artikeljanuar2021

Eine warme WohlFühl-Dusche statt perfekt sein zu müssen -
vom umgang mit einem fiesen antreiber

Autorin: Monique Naef – Vater: «Beeil dich, wir sind spät dran!» – Nora: «Ich bin noch müde, ich mag nicht.» – Mutter: «Sei stark und mach vorwärts!» – Nora: «Ich kann den Reissverschluss nicht schliessen, er klemmt!» – Vater: «Streng dich an, wir müssen gehen.» – Nora: «Ich bin soweit, tschau Mami.» – Mutter: «Tschau, sei brav im Kindergarten und bring mir wieder die schönste Zeichnung nach Hause!»
In diesem kurzen Gespräch sind der 4jährigen Nora von ihren Eltern erzieherisch gemeinte Aufforderungen vorgeschrieben worden. Diese Verhaltensweisen versucht das Kind zu erfüllen, um von den Eltern für ok gehalten zu werden. In diesem Beispiel hat das Kind alle fünf sogenannten Antreiber («mach schnell», «sei stark», «streng dich an», «machs andern recht» und «sei perfekt») erfüllt. Mit den Antreibern versucht ein Mensch, das Gefühl nicht zu genügen mit dem entsprechenden Verhalten zu korrigieren. Beispielsweise hat Nora gelernt, dass sie «nur» für die schönste (perfekte) Zeichnung Anerkennung erhält. Die meisten Menschen haben einen bevorzugten Antreiber, ihren Primärantreiber.
Sind Antreiber nicht auch fördernd in einer Leistungsgesellschaft? Genauigkeit, Unabhängigkeit, Durchhaltevermögen, Freundlichkeit und Schnelligkeit – sind das nicht Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft von wichtiger Bedeutung sind und unsere Kinder zu guten Leistungen anspornen? In der Schule ist Bewertung von Leistung ein zentrales Thema, auch wenn heute von «Kompetenzstufen» gesprochen wird und die «Leistung» an Bedeutung verlieren soll. Das Kompetenzkonzept an den Schulen ist mit Pisa gross geworden, der Idee von Messbarkeit mit standardisierten Tests in internationalen Schulleistungsuntersuchungen. Die Qualität von Bildungsinhalten, pädagogischen Konzepten lässt sich so nicht verbessern, die Bedürfnisse der Kinder werden kaum beachtet.
Antreiber wirken sich deswegen negativ auf die Kinder aus, weil sie immer, selbst in unpassenden Situationen erfüllt werden müssen. Das «OK-Gefühl» des Kindes ist vom Einhalten des Antreibers abhängig, das kostet Zeit und Kraft. Es bedeutet eine Belastung für das Kind, es bemüht sich um ein unerreichbares Ziel.
Miniskript
Das Nicht-ok-Miniskript hat 4 Positionen und beginnt immer mit einem Antreiber.
Taibi Kahler und seine MitarbeiterInnen haben das «Konzept der Antreiber» in die Transaktionsanalyse (TA) eingeführt. Die Antreiber gehören zu einem umfassenden Verhaltensmuster das Kahler «Miniskript» nannte. Das Konzept beschreibt das übertriebene und unpassende Ausleben dieser Eigenschaften. Der Antreiber zwingt den Menschen zum entsprechenden Verhalten, er kann nicht mehr wählen.
© Diagramm aus «Transaktionsanalyse» von Ian Stewart und Vann Joines S. 243
Die Positionen zwei, drei und vier haben die Funktion eine Abwehr zu bilden gegen die Wirksamkeit von Bannbotschaften und machen den Impuls, sich durch Anstrengung ok zu fühlen zunichte.
Der Ablauf des Miniskripts dauert einige Sekunden bis einige Minuten, die Positionen können unterschiedlich durchlaufen werden.
Nora kommt mit ihrem Vater im Kindergarten an. Sie verabschieden sich und Nora zieht sich in der Garderobe um. Sie begrüsst die anderen Kinder, Neuigkeiten werden ausgetauscht. Ich werfe einen Blick in die Garderobe und mache die Kinder auf die Zeit aufmerksam. Nora erlebt sich nur noch als bedingt ok und ihre Antreiber, insbesondere «sei perfekt» werden wirksam. Sie erschrickt, blickt mich reumütig an und gerät in die 2. Position, wo sie sich weiterhin als nicht ok erlebt und beschuldigt die anderen Kinder, sie nicht in Ruhe gelassen zu haben. Dadurch gerät sie in die 3. Position, sie tadelt die anderen Kinder und fühlt sich wieder ok. Bald kommt sie in den Raum, nimmt mich an der Hand und führt mich in die Garderobe, um mir zu zeigen, dass ihre Kleider alle am vorgesehenen Platz sind. Perfekt, Nora hat ihren Antreiber «sei perfekt» nach einem Umweg über das Miniskript doch noch erfüllen können. Nochmals bedient sie ihren Antreiber, indem sie mich auch darauf aufmerksam, dass nicht alle Kinder ihre Schuhe schön hingestellt haben. Nora sucht eine Bestätigung für ihr perfektes Verhalten. Diesen Wunsch möchte ich so nicht erfüllen, um ihren Antreiber nicht zu unterstützen. Ich lobe sie für ihr Erinnerungsvermögen an die Ordnungsregeln in der Garderobe und freue mich über ihren Kontakt zu den anderen Kindern. Ich frage Nora, was sie in der Garderobe erzählt hat, um ihr die Erlaubnis zu geben Freude am Austausch mit den anderen zu haben.
Nun möchte Nora ein Spiel spielen nur mit mir allein. Dazu bin ich nicht bereit, ich möchte sie wieder in die Gruppe führen und ihr keine Gelegenheit geben in die «Verzweiflung» (4. Position) zu geraten. Sie hat in der Garderobe ihre Freundinnen zu Unrecht bei mir angeschuldigt und braucht jetzt Unterstützung, um wieder zu ihnen zu finden. Ich biete ihr ein Spiel an, in welchem kooperatives Verhalten zum Ziel führt und es keine Sieger oder Verlierer gibt. Sie holt die betroffenen Kinder und wir spielen zusammen.
Die Antreiber bei den Kindern zu fördern, hilft ihnen kaum bessere Leistungen zu erreichen. Mit gezielten Erlaubnissen versuche ich Nora immer wieder dabei zu unterstützen, ihrem Antreiber nicht mehr zu gehorchen und sie von nichterreichbaren Zielen zu befreien.
Gezielte Erlaubnis: Du bist gut genug, so wie du bist, du darfst Fehler machen!
Neben dem Nicht-ok-Miniskript gibt es auch das Ok-Miniskript. Hier wird «Einhalt» durch Motivation, «Tadel» und «Verzweiflung» durch Freude ersetzt und es entsteht ein motivierender, konstruktiver Kreislauf.
Lernbereitschaft
Wie können wir Kinder mit Freude zum Lernen motivieren?
Glücklicherweise wollen Kinder üben! Sie wiederholen Fertigkeiten, bis sie diese beherrschen – vom ersten Stehen bis zum ersten Schritt übt das Kind unermüdlich. Vorausgesetzt es fühlt sich ausreichend geborgen und nicht so allein gelassen, dass seine Neugier erlahmt. Kinder lernen, weil sie dafür Anerkennung erhalten. Können sie dabei schöne Beziehungserfahrungen machen, spannende Inhalte kennen lernen und sich kompetent fühlen sind sie motiviert zum Lernen.
Die TA bietet uns eine Fülle von Konzepten, die uns helfen das Kind in seiner Lernfreude zu unterstützen.
Ich erzähle hier von meinen Erfahrungen in einem öffentlichen Kindergarten in Zürich, mit der Überzeugung, dass sich diese Anwendungsmöglichkeiten der TA auch auf alle anderen Schulstufen anpassen lassen.
Gefühle und Emotionen
Der Schultag beginnt für die Kinder mit dem Eintreffen in der Garderobe. Bei der Begrüssung können wir dem Kind unser persönliches Interesse an ihm zeigen, indem wir nach seinem Befinden fragen, Veränderungen wie z. B. die neue Frisur beachten und sie so willkommen heissen.
Im Kindergarten versammeln sich die Kinder im Kreis. Es hat sich bewährt, den Kindern die Möglichkeit zu geben ihr Befinden zu spüren und zu zeigen. Dazu hat jedes Kind die Kreisgesichter mit den 4 Grundgefühlen zur Verfügung. Die TA geht davon aus, dass ein Baby von der ersten Sekunde an die Gefühle Freude, Wut, Trauer und Angst zeigen und ausleben kann.
Jedes Kind legt das passende Gefühl vor sich hin. Um Unstimmigkeiten auszuräumen und eine gute Stimmung für das Einzelne und die Gruppe zu erreichen, frage ich jedes Kind nach dem gewählten Gefühl. Wütende Kinder erhalten die Gelegenheit ihre Wut in den Boden zu stampfen, in die Luft zu boxen oder herauszuschreien. Traurige Kinder suchen sich ein anderes Kind aus, von dem sie sich festhalten und trösten lassen. Angstgefühle sind selten aktuell, bei der Erarbeitung der einzelnen Grundgefühle, behaupten viele Kinder, insbesondere Knaben, nie Angst zu haben, eventuell ein Hinweis perfekt sein zu müssen. Ab und zu erzählen die Kinder aber von Träumen, die ihnen Angst gemacht haben. Das Erzählen hilft ihnen die Angst nochmals zu spüren und aus dem Gefühl heraus zu finden. Können alle Kinder sich wieder freuen singen wir ein passendes Lied, mit dem die Kinder, auch mit Bewegung ihre Freude ausdrücken können.
Über Gefühle zu sprechen hilft den Kindern ihre eigenen Emotionen im Blick zu haben. Emotionen zu versprachlichen, unterstützt sie in der Steuerung ihres Gefühlslebens. Gefühle in der eigenen, persönlichen Ausprägung sind Folgen eines anhaltenden Lernprozesses, beeinflusst durch die Interpretation von Situationen, Reaktionen, ihren Zusammenhängen und Auswirkungen. Dadurch entstehen die unterschiedlichen Gefühle der jeweiligen Menschen in ähnlichen Situationen. Durch die täglichen Gespräche in verschiedenen Situationen, verstehen die Kinder zunehmend auch die Gefühle der anderen anzunehmen.
Hilfreich ist es Möglichkeiten kennen zu lernen sich selbst zu guten Gefühlen zu verhelfen.
Warme Dusche
Strokes
Das englische Wort «stroke» bedeutet sowohl streicheln wie auch Schlag, Stoss, Hieb, Schicksalsschlag, Schlaganfall. Berne wählte das Wort, um damit das ursprüngliche Bedürfnis des Säuglings nach körperlicher Berührung, nach streicheln, deutlich zu machen. Als Kinder und auch noch als Erwachsenen sehnen wir uns nach körperlichem Kontakt. Mit der Zeit lernen wir uns auch mit anderen Formen von Anerkennung zufrieden zu geben. Der Begriff «Stroke» wird für jede Art von menschlichem Kontakt verstanden, Hauptsache wir werden überhaupt wahrgenommen. Die englische Vielfalt ist im deutschen Wort Zuwendung nicht enthalten. Ich benutze Zuwendung, Anerkennung und Stroke gleichwertig.
Kinder probieren gerne viele verschiedene Arten von Verhalten aus, um herauszufinden, welche davon ihnen Zuwendung bringen und welche nicht. Sie lernen, welches positive oder negative Verhalten die Strokezufuhr aufrechterhält. Hat das Kind das Gefühl zu wenig Anerkennung zu bekommen, kämpft es um mehr. Erhält es vorwiegend negative Beachtung, wird es sich um diese bemühen, um nicht komplett auf Strokes verzichten zu müssen.
Die Kinder in unserem Kindergarten können Strokes einfordern, indem sie eine warme Wohlfühl-Dusche geniessen. Eine Halbkugel symbolisiert einen Duschkopf. Die farbigen Papierstreifen stellen das warme Wasser dar und schützen das Kind auch vor Blicken. Das Kind setzt sich unter die warme Dusche und erhält von jedem Kind und auch von mir eine positive Zuwendung. Anfänglich geben die Kinder viele bedingte Strokes zu Kleidung und Aussehen. In dieser Situation achte ich darauf in meiner Vorbildfunktion ausschliesslich unbedingte Zuwendung zu formulieren, wie beispielsweise «du kannst schön singen».
Das Angebot wird oft gebraucht, es werden zuweilen auch «Probleme» erfunden, um sich eine warme Wohlfühl-Dusche zu gönnen. Dies ist der Moment, die Kinder erleben zu lassen, dass sie Zuwendung um der Zuwendung willen verlangen dürfen, «einfach so, weil ich es möchte».
Strokes erlauben den Kindern sich selbst zu guten Gefühlen zu verhelfen:
wenn ich Zuwendung möchte, kann ich sie verlangen
wenn ich Zuwendung gebe, fühle ich mich glücklich
wenn ich Zuwendung gebe, erhalte ich auch Zuwendung
wenn ich Zuwendung geben will, darf ich sie geben
Für Nora ist es wichtig für alle ihre Handlungen eine Reaktion zu erhalten, sie sucht nach Bestätigung, wie alle Kinder. Aber nur wahrgenommen werden reicht für sie häufig nicht, sie möchte es korrekt gemacht haben. Anderen Kindern Strokes zu geben fällt ihr schwer, insbesondere bedingungslose, nicht an eine Leistung gebundene Zuwendung auszusprechen. Anfänglich bewirkt die warme Dusche bei Nora eine starke Anspannung, die sich mit «Hustenanfällen» oder lautem räuspern zeigt. Es hilft ihr, wenn ich vor ihr meinen Stroke äussere, so kann sie dieselbe Zuwendung wiederholen und den in ihren Augen perfekten Stroke geben. Es ist für sie auch schwierig selbst eine warme Dusche zu nehmen, weil sie hohe Ansprüche an die Gruppe hat: »Ich spiele gerne mit dir» genügt nicht «Ich spiele am liebsten mit dir oder nur mit dir» möchte sie hören. Sie möchte keine warme Dusche mehr nehmen. Es dauert ein halbes Jahr bis Nora beginnt warme Duschen zu geniessen.
Die vier Hunger des Menschen
Die täglichen Rituale, die Kinder mit «Kreisgesichtern» und «warmen Wohlfühl-Duschen» ihre Emotionen spüren zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wohl zu fühlen, stärkt sie ihre zentralen Bedürfnisse («Hunger») zu erfüllen: ihr Bedürfnis nach körperlicher und seelischer Stimulation, der Stimulus-Hunger, ebenso ihr Hunger nach Strokes, ist befriedigt. Der sich täglich wiederholende Ablauf unterstützt den Hunger nach einer sinnvollen Zeitstrukturierung. Auch der Hunger nach Position, den die Kinder bei einer persönlichen Begrüssung und dem Eingehen auf ihr Befinden erleben stärkt sie. Nora hat einen grossen Hunger nach Position. Sie drängt sich vor, gibt ungefragt Antworten und wirkt dadurch vorlaut. Ihre ungefragt erteilten Ratschläge möchte sie von mir als richtig und passend beurteilt haben. Damit befriedigt sie nicht nur ihren Hunger nach Position, sie ist auch getrieben von ihrem «sei perfekt»-Antreiber und will in eine +/- Haltung (ich bin ok, du bist nicht ok) kommen. Sie stellt sich damit über die anderen Kinder, die auch entsprechend reagieren. Immer wieder mache ich Nora darauf aufmerksam, wie ihr Verhalten auf andere wirkt, indem wir solche Szenen mit Stofftieren nachspielen. Wichtig ist bei der Darstellung das Nora nicht beschämt wird, ein positives Rollenangebot stärkt sie und hilft den anderen Kindern wieder freundlich auf Nora zuzugehen.
Die Konzentration und die Neugier für die anschliessende Kreissequenz sind bei den meisten Kindern nun gegeben. Die Aufgabe für den heutigen Tag weckt das Interesse der Kinder, sei das die Einführung eine Bastelarbeit, eines Spiels, einer neuen Technik, eines Liedes oder das Erzählen und Darstellen einer Geschichte. Im Kreis kann ich für alle Kinder gleichzeitig erklären und vorzeigen, ich kann die Kinder für einzelne Schritte einbeziehen. Stelle ich ein Beispiel für eine Bastelarbeit vor, ist das für Kinder, die meinen perfekt sein zu müssen, schwierig. Darum ist es wichtig den Kindern immer wieder zu erklären, dass ich schon viele Jahre üben konnte und sie selbst, es so gut machen dürfen, wie es ihnen gelingt. «Sei perfekt»-Kinder brauchen zusätzliche Unterstützung, um mit ihrem Resultat zufrieden zu sein. Insbesondere Nora, die sprachlich und mathematisch von ihren Eltern gefördert wird, motorisch, aber ungeschickt ist. Kinder, die denken sie hätten die gestellte Aufgabe verstanden, dürfen sich ihren Arbeitsplatz einrichten. Es stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, entweder Einzelplätze oder unterschiedlich grosse Gruppentische. Es ist eine grosse Herausforderung einen Arbeitsplatz auszuwählen, der dem einzelnen Kind erlaubt die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Die beste Freundin kann vielleicht gute Unterstützung anbieten, aber auch viel Ablenkung. Die Nachbesprechung im Kreis hilft den Kindern für sie sinnvolle Arbeitskombinationen zu finden.
4 P
Meine Bewusstheit über die «3 P» (Protection: Schutz, Permission: Erlaubnis, Potency: Überzeugungskraft) ist für eine fördernde Unterstützung der Kinder besonders wichtig und hilft ihnen sich in der Gruppe aufgehoben zu fühlen. In der täglichen Arbeit kommen die drei P vereint zur Anwendung. Die Wirkung einer Erlaubnis (Permission) ist nur möglich, wenn sich das Kind geschützt weiss (Protection) und meine Ermutigung, mein Einfluss und meine Überzeugungskraft (Potency) genügend stark sind. Für die pädagogische Arbeit möchte ich ein «viertes P» einbringen, nämlich Patience: Geduld. Bei der Arbeit mit so jungen Kindern merke ich, dass Geduld eine bedeutsame Eigenschaft ist. Die ursprünglichen Bannbotschaften, Antreiber, die skriptgebundenen Verhaltensweisen beeinflussen und prägen auch (unbewusst) den Alltag der Kinder. Ich muss ebenso überzeugend sein, wie es die jeweiligen Autoritätspersonen waren. Es braucht viel Geduld, immer wieder genügend Zeit, den Moment abzuwarten, in dem das Kind bereit ist. Eine Konfrontation kann beim Kind auch Trotz auslösen oder es reagiert mit Anpassung. Das ist der Moment, um eine Intervention zu unterbrechen und auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Viele Kinder erleben bereits im Kindergartenalter einen hektischen Alltag und werden durch Zeitdruck und hohe Anforderungen teilweise in ihrer Selbständigkeit und Selbstverantwortung gehindert. Wichtig ist jedoch, dass die Kinder sich die Zeit nehmen dürfen, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Daraus entstehen ganz normale Konflikte mit sich und anderen. Wir können die Kinder unterstützen ihre Persönlichkeit in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln, ihnen genügend Zeit zur Entfaltung zu gewähren und unsere geduldige Unterstützung anzubieten. Den Wert von positiven Beziehungen auch in Lernbeziehungen zu erleben und einen sinnvollen Umgang mit ihren Gefühlen zu üben, stärkt die Kinder in ihrer weiteren Entwicklung. Die Grundeinstellung «ich bin ok, du bist ok» ist eine Voraussetzung für eine sinnvolle Arbeit im Klassenzimmer.
Literatur
Berne, Eric: Was sagen Sie, nachdem Sie «Guten Tag» gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. Fischer Taschenbuch Verlag 2007
Steiner, Claude: Emotionale Kompetenz. Deutscher Taschenbuch Verlag 2006
Schlegel, Leonhard: Die Transaktionale Analyse. Deutschschweizer Gesellschaft für Transaktionsanalyse, Zürich 2001
Stewart, Ian und Joines, Vann: Die Transaktionsanalyse. Taschenbuch Verlag Herder 2000
Kleinewiese, Elisabeth: Kreisgesicht-Symbole. Institut für Kommunikationstherapie 1999
Monique Naef
Transaktionsanalytikerin CTA-E / Kindergartenlehrperson / Montessori Heilpädagogin Practitioner für Emotionale Kompetenz (DGEK) / Erwachsenenbildnerin (SVEB 1)

monique.naef@bluewin.ch

artikelfebruar2021

Ich entscheide mich – Fragen an eine Grundannahme
Identität als soziale Konstruktion

Autor: Peter Rudolph – In diesem Artikel reflektiere ich, wie transaktionsanalytische Beratung Identitätsarbeit unterstützen kann. Ausgehend von einigen allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Identität, Selbst und Welt beleuchte ich dabei beispielhaft das Modell der Transaktionen in Bezug auf diese Frage, um dann anhand eines Fallbeispiels darzustellen, wie diese Überlegungen in der Beratung ihren Niederschlag finden.
Als transaktionsanalytischer Berater und Heilpraktiker für Psychotherapie ist das Verständnis von Menschen, ihres Ich-Seins, ihres Ich-Werdens, ebenso wie ihres Wir-Seins ein basales und auch für das konkrete Arbeiten wichtiges Anliegen. Wie verstehe ich die Person, die vor mir sitzt mit bestimmten Wünschen, Hoffnungen, Phantasien, Erschöpfungszuständen, Enttäuschungen, Ängsten?
Wie sehe ich in ihr ein Ich als eine selbstständige, abgegrenzte Ganzheit, die sich mit anderen abgegrenzten Ganzheiten selbstbestimmt und bewusst verbindet. Oder sehe ich ein Netzwerk von Personen, die sich gegenseitig durchdringen, aufeinander einwirken, voneinander abhängig sind?
Transaktionsanalytische Beratung ist ebenso wie andere Formen psychosozialer, reflexiver Beratung über die anlassorientierte Unterstützung bei Problemlösungen hinaus ein Raum zur weitergehenden Selbstreflexion und Selbstkonstruktion1. Sie bietet eine Möglichkeit, eigene Identität zu finden, zu spüren, und in einem Diskurs der Freiheit2 zu gestalten. Wer bin ich wie mit wem wofür – ist die Frage, die sich hinter der Erschöpfung, dem eskalierten Konflikt oder dem Burn-out (meist) verbirgt. Im Verhalten, das zum Problem wird, die Haltung zu finden und zu nennen, in dieser dann die Gewordenheit und die Identität zu erkennen und hier Entwicklungsoptionen zu öffnen, das ist aus meiner Erfahrung Kernaufgabe von Beratung.
Es ist eine Stärke der Transaktionsanalyse, dass sie Modelle anbietet, die personenorientierte, ebenso wie dyadische, triadische und polyadische Perspektiven ermöglichen. Gerade die Mehrperspektivität macht es in der Beratung möglich, sozusagen ‚Modell-intern‘ die Perspektive des konkreten Alltagshandelns in seinen unterschiedlichen Dimensionen z.B. mit der der transgenerationalen Loyalität oder aber der frühkindlichen Prägung relativ bruchfrei zu verbinden.
Bevor ich die Vernetztheit des Einzelnen mit der Welt stärker in den Fokus nehme und die Bedeutung für das konkrete Beratungshandeln, ist es sinnvoll, sich einen Moment lang mit der Frage zu beschäftigen, was wir unter Identität verstehen – und wie dies mit dem Thema ‚Perfekt‘ zusammenhängt.
© Pixabay janeb13
Schauen wir die Geburt dieser Ich – Identität oder auch des Individuums an, so will ich auf die Renaissance verweisen, die zunächst mal eine Zeit gigantischer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderung war. Der Einzelne, die Gesellschaft, Welt, Spiritualität – alles organisierte sich neu. Hier passt die bekannte Proportionsstudie von Leonardo da Vinci (1492) als Zeichen der neuen Weltsicht. In ihr wird der Mensch in seiner körperlichen Beschaffenheit in das Zentrum gesetzt und zum Maßstab für ein neues Ordnungssystem gemacht. Die Renaissance kann in gewisser Weise als der Beginn der der neuzeitlichen anthropozentrischen Weltsicht begriffen werden.
Etwas später finden wir den ersten wichtigen Ich – Roman: Der abenteuerliche Simplicissimus (Teutsch) ist ein sogenannter Schelmenroman, der von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1625–1676) im Jahr 1668 veröffentlicht wurde. Dieser Roman stellt das wichtigste Werk seiner Art in dieser Zeit dar. Er gilt als der erste deutschsprachige Abenteuerroman. Es ist ein faszinierender Roman eines Ich-Erzählers. Das Leben einer einzelnen Person ist der rote Faden dieser Geschichte des 30-jährigen Krieges.
So haben wir in diesem Roman einerseits die Perspektive des Ich, des Individuums und andererseits noch den Einzelnen als Träger für die Geschichte – also quasi nur als Folie.
© Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen 15. März 2008 (Hochladedatum) durch Abrev, Gemeinfrei, commons.wikimedia.org
Jörg Rasche schließlich verweist in seinem Buch „Musik als Spiegel der Seele“3 auf das 18. und 19. Jahrhundert mit seinen schwerwiegenden politischen und wirtschaftlichen Krisen. Nach einer Welle der Hoffnung wurde Europa von Zensur und Unterdrückung erschüttert.
Die entstehende bürgerliche Klasse wandte sich nach innen und entdeckte das ‚Ich‘. Jean Paul, ein romantischer Autor der Zeit formuliert es folgendermaßen: „An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‚ich bin ein ich’ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“
Erik Erikson sieht „das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrecht zu erhalten. „… Das Gefühl der Ich-Identität ist … das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen der anderen hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrecht zu erhalten.“4
Er definiert Identität
„als einen Prozess, der im Kern des Individuums lokalisiert ist und doch auch im Kern seiner gesellschaftlichen Kultur, …“ (ebda. S.18).
Weiterhin ist es ein Prozess, in dem der Einzelne seine Wahrnehmung von sich selbst und von den anderen abgleicht mit den Wahrnehmungen, die er bei den anderen Menschen von ihm und von sich wahrnimmt – also ein Prozess wechselseitiger Durchdringung und Abstimmung aufeinander.
„Und schließlich“, so führt Erikson aus, „können wir bei der Besprechung der Identität nicht das persönliche Wachstum vom Wandel der Gesellschaft trennen.“


Hier formuliert Erikson noch einmal deutlich die gesellschaftliche Bedingtheit persönlicher, subjektiver Identität. Für uns als BeraterInnen ist von Bedeutung, dass Identität eine Konstruktion ist,
die uns hilft, uns in der Welt zurecht zu finden und
innere und äußere Ansprüche miteinander zu verbinden.


Dem Einzelnen kommt die Aufgabe zu, sich selbst und sein Leben passend zu den Umständen, bzw. zu seinen externen Kontexten und passend zu seiner Geschichte und seinen inneren Bedürfnissen, mit anderen Worten zu seinen inneren Kontexten zu gestalten – mit all den Freiheitsrisiken, die damit verbunden sind. Das Gelingen dieser inneren und äußeren Gestaltungsarbeit führt für die einzelne Person
zum Erleben von Kohärenz und Authentizität als eher innere Qualitätsmerkmale
und zum Erleben von Anerkennung und Handlungskompetenz als eher äußerliche Qualität.
Das Herstellen und Erleben dieser Qualitäten kann als Anzeichen für „gelungene Identität bezeichnet werden.“ (ebda. S. 62)

Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Identitätsentwicklung heutzutage stattfindet, sind herausfordernd und in Bewegung. Schlagworte, die diese Bewegung charakterisieren, sind
„die Erfahrung der Entbettung oder eine ‚ontologische Bodenlosigkeit’“ (Keupp)
die Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster
eine verringerte Erwerbsarbeit im Sinne eines Systems, das der eigenen Identität lebenslange Grundlage und Rahmen gibt
eine Pluralisierung von Lebensformen und Milieus
Die Konstruktion des Selbst und der eigenen Identität gestaltet sich als ‚multioptionaler Prozess‘ der täglich neu zu kalibrieren ist.

Was sich im Rahmen des Artikels theoretisch abgehoben anhören mag, findet in der konkreten Beratungswirklichkeit statt, wenn z.B. der ostfriesische Arbeiter von VW im Rahmen von Umstrukturierungen Umzüge nach München, nach Bern, nach Frankfurt, nach Warschau, nach Bremen zu bewältigen hat – und jeweils sich auf die Kultur, die Rhythmen, die Arten des Fühlens und sich Verbindens einzustellen hat – nicht als äußeren oberflächlichen Anpassungsprozess, sondern als authentischen und autonomen Entwicklungsprozess. Wo bleibt er mit seiner Trauer um die vielen Abschiede und der Unsicherheit um die vielen ‚Ankommen‘, wo bleibt er mit Vorlieben? Wieviel Trauer ist angemessen? Was ist mit seiner Sehnsucht, Tee zu trinken und dabei auf Deiche zu schauen – ist das ‚erwachsen‘ (funktionsanalytisch gesprochen)?
Es findet statt, wenn der syrische Arzt, der nach einer langen und für seine Familie noch fort dauernden Migrations – und Fluchtgeschichte, Zweifel daran hat, ob er seine Tochter zum Schwimmunterricht gehen lassen will oder ob seine Frau mehr verdienen kann und darf als er. Das sind nicht nur ‚interessante‘ äußere Normenkonflikte, sondern Entscheidungsprozesse, die tief in seine Identität hineinwirken.
Identitätsarbeit ist ein Prozess, den wir jeden Tag zu leisten haben. Dabei lassen die äußeren Bedingungen nicht immer die Zeit, die wir brauchen, um in Ruhe und eigener Geschwindigkeit die inneren Prozesse zu tun, die für die Bewältigung von Entwicklung nötig und sinnvoll sind.
In diesem Zusammenhang taucht dann wieder eine Flut von Ratgeber Büchern auf, in denen auch transaktionsanalytische Modelle die Produktion eines ‚perfekt‘ funktionierenden Selbst eher im Rahmen eines ‚Get-happy-im-Do-it-yourself-Verfahrens‘ anregen5.
Die Produktion eines gelingenden Selbst ist aber nicht so eindimensional zu fassen. Die täglichen Begegnungen in der Beratungspraxis zeigen, dass Identität ein komplexer, fragiler und stets neu zu formender Prozess ist, der Zeit, Verstehen, Achtsamkeit und Unterstützung braucht. Nehmen wir uns diesen Raum nicht, schleicht sich in diesen Prozess das ‚Be Perfect‘ hinein, das dann in seinem Zusammenbruch hohe Ausfallkosten (Gewalt, Sucht, Erschöpfungssyndrom und andere Formen) mit sich bringt. Hannes Schneider6 zeigt in seinen Überlegungen und Weiterentwicklungen zum Antreiber- Modell, wie wir die Fähigkeiten, die sich in den Antreibern entwickeln, benötigen, um uns in der Welt zurecht zu finden. Diese Transformation benötigt Raum und Zeit. Gerade der Antreiber ‚Sei perfekt‘ beinhaltet neben den Einschränkungen auch eine Fähigkeit und ein Gefühl für Vollkommenheit. Der ostfriesische Landarbeiter ebenso wie der syrische Arzt benötigen ein Empfinden darüber, was ist eine gelungene Einstellung auf die immer neuen Verhältnisse, was ist das gelungene und gelingende Identisch-Bleiben. Das ist dann vielleicht keine Perfektion, aber eine Gelungenheit, die auch mit Schönheit zu tun hat.
Im Folgenden werde ich zunächst Überlegungen verschiedener AutorInnen vorstellen, die die Vernetztheit des Einzelnen mit der Welt thematisieren. Im weiteren Verlauf werde ich das Modell der Transaktionen kurz kritisch reflektieren – und dann an einem Beispiel aufzeigen, wie sich das Verständnis stärker vernetzter Identität in der Beratungsarbeit auswirken kann.
All dies bleibt in einem kurzen Artikel fragmentarisch, zeigt aber, so hoffe ich, die Richtung auf, in der transaktionsanalytische Theorie- und Modellentwicklung noch Entwicklungsoptionen und -bedarf hat.
Das dynamische Handlungspentagon
AutorInnen zum Thema
Hilarion Petzold, ein wesentlicher Autor der Integrativen Therapie, hat die Mehrdimensionalität des Menschen, seine Verbundenheit in unterschiedlichen Ebenen und Zeiten in einem Modell verbildlicht (siehe Abbildung oben).
Die Person organisiert und lebt in den unterschiedlichen Dimensionen und Hintergründen. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunftsbilder sind mitgestaltend für die Konstruktion eines Selbst in einer Hier-und-Jetzt-Wirklichkeit. Entwicklung im Hier und Jetzt findet auf der Grundlage dieser Dimensionen statt und wirkt in diese wieder hinein.
James M. Sedgwick z.B. betont in seinem Buch ‘Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World’ (2021 Oxon) die vertikale und die horizontale Ebene von Problem- und Wirklichkeitsdefinitionen. Die vertikale Ebene betont die klientenzentrierten Perspektiven – die subjektive Geschichte, ebenso wie intrapsychische Konfliktdimensionen. Die horizontale Ebene betont die Ebene der Vernetzung mit externen Bedingungen – soziale Verhältnisse, Beziehungen, Loyalitäten, Verstrickungen, sozioökonomische Bedingungen. Sedgwick arbeitet daran, nicht subjekt- oder kontextorientiert Probleme zu definieren, sondern Modelle zu entwickeln, die Subjekt und Welt integrieren als einander bedingendes Ganzes.
„Claiming that a clear point can be found where we end and the world begins is neither possible nor necessary to understand ourselves even as the deeply ingrained habits of clinical theory may make it seem so. … Sweep away the borders and we have to understand autonomy differently.”7
Mathias Sell entwickelt Beziehungsformen und Beziehungszustände als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen.8 Er weist darauf hin, dass bereits Berne die Vermitteltheit innerer Zustände mit der Außenwelt als konstitutiv für gelingende Identitätsentwicklung betrachtete:
„Es bleibt die Frage offen, wie viel Eigenständigkeit die innere Welt behält oder wie sehr die innere Tätigkeit von dieser äußeren kommunikativen Tätigkeit in Abhängigkeit verstanden und erklärt werden muss. … Wir meinen mit Beziehung nicht mehr einen Bezeichnungsbegriff, der das Zusammenkommen von zwei Menschen bezeichnet, sondern beschreiben sie als eine Grundkategorie des menschlichen Daseins selbst.
Ein Beziehungszustand ist definiert als ein kohärentes System von Gefühlen und Gedanken, das in Verbindung mit gewählten Mustern von kohärenten Verhaltensweisen, bezogen auf eine bestimmte Situation, in Ich-Zuständen zum Ausdruck kommt.“9
Reflexion eines transaktionsanalytischen Modells
Ausgehend von der oben beschriebenen strukturellen Vernetztheit von uns Menschen ist es notwendig, einige unserer transaktionsanalytischen Modelle weiterzuentwickeln – so wie z.B. Matthias Sell es mit den Ich-Zuständen macht –, aber auch kritisch zu hinterfragen.
Das Modell der Transaktionen ist hierfür ein Beispiel. Es lädt dazu ein, den Prozess wahrzunehmen, wie Menschen sich miteinander verbinden und damit eine gemeinsame Wirklichkeit herstellen. Es ist ein außerordentlich hilfreiches Modell, das Menschen dabei unterstützt, wahrzunehmen, was sie tun und wie sie dabei ihre Wirklichkeit konstruieren.
Dieses Modell ist aber auch mit Risiken verbunden. Denn es bietet ein Kommunikationskonzept, das suggeriert, wir könnten Kommunikation selbstbestimmt und bewusst steuern. Die eine getrennte Person handelt mit der anderen Person und entwickelt sich in diesem Austausch weiter. Im Modell bleiben sie dabei autonome und getrennte Personen. Die Komplexität und Vielschichtigkeit dessen, was in Kommunikation stattfindet, bleibt damit häufig verborgen. Diese bewusste Reduzierung befördert die Idee und manchmal auch die Illusion einer unabhängigen willentlichen Steuerung, ebenso wie die Vorstellung einer linearen Abfolge von Aktionen mit Stimulus und Reaktion10.
Hier reduziert das Modell der Transaktionen die Komplexität kommunikativer Wirklichkeit in einer hilfreichen, aber oftmals eben auch reduzierenden Weise, in der wesentliche Aspekte nicht gesehen werden.In Bernes Beispiel, in dem „ein väterlicher Ehemann sich um seine ihm dankbar ergebene Frau kümmert“ (ebda. S. 27), ist seine Deutung, dass es sich hier um eine komplementäre EL-K-Transaktion handelt, zwar möglicherweise zutreffend. Zugleich greift dieses Modell aber nicht annähernd den möglicherweise chronischen Charakter der Unterwerfung und/oder das dahinterstehende strukturelle sozialökonomische Abhängigkeits- und Gewaltverhältnis auf. Das Beziehungsmuster der Frau, die sich autonom und selbstbestimmt gegenüber ihrem väterlich sorgenden Ehemann gibt – ist kurz gegriffen und brisant, da es Aspekte, die die Selbstbestimmung infrage stellen, nicht angemessen aufgreift. Dass dieses Modell von einem Autor entwickelt wurde, dem die Rolle des ‚väterlich sorgenden Ehemanns‘ attraktiv ist, betont die Brisanz dieser Reduzierung.
Das Modell fördert die Idee zweier unabhängiger Individuen, die sich aus freien Stücken zu ihren jeweiligen Handlungsmustern entschieden haben – und übersieht dabei die wechselseitige und soziokulturelle Verschränktheit der beiden Individuen.
Auf der Ebene der Konzepte und Theorieentwicklung werden wir, so hoffe ich, Anregungen bekommen, die über unsere bisherigen Modelle hinaus die Bedingtheit und Gebundenheit des Menschen in und mit seiner Welt zupackender und hilfreicher zusammenfassen, als es unsere Modelle schon jetzt tun. Selbstverständlich haben Modelle die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, damit wir mit dieser Komplexität von Wirklichkeit überhaupt arbeiten können. Zugleich müssen wir aber aufpassen, die Modelle nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Dabei brauchen wir auch den Mut und die Standfestigkeit, auszuhalten, dass diese Wirklichkeit unfassbar komplexer ist als unsere Modelle.
Aufgabe transaktionsanalytischer Beratung und Psychotherapie ist es aus meiner Sicht, die Ganzheit und Komplexität des Menschen mitzudenken, wissend, dass wir sie nicht fassen können:
„Ein menschliches Wesen, das in Beziehung zu einem anderen steht, hat nur eine sehr begrenzte Kontrolle über das, was in dieser Beziehung passiert. Es ist Teil einer Zweipersoneneinheit und die Kontrolle, die irgendein Teil über irgendein Ganzes haben kann, ist streng begrenzt.“10
„Über die meisten unserer Handlungen, Gedanken und Empfindungen haben wir keinerlei bewusste Kontrolle. Im undurchdringlichen Dickicht unserer Neuronen laufen eigenständige Programme ab. Unser Bewusstsein – das ‚Ich’, das den Motor anwirft, wenn wir morgens aufwachen – macht nur den kleinsten Teil dessen aus, was in unserem Gehirn abläuft. … (Das) Bewusstsein ist wie ein blinder Passagier auf einem Ozeandampfer, der behauptet, das Schiff zu steuern, ohne auch nur eine Ahnung von der Existenz des gewaltigen Maschinenraums zu haben.“12 Die Idee, dass wir uns autonom und selbstbestimmt – sozusagen perfekt – selbst gestalten und bestimmen, bleibt eine freundliche und manchmal hilfreiche Illusion.
Diese Überlegungen und Fragmente mögen theoretisch fern klingen, haben aber in der Praxis transaktionsanalytischer Beratung durchaus Folgen. Hierzu will ich ein Beispiel aus meiner Praxis darstellen.
Fallbeispiel
Angela13 , eine 39 – jährige Hortleiterin – hatte bisher erfolgreich in ihrer Einrichtung gearbeitet; sie erlebte aber immer wieder frustrierende Konflikte mit ihrer Vorgesetzten. Sie sah in dieser Zusammenarbeit keine mögliche Perspektive und überlegte nun, ob und wohin sie sich neu bewerben könne. Als sie sich in der Beratung damit einbringt, entwickelt sie Ideen, was sie tun kann und will, findet aber immer wieder Gründe, warum alle diese Ideen nicht wirklich funktionieren können. Es ist – auf der Ebene des Verhaltens - das Muster eines Ja-Aber-Spiels. Ich erlebe sie immer wieder in einer Haltung des angepassten Kind-Ichs. Ich selber erlebe mich zunehmend angestrengt, hilflos. Die Atmosphäre zwischen uns wird zunehmend ruhiger, passiver, schwerer. Eine gedrückte Stimmung entwickelt sich, als wären wir eine verschworene verlorene Gemeinschaft.
Ich frage sie, ob sie diese Schwere, Atemlosigkeit auch wahrnehme – und sie bejaht dies. Wir sprechen über diese Atmosphäre der Schwere und von Ausgeliefert-Sein – über eine erlebte Chancenlosigkeit und es wird deutlich, dass das so nicht in die Gegenwart passt.
Hier findet ein erstes Durchatmen statt. Die Schwere hat Worte bekommen und ist damit nicht mehr so drängend schwer.
Ich greife ihre anfängliche Idee einer erfolgreichen und ‚leichten‘ Berufskarriere auf, sage ihr: ‚Stell Dir vor, Du würdest eine Stelle finden, die Deinen Kompetenzen und Wünschen gemäß wäre, Du würdest diese Stelle nehmen und Dich daran freuen – für wen wäre das ein Problem?‘
Hier fällt ihr sofort ihre Mutter ein, und Angela erzählt, dass diese als ganz junges Kind mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen sei; sie waren im letzten Treck über die zugefrorene Ostsee und dabei von den nachrückenden russischen Truppen eingeholt worden. Als Angela erzählte ‚und da sind die Russen 3-mal rüber gegangen‘, war dieses Atemanhalten im Raum – die Entscheidung, auszuhalten, um zu überleben. Sich zusammenzureißen, nicht zu spüren, die Hoffnung auf Glück aufzugeben und den Atem anhalten, das waren die Überlebensstrategien, die die Großmutter, die Mutter und dann auch die Tochter entwickelt und übernommen hatten. Was nach aussen als Ja-aber-Spiel sichtbar wird, ist nach innen eine ‚perfekte‘ Adaption an die Bezugsrahmen und die Lebensgeschichten ihrer Mutter und Großmutter – eine fein austarierte Aufrechterhaltung des Generationen-übergreifenden Bezugsrahmens.
Mir war es in der Situation wichtig, dass diese Erzählung und das Leid der beiden vorhergehenden Generationen einen eigenen Raum hatten und auch eigene Würdigung erfuhren. Auch wenn spürbar war, dass sich die Tochter mit der Mutter liebend verbunden fühlte, so wie diese wiederum mit ihrer Mutter, so schien es gleichzeitig nicht erlaubt, als getrennte Person mit einer eigenen Lebendigkeit aufzutauchen. Die Beziehungsgrundlage war identifizierend und so sich gegenseitig schützend. Weder die Großmutter, die geflohen war, noch die Mutter, die das als Kind erlebt hatte, noch Angela waren emotional jemals in Norddeutschland angekommen. Ihre gemeinsame Selbstkonstruktion blieb die der Geflüchteten, Heimatlosen, Ausgelieferten. Da die historische Erfahrung nicht integriert werden konnte, ‚erstarrte‘ der Prozess der permanenten Identitätswandlung. Das Gefühl der Vollkommenheit (Perfektseins) wurde gestört, was zur Abwehrreaktion auf der Ebene des Antreibers führte.
Hätte Angela sich eine Stelle gesucht, die ihrer Fähigkeit und ihren Wünschen entsprochen hätte, so wäre sie aus dieser Lebensform der Ausgelieferten herausgetreten. Sie hätte begonnen, eine echte Ich-Du-Beziehung zu entwickeln.
In den nächsten Schritten klärte Angela, dass ihre frühen Entscheidungen, ,Nicht zu fühlen und nicht glücklich sein zu dürfen‘ und ‚perfekt zu sein‘ angemessene Muster waren, sowohl um selber psychisch überleben zu können, als auch um Mutter in dieser Zeit loyal zu sein. Dieser Prozess war getragen von Trauer und Erleichterung.
In dieser Situation ging es um Angela und ihre Berufsklärung, es ging um die individuelle Verarbeitung ihrer Geschichte und es ging ebenso um die Verarbeitung einer nicht bewältigten historischen Not von Geflüchteten und ihren Kindern.
Angela war nicht nur die Person, die in diesem Moment im Raum war, sondern sie war auch die Mutter und die Großmutter, die Dramatisches und Unaushaltbares erlebt und ausgehalten hatten.
Der Prozess befreite Angela, gab aber ebenso den Personen, die vorher beteiligt waren, einen angemessenen und würdevollen Raum. Diese Wiedererlangung von Würde und Sprache der vorigen Generationen war ein notwendiger Teil zur Individuation von Angela. Selbst zu werden im Hier und Jetzt voller Möglichkeiten, das gelang ihr erst durch Anerkennung und Würdigung der Anderen. Die identifizierende Verstrickung, die sie symbiotisch mit ihrer Mutter gelebt hatte, konnte sie damit auflösen und transformieren zugunsten einer anerkennenden und unterscheidenden Beziehung.
Schließlich
Mein Anliegen ist es, auf die strukturelle Vernetztheit von Identität hinzuweisen und verschiedene Ansätze in der transaktionsanalytischen und nicht transaktionsanalytische Theorieentwicklung damit zu verbinden. Die Verbundenheit des Menschen in und mit der Welt ist ein Aspekt, den wir in der Beratung als Teil unseres Menschenbildes und als anthropologische Grundbedingung zur Verfügung haben sollten. Wenn wir diese Grundbedingung klar in unserer Praxis und Theorie integrieren, wird das folgende Beispiel für uns nichts Überraschendes haben:
In einer Schweizer Gemeinde wurden die Einwohner befragt, „ob sie ein atomares Endlager bei sich genehmigen würden, falls das Schweizer Parlament beschlösse, es dort einzurichten, …“.14 Die Befragten stimmten der Anfrage zu 51 % zu. Als ihnen zusätzlich angeboten wurde, dass sie für diese Zusage eine jährliche Ausgleichszahlung bekommen sollten, sank die Zustimmungsquote auf 25 %. Bei Befragungen über diese erstaunliche Veränderung erklärten 83 % derer, die abgelehnt hatten, ihre Entscheidung damit, „dass sie nicht bestechlich seien.“ (ebda.).
Literatur
Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - Ffm 1981
Berne, Eric Was sagen Sie nachdem Sie guten Tag gesagt haben - München 1975
Eagleman, David - Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns - Ffm. 2013
Keupp, Heiner - Identitätsarbeit als Lebenskunst in: Engel, F, Nestmann, F., Die Zukunft der Beratung - Tübingen, dgvt Verlag 2002
Petzold, Hilarion - discourses of freedom”, Polyloge – Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit - Düsseldorf/ Hückeswagen, Internetpublikation, 2002b
Rasche, Jörg - Das Lied des grünen Löwen – Musik als Spiegel der Seele - Düsseldorf 2004
Rudolph, Peter Everything keeps changing: Counselling, identity and society in IAT Journal 1-2-2017
Sandel, Michael ‚Moral und Politik – Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft‘ - Berlin 2015
Schneider, Dr. Johann - Das dynamische Handlungspentagon - ZTA 1/2006
Sedgwick, James M. - Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World - Oxon, 2021
Sell, Matthias- Beziehungsformen als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen - ZTA, 2/ 2009
Stahl, Stefanie - Das Kind in dir muss Heimat finden - Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme - München 2015
Fußnoten
1. ‘Everything keeps changing: Counselling, identity and society’ Peter Rudolph, in IAT Journal 1-2-2017
2. “discourses of freedom” Petzold, H., Polyloge – Materialien aus der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/ Hückeswagen, Internetpublikation, 2002b, S. 703. „Das Lied des grünen Löwen – Musik als Spiegel der Seele“ Rasche, Jörg, Düsseldorf 2004
4. Keupp, Heiner, Identitätsarbeit als Lebenskunst, in: Engel, F, Nestmann, F., Die Zukunft der Beratung, Tübingen, dgvt Verlag 2002, S. 51
5. Zum Beispiel: ‚Das Kind in dir muss Heimat finden - Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme‘, Stefanie Stahl, München 2015
6. Das dynamische Handlungspentagon, Dr. Johann Schneider, ZTA 1/2006, S.15f
7. "‘Contextual Transactional Analysis - The Inseparability of Self and World’, James M. Sedgwick, S. 24, 2021 Oxon „Zu behaupten, dass ein klarer Punkt gefunden werden kann, an dem wir enden und die Welt beginnt, ist weder möglich noch notwendig, um uns selbst zu verstehen, auch wenn die tief verwurzelten Gewohnheiten der klinischen Theorie es so suggerieren mögen. ... Wenn wir die Grenzen wegnehmen, müssen wir Autonomie anders verstehen."Übersetzung PR
8. Beziehungsformen als ein Element konsequenter transaktionaler Denkweisen, Sell, Matthias, ZTA, 2/ 2009
9. Ebda. S. 106 ff.
10. ‚Was sagen Sie nachdem Sie guten Tag gesagt haben‘, Berne Eric, München 1975, S. 26
11. ‚Ökologie des Geistes‘, Gregory Bateson, Ffm 1981, S. 350
12. Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, Eagleman, David, Ffm. 2013, S. 11
Peter Rudolph
Dipl. Sozialwissenschaftler / TSTA – Co. / Am Korsorsberg 100 a 26203 Wardenburg, Deutschland
Oldenburger Institut für Weiterbildung, Beratung und Psychotherapie

peter.rudolph@ewetel.net