer? So einsam und so traurig?
A: Das befürchte ich wahrscheinlich. Ich wollte ja damals nie, nie mehr weinen.

Hier beenden wir die Falldarstellung. Wir – Frau A. und ich – sind durch die Verknüpfung meiner therapeutischen und ihrer kindlichen Intuition in erzählender (narrativer) Art und Weise zu ihren Skriptentscheidungen und auch zu dem authentischen Gefühl der Traurigkeit gelangt, das sie damals unterdrücken musste. An dieser Stelle könnten wir mit vielen verschiedenen Landkarten der TA weiterarbeiten, z.B. die der Einschärfungen («Fühle nicht!», «Sei nicht nahe!») (Goulding & Goulding 1978) und der Neuentscheidung (Goulding & Goulding 1978) oder die der Antreiber («Sei stark!», «Mach’s mir recht!») (Kahler 1975). Ebenso könnten wir das Ersatzgefühl über den authentischen Gefühlen explorieren (English 1981) oder auch mit dem Racket-System (Erskine & Zalcman 1979) weiterarbeiten. Das alles kann jetzt auf der Grundlage der gemeinsam erfundenen Geschichte geschehen, zu der wir immer wieder zurückkehren und sie ausbauen können. So würdigen wir die kreative Leistung des kleinen Mädchens, das sich ein damals lebenswichtiges Skript konstruiert hat. So kann Frau A. die konstruktiven Anteile ihres Lebensplans erkennen und nutzen: Sie hat dadurch gelernt zu denken und Geschichten zu erfinden, die ihr helfen, schwierige Situationen zu meistern. Allmählich lernt sie, eine Brücke zwischen diesen Geschichten und der Realität zu bauen und mit Hilfe ihrer autonomen erwachsenen Intuition Fühlen, Denken und Handeln in Einklang zu bringen. Diese Vorgangsweise ist die Grundlage unseres DICTA-Konzeptes der «Positiven Transaktionsanalyse»: die positiven Anteile des Skripts zu nutzen, um die destruktiven zu überwinden.



Literaturangaben:
Berne, E. (1949). The Nature of Intuition. Dt. Das Wesen der Intuition. In: E. Berne, Transaktionsanalyse der Intuition. Ein Beitrag zur Ich-Psychologie. Hrsg. Heinrich Hagehülsmann. Paderborn: Junfermann 1991)
Berne, E. (1958). Transactional Analysis: A New and Effective Method of Group Therapy (dt. Transaktionsanalyse – eine neue und wirksame Methode der Gruppentherapie. In: E. Berne, Transaktionsanalyse der Intuition. Ein Beitrag zur Ich-Psychologie. Hrsg. Heinrich Hagehülsmann. Paderborn: Junfermann 1991)
Berne, E. (1962). The Psychodynamics of Intuition (dt. Die Psychodynamik der Intuition- In: E. Berne, Transaktionsanalyse der Intuition. Ein Beitrag zur Ich-Psychologie. Hrsg. Heinrich Hagehülsmann. Paderborn: Junfermann 1991)
English, F. (1980). Was werde ich morgen tun? Eine neue Begriffsbestimmung der Transaktionsanalyse. In: G. Bernes et al. (Hrsg.), Transaktionsanalyse seit Eric Berne (Bd. 2). Berlin: Institut für Kommunikationstherapie.
Cornell, W., de Graaf, A., Newton, T. & Thunissen, M. (2016). Into TA. A Comprehensive Textbook on Transactional Analysis. London: Karnak Books.
English, F. (1981). Die Ersatzlösung: Über Ersatzgefühle und echte Gefühle. In: M. Paula (Hrsg.), Transaktionsanalyse. Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen (2. Aufl.). Salzhausen: Iskopress
Erskine, R.G. & Zalcman, M. (1979). The Racket System: a Model for Racket Analysis. Transactional Analysis Journal, 9, 1, 51-59.
Goulding, M.M. & Goulding, R.L. (1978). The Power is in the Patient. A TA/Gestalt Approach to Psychotherapy.San Francisco: TA Press.
Kahler, T. (1975). Drivers – the Key to the Process Script. Transactional Analysis Journal, 5, 3, 280-284.
Schulze, H. & Sejkora, K. (2015). Positive Führung: Resilienz statt Burnout. München: Haufe-Lexware
Schulze, H. & Sejkora, K. (2016). Positive Transaktionsanalyse: Skript oder nicht Skript – das ist hier die Frage. Workshop am 37. Kongress der DGTA, Hamburg, Fotoprotokoll.
Schulze, H. & Sejkora, K. (2018). Resilienz in der Positiven Transaktionsanalyse: Vom Skriptgefängnis über den konstruktiven Lebensplan zum Beziehungsraum. In: K. Sejkora (Hrsg.), Eric Berne trifft Sigmund Freud – Transaktionsanalyse in Bewegung. Reader zum 38. Kongress der DGTA. Lengerich: Pabst Publishers.
Sejkora, K. (1991). Therapieverlauf, Therapieplanung und therapeutische Beziehung. Workshop am Symposium «10 Jahre INITA», Hannover 1991.
www.klaus-sejkora.at/2-therapieverlauf-therapieplanung-und-therapeutische-beziehung.html
Sejkora, K. (1995). Die Sprache der Träume. Überlegungen zu einer tiefenpsychologisch-transaktionsanalytischen Theorie des Unbewussten. Leitvortrag auf der Fachtagung «Tage Tiefenpsychologischer Transaktionsanalyse», Wels 1995.
www.klaus-sejkora.at/9-die-sprache-der-traeume-ueberlegungen-zu-einer-transaktionsanalytischen-theorie-des-unbewussten
Sejkora, K. (2010). Transaktionsanalytische Psychotherapie: Begegnung und Entwicklung. Vortrag auf dem 31. Kongress der DGTA, Saarbrücken, 2010.
www.klaus-sejkora.at/15-transaktionsanalytische-psychotherapie-begegnung-und-entwicklung.html
Sejkora, K. (2011a). Narzissmus: das falsche und das wahre Selbst. Dynamik und Diagnose des pathologischen Narzissmus. Zeitschrift für Transaktionsanalyse 28, 1, 5-19
Sejkora, K. (2011b). Transaktionsanalyse und das Unbewusste: Intuition und narrative Imagination. In: P. Rudolph (Hrsg.), Leben in Beziehungen – Beziehungen im Leben. Reader zum 32. Kongress der DGTA. Lengerich: Pabst Science Publishers.• Sejkora, K. (2016). «Du bist der Mensch meines Lebens.» Wenn Paare sich finden – Intuition und der unbewusste Lebensplan. Hauptvortrag auf der Paartagung des VPA, Wien 2016.
www.klaus-sejkora.at/29-du-bist-der-mensch-meines-lebens-wenn-paare-sich-finden-intuition-und-der-unbewusste-lebensplan
Sejkora, K. & Schulze, H. (2016). Die Kunst der starken Führung: persönliche Potenziale kraftvoll nutzen – Ressourcen der Mitarbeiter stärken. Munderfing: Fischer & Gann.
Sejkora, K. & Schulze, H. (2017). Vom Lebensplan zum Beziehungsraum. Wie wir mit Hilfe der Transaktionsanalyse einschränkende Muster überwinden. Munderfing: Fischer & Gann.

Schwerpunktthemen

Stammesgeschichtlich gesehen ist die Intuition mindestens so alt, wie die Menschheit selbst.

Jacqueline Dossenbach-Schuler
TSTA/C und Kunsttherapeutin IAC
info@transaktionsanalyse-ausbildung.ch
Eric Berne hatte während seiner Arbeit als Psychiater in der Armee der USA während des zweiten Weltkrieges genau eine Minute Zeit um eine «psychiatrische Analyse» für jeden der neuen Rekruten zu erstellen. Er beurteilte ca. 25.000 Soldaten in vier Monaten. Kein Wunder, dass er dafür seine Intuition zu Hilfe nehmen musste.
Dazu stellte er jedem Rekruten zwei Fragen: «Sind sie nervös?» und «Waren sie jemals bei einem Psychiater?» Er bemerkte, dass er oft richtig lag, wenn er versuchte diese Fragen intuitiv selbst zu beantworten, bevor der Rekrut etwas sagte. Er war überrascht und ging einen Schritt weiter, indem er versuchte dem Befragten auch einen Beruf zuzuschreiben und stellte fest, dass er auch hier in der Hälfte der Fälle richtig lag. Später analysierte er, wie er seine Intuition anwandte und kam zum Schluss, dass er vor allem die Augen und den Blick seines Gegenübers beobachtete, um deren Haltungen der Realität gegenüber, abzuschätzen. Um einen Eindruck auf das instinktive Verhalten zu gewinnen, schaute er auf die untere Gesichtshälfte und den Hals. Dies war der Moment, als er über Ich-Zustände nachzudenken begann als Weg, die Persönlichkeiten der Menschen zu beschreiben.
Stammesgeschichtlich gesehen ist die Intuition mindestens so alt wie die Menschheit selbst. Bereits älteste Kulturen, die noch keine Schriftsprache besassen, wussten um die Dualität des menschlichen Geistes, der sowohl zu rationaler wie zu intuitiver Erkenntnis fähig ist. Der Intuition gegenüber waren sie oft ambivalent eingestellt. Sie hielten sie einerseits in hohen Ehren, schrieben ihr göttlichen Ursprung zu und betrachteten sie als Wunder. Andererseits fürchteten sie sie auch, weil sie ihnen unbegreiflich war, und oft schrieben sie ihr sogar negative Dinge zu. Beide Ansichten haben später die Philosophien und wissenschaftlichen Theorien über die Natur des Menschen beeinflusst.
Auch ontogenetisch gesehen, das heisst im Rahmen der individuellen Entwicklung, ist die Intuition die früheste Erkenntnisform des Menschen. Das Kind ist bereits in der vorsprachlichen Phase fähig, intuitiv zu erkennen, dass zum Beispiel ein zusammen gekniffener Gesichtsausdruck eines Menschen oder ein lautstarker Wortwechsel in unfreundlichem Ton zwischen zwei Erwachsenen, nichts Gutes bedeutet.
Die Hirnbiologie sagt, dass die auf Argumenten beruhende Erkenntnisform dem rationalen Denken der dominanten Hirnhemisphäre entspricht. Intuition, die stark auf individueller Erfahrung beruht, ist hingegen eher an die Funktionsweise unserer nicht-dominanten Hirnhemisphäre gebunden. Aber auch subcortikale, das heisst unterhalb der Hirnrinde liegende Hirnstrukturen beeinflussen die Funktionsweise der Intuition, sowie die Quantität und Qualität der Erkenntnisse.
Wer kennt dieses Gefühl nicht: ein instinktives Wissen, ein Gefühl in der Magengrube, eine uns sicher erscheinende Ahnung, ein plötzlicher, unerwarteter Einfall, eine Erleuchtung, eine Gewissheit, die wir einfach haben und die nicht rational begründet werden kann. Viele nennen das «die Gewissheit des Herzens». Manchmal trifft sie uns wie «ein Blitz aus heiterem Himmel».
Sri Aurobindo (indischer Guru) beschrieb diese intuitive Erkenntnis als «einen Blitz, der aus dem Schweigen kommt» und nannte sie «die Erinnerung der Wahrheit». Er meint, dass der intuitive Einfall, der uns scheinbar zufällig zufällt, uns nur so treffen kann, wenn wir lange und tief darüber nachgedacht haben.
Ich denke, dass wir weitgehend unbewusst darüber «nachgedacht» haben. Denn die Intuition ist eine spezifische Wahrnehmungs- und Erkenntnisweise, die weitgehend unbewusst funktioniert und uns dann plötzlich, und meistens unerwartet, eine konkrete, fertig geformte Erkenntnis ins Bewusstsein bringt.
In schätze meine Intuition als ein sehr wertvolles Werkzeug, für das Leben überhaupt und in meiner Arbeit als Transaktionsanalytikerin und Kunsttherapeutin. Während ich in meinem «Leben überhaupt» intuitive Eindrücke auch mal «ungefiltert» äussere oder lebe, gehe ich mit diesen in meiner Arbeit differenzierter um. Im Einzelsetting «notiere» ich sie mir und überprüfe sie mit meinem rationalen Denken. Ich überlege, ob es in diesem Moment angebracht ist, sie meinem Gegenüber offen zu legen und wenn ja, wie ich dies mit ausreichendem Schutz tun kann. Es kommt aber auch vor, dass ich einem Klienten eine Frage stelle, die in diesem Moment genau die richtige Frage ist, die es braucht, damit der Prozess weiter gehen kann. Ich weiss nicht, woher die Frage kam, sie war einfach da. Oder ich höre die Geschichte einer Klientin und ich weiss schon im Voraus, was sie als nächstes sagen wird. In der Kunsttherapie geht es oft darum, Symbole, die während des Malens unbewusst und intuitiv ausgedrückt werden, zu entschlüsseln. Wenn ich mit systemischen Aufstellungen arbeite, schlage ich beispielsweise den Stellvertretern vor, eine Veränderung auszuprobieren oder einen Satz/ eine Frage auszusprechen und dies fühlt sich für Alle als richtig an. Ich habe dann jeweils das Gefühl, dass mir meine Idee einfach zugefallen ist, weiss aber, dass dies Intuition ist, gepaart mit Erfahrung und Wissen, wie ich das nachfolgend beschreibe.
Offenbar gibt es Erkenntnisse, deren Synthese auf tieferen Hirnniveaus (Instinkthirn, Emotionshirn) zustande kommt, als auch Erkenntnisse, deren Synthese erst in der Hirnrinde erfolgt. Kommt die Synthese in der dominanten Hirnhemisphäre zustande, spricht man von rationaler Erkenntnis, kommt sie in der nicht-dominanten Hirnhemisphäre zustande, dann spricht man von intuitiver Erkenntnis. Diese zeigt mehrere Eigenschaften, die weitgehend mit den funktionellen Eigenschaften der nicht-dominanten Hirnhemisphäre übereinstimmen. Sie ist ganzheitlich und einheitlich – nicht detailzentriert und dualistisch, wie dies bei der Erkenntnis der dominanten Hirnhemisphäre der Fall ist. Sie beruht offenbar auf der Fähigkeit eine Menge von Daten synchron (das heisst gleichzeitig, parallel) und nicht diachron (das heisst Schritt für Schritt) – wie die dominante Hirnhemisphäre zu synthetisieren. Sie operiert – worauf der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hingewiesen hat – wie der kognitive Induktionsvorgang, indem sie vom Besonderen zum Allgemeinen vorstösst und schlussendlich in einer Gestaltwahrnehmung, das heisst in der Wahrnehmung und Erkenntnis eines organisierten Ganzen, mündet. Sie bedarf keiner verbalen Erklärung, da die nicht-dominante Hirnhemisphäre nicht sprachlich und in linear-kausalen Ereignisketten, wie die dominante Hirnhemisphäre, sondern bildhaft denkt.
C.G. Jung definiert Intuition als eine von vier psychologischen Grundfunktionen neben Denken, Fühlen und Empfinden. Als etwas, das nicht vom Einzelnen zum Ganzen hinarbeitet, sondern das vom Ganzen in das Individuelle einfliesst. Er charakterisiert Intuition als eine Möglichkeit, das Verborgene zu erforschen und erfahrbar zu machen.
Ich komme zurück auf Kinder, die bereits im vorverbalen Stadium intuitiv die Lage erfassen und ich denke, dass wir alle am Anfang unseres Lebens mit einer guten Intuition ausgestattet waren. Aber oft wurde während unserer Erziehung und Sozialisation unserer Intuition nicht so viel Wert beigemessen, wie dem Wissen, das wir uns kognitiv anzueignen hatten. Und Intuition ist wie ein Muskel in unserem Körper, wenn wir ihn über Jahrzehnte vernachlässigt haben, kann er uns nur bedingt gute Dienste leisten. Es ist eine Tatsache, dass Intuition über den Verstand hinaus geht, ohne gegen ihn zu arbeiten. Sie ersetzt den Verstand natürlich nicht, aber sie vervollständigt ihn, und manchmal ist sie ihm einen Schritt voraus. Sie stattet uns gleichzeitig mit kreativem Denken aus, und somit können wir über unser Wissen hinausgehen.
Wenn wir unsere Intuition wieder stärken wollen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit trainieren. Da die Intuition offenbar stark an die Operationsweise der nicht-dominanten Hirnhemisphäre gebunden ist, fördern jene Faktoren die Intuition, die auch die Operationsweise der nicht-dominanten Hirnhemisphäre fördert. Das heisst Ruhe, Entspannung, Meditation, bildhaftes Denken, empathische Identifikation mit dem Gegenstand der inneren oder äusseren Betrachtung, ruhiges, rhythmisches Atmen und nicht zuletzt, geringe Erwartungshaltung.
Viele Faktoren, die die Operationsweise der dominanten Hirnhemisphäre begünstigen, hemmen die Intuition oder verzerren deren Erkenntniswert. Es sind dies Lärm, Stress, Übermüdung, Erschöpfung, Furcht, Wut, Hilflosigkeit, Resignation, Depression, fokussierter Aktionsmodus, starker Ehrgeiz, blindwütiger Aktionismus, etwas-erzwingen-wollen, grosse Erwartungshaltung. Zum Schluss dieser Aufzählung will ich P. Goldberg erwähnen, der in seinem Buch «The intuitiv Edge. Understanding Intuition and Applying it in Everyday Life» schreibt: «Man kann nicht intuitiv sein, wenn man versucht, recht zu haben.»
Und den Schlusspunkt möchte ich mit Albert Einstein setzen:
"Alles, was zählt, ist die Intuition. Der intuitive Geist ist ein Geschenk, der rationale Geist ein treuer Diener.
Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat."



Albert Einstein