artikeljanuar2022

Strukturelle Paar- und Familienberatung und Transaktionsanalyse

© Jürg Grundlehner
Autor: Jürg Grundlehner | Bevor ich die TA kennen lernte, habe ich mich am 2-jährigen Lehrgang an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich in systemischer Beratung weitergebildet. Später wurde mir bald einmal bewusst, wie sich die beiden Lehren wunderbar ergänzen.

Die klassischen transaktionsanalytischen Modelle orientieren sich an der Primärfamilie, aus der im Individuum Grundüberzeugungen über sich selbst, die andern und das Leben schlechthin wachsen und mit in die Gegenwart wirken. Und diese Gegenwartsrealität kann ich in der Beratung mit Paaren und Familien direkt miterleben. Die Systemische Paar- und Familienberatung ist daher gegenwartsbezogen. Anhand des Funktionsmodells kann ich die Transaktionen beobachten und unmittelbar eingreifen.

Berne beschrieb bei der Gruppenstruktur die Hauptgrenzlinie (zwischen der Gruppe und der Aussenwelt) und die Nebengrenzlinien (Grenzen zwischen den Gruppenmitgliedern). Er unterscheidet einfache und komplexe Gruppenstrukturen.
Die Familie ist auch eine Gruppe, und man kann die Konzepte der Gruppenstrukturen von Berne übernehmen. Eine einfache Struktur wäre Eltern und Kinder, eine komplexe Struktur wäre zum Beispiel: Vater, Stiefmutter, Kinder der Stiefmutter und Kinder vom Vater.
Hierarchie - dieser Begriff ist leider oft sehr negativ besetzt. Das hat mit eigenen negativ erlebten Erfahrungen zu tun. In Wirklichkeit beschreibt die Hierarchie Verantwortlichkeiten der Rollen und dient der Sicherheit. In familiären Strukturen sind funktionale Hierarchien von grosser Bedeutung. Es ist einleuchtend, dass die Eltern die meiste Verantwortung tragen.
Symbiose 2. Ordnung (---) bedeutet in dieser Familie: es wird versucht, Bedürfnisse der Mutter aus ihrer frühen Kindheit zu befriedigen, welche durch ihre damaligen Skriptbeschlüsse ausgeschlossen wurden. Der Sohn befriedigt also die frühen emotionalen Bedürfnisse der Mutter:
Anhand eines Beispiels aus meiner Praxis möchte ich aufzeigen, wie sich der Prozess vom Ich zum Wir bewegt, wie sich systemische Konzepte und TA ergänzen, wie sich dysfunktionale Gruppenstrukturen in Familien auswirken können und wie sie sich verändern lassen.
Die Familie XY
(Ich nenne den Vater Bruno, die Mutter Ruth, den Sohn Willi)


Erstkontakt mit Bruno
Bruno meldete sich telefonisch; er habe Probleme mit seiner Frau und möchte ein Gespräch. Auf die Frage, ob er seine Frau zum Gespräch nicht mitnehmen wolle, antwortete er, nein, er wolle vorerst lieber allein kommen. Wir vereinbarten ein erstes Gespräch.

Erstgespräch mit Bruno
Bruno erzählte mir: wie seine Frau ihn überhaupt nicht mehr verstehe, wie misstrauisch sie sei und dass sie ihn immer wieder mit Vorwürfen überhäufe. Neulich habe er etwas zu viel getrunken und sich dann entschlossen, auf dem Parkplatz vor einem Restaurant im Auto zu übernachten. Zu Hause habe er dies erklärt, schliesslich sei das ja besser als alkoholisiert zu fahren, das habe ihm seine Frau aber nicht geglaubt. Sie habe angenommen, dass er bei einer anderen Frau war, und schon hätte es wieder Streit gegeben. Dauernd diese Streitigkeiten halte er nicht mehr aus, er gehe jeweils wieder weg und lasse sich dann tagelang nicht mehr blicken. Auch der Sohn, den seine Frau mit in die Ehe brachte, mache ihm Schwierigkeiten, er mache was er wolle, und er als Vater habe überhaupt nichts zu sagen. Ich erklärte mich für eine Beratung bereit, wenn er mit seiner Frau komme und gab ihm meine Unterlagen, um dies mit der Frau zu besprechen. Wir vereinbarten, dass er sich wieder meldet, wenn er diese Angelegenheit mit seiner Frau besprochen hat.

Hypothesenbildung
Es sind strukturelle Probleme vorhanden, wie sie in Stieffamilien gehäuft auftreten. Nämlich, dass zwischen dem leiblichen Elternteil und dem Kind eine symbiotische Beziehung zustande kommt, aus der sich oft eine Koalition gegen den Stiefelternteil bildet. Bruno hat massive Alkoholprobleme entwickelt. Das Aufrechterhalten der Alkoholspiele dient dazu, in der Passivität zu bleiben, anstatt Lösungen zu suchen. Die Vermeidungsstrategien dienen möglicherweise allen Familienmitgliedern und erhalten den Status Quo des familiären Systems, was auch heisst, dass jedes Familienmitglied seine Skriptüberzeugungen nährt und verfestigt.

Erstes Beratungsgespräch mit Ehepaar XY
Ich nahm mir für das 1. Gespräch vor, Vertragsarbeit zu machen und meine Hypothesen zu überprüfen. Ruth erweckte einen sehr misstrauischen Eindruck, vorauf ich sie ansprach. Sie erklärte, dass sie nicht mehr daran glaube, dass ihr Mann wirklich etwas verändern wolle, vielmehr sehe sie in seiner Motivation, in die Beratung zu kommen, eine Alibiübung. Sie habe bereits zum zweiten Mal die Scheidung eingereicht und da habe er jeweils versprochen sich zu ändern, es seien aber leere Versprechungen gewesen, die nur so lange anhielten, bis sie die Scheidung wieder zurückzog. Sie beklagte, dass der Mann zu viel trinke, manchmal tagelang nicht nach Hause käme, und dass sie nur noch Ekel für ihn empfinde.

Kommentar (Einladung zum Gerichtssaalspiel)
Es wurde mir in diesem Gespräch immer unwohler und ich denke, dass dies mit Spieleinladungen an mich zu tun hatte. Es bahnte sich allmählich ein Gerichtssaalspiel an.
Da beide Partner mit der Überzeugung kommen, dass ihre Problemdefinition die richtige sei, versuchen beide, den Berater für sich zu gewinnen und eben als Richter einzuspannen. Ich will nun versuchen, anhand einer kurzen Sequenz von Transaktionen darzustellen, wie Einladungen, in das Gerichtssaalspiel einzusteigen, an mich gerichtet wurden.

(Transaktion 1) Berater zum Bruno: "Ja, hockst du denn in den Beizen rum, weil du es zu Hause nicht schön hast?"

(Transaktion 2) Bruno zum Berater: "Was soll ich sagen, ......ich will dem Streiten ausweichen, ich mag nicht streiten, und......"

(Transaktion 3) Ruth zum Bruno: "Also weisst du, du musst es nicht so hinstellen. Dir ist es dann einfach egal".

(Transaktion 4) Ruth zum Berater: "Ihm ist dann alles egal, er geht dann nicht nur nicht heim, sondern geht dann auch nicht mehr zur Arbeit."

(Transaktion 5) Bruno zu Ruth: "Ich war schon am Arbeiten, ich war nur nicht im Büro, denn bei mir spielt es keine Rolle, ob ich im Büro bin oder nicht, da war ich eben auswärts auf einer Baustelle."

(Transaktion 6) Ruth zum Bruno: "Erzähl doch keinen Unsinn, ich habe nämlich mit Y gesprochen, und ich weiss genau, dass Du nicht gearbeitet hast."

(Transaktion 7) Bruno, die Hände verwerfend an Berater: "Das ist wieder so etwas, das ist etwas, das mich rasend macht, wenn sie sagt ich hätte nicht gearbeitet. Ich habe nämlich immer 3-4 Baustellen zu betreuen, und sie kann ja gar nicht wissen, welche ich besuche. Ich weiss doch selbst, was ich tue. Auch wenn sie manchmal etwas felsenfest behauptet, das sie gar nicht wissen kann, dann bekommen wir zum Beispiel Streit, nur weil sie von ihrer Sicht dermassen überzeugt ist. Dann müsste ich im Prinzip lügen nur damit es nicht Streit gibt. Das ist etwas, was ich nicht begreife."

Kommentar
In der Transaktion 4 sprach mich Ruth auf der Eltern-Ich-Ebene an was eine ähnliche Atmosphäre ergab, wie wenn eine Mutter mit dem Berater über ihren unartigen Jungen spricht. Dadurch wollte sie mir zeigen, dass der Mann das Problem sei. Sie versuchte mich als Richter einzuladen, mich mit ihr gegen ihn zu verbünden. In Transaktion 7 versuchte auch Bruno, mich in die Rolle des Richters einzuladen.
An dieser Stelle möchte ich auf den Begriff «Allparteilichkeit» eingehen.

Allparteilichkeit
Die Arbeit mit Paaren und Familien braucht viel Geschick. Der Berater/die Beraterin muss darauf achten, nicht Partei zu werden. Das heisst, der Berater sollte für alle Teilnehmenden Partei sein und sich in die Bezugsrahmen der Einzelnen einfühlen Die marsische Haltung (Ich komme vom Mars und weiss nicht, was die Menschen hier tun) ist sehr hilfreich, dass sich alle verstanden und gehört erleben. Wenn der Berater Partei nimmt für eine Seite, dann muss er für einen guten Ausgleich sorgen. Gelingt dies nicht, wird die Beratung bald einmal von der Person abgebrochen, die sich nicht genug gesehen fühlt.

Der harte Vertrag mit Ehepaar XY
Es zeigte sich im Verlauf des Gesprächs, dass auch Ruth dazu neigte, in schlechten Stimmungen zu trinken. Wir konnten die Abmachung eingehen, dass beide in den nächsten Wochen ganz auf Alkohol verzichten. Der Vertrag 0,0-Alkoholkonsum für beide war wichtig, damit die Alkoholspiele unterbrochen wurden. Der Nutzen dieser Alkoholspiele war die Vermeidung, andere Problemkreise zu betrachten. Wir konnten den 0,0-Vertrag immer wieder erneuern und er wurde meines Erachtens eingehalten. So konnten wir vereinbaren, dass beide Partner nach unerledigten Geschichten suchten, sie aufschrieben und in je einen Briefumschlag versorgten. Diese unerledigten-Geschichten-Umschläge wurden dann nach Prioritäten nummeriert und jeweils an die Sitzungen mitgenommen. Auf diese Weise konnten wir allmählich auf die unter den Alkoholspielen verborgenen Problemkreise kommen.
Entscheidend wichtig war auch, dass das Paar während 30 Stunden an einer TA-Selbsterfahrungsgruppe teilnahm und dort an individuellen und Paar-Themen arbeitete.

Lebensgeschichtlicher Hintergrund von Ruth
Ruth ist 33 Jahre alt. Sie wurde als Älteste von 3 Kindern geboren und musste sehr früh Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen. Die Eltern betrieben zusammen ein kleines Geschäft und konnten daher wenig Zeit für die Kinder aufbringen. Ruth konnte sich erinnern, dass sie von der Mutter auch immer wieder den Leuten vorgezeigt wurde, wie vernünftig, verantwortungsbewusst und vorbildlich sie doch sei. Mit 15 Jahren wurde sie schwanger und gebar einen Sohn. Dieses Erlebnis war für sie sehr einschneidend. Sie wurde von der Schule verwiesen und kann noch heute die verurteilenden Blicke gefühlsmässig erinnern. Als sie 16 Jahre alt war, erlebte sie die Scheidung ihrer Eltern. Loyalitätskonflikte kamen nun noch dazu. Sie war auf die Mutter angewiesen, die, während sie einer Arbeit nachging, zum kleinen Sohn schaute. Beide Eltern benutzten sie, um sich gegenseitig gegeneinander auszuspielen. Mit all ihren Ängsten und Nöten fühlte sie sich allein und unverstanden. Aus dem vorbildlichen kleinen Mädchen, das allzu früh erwachsenen sein musste, entwickelte sich eine ängstliche, unsichere junge Frau, die es vermied, unter Leute zu gehen, da sie deren vermeintlich verurteilenden Blicken ausweichen wollte.

Skriptüberzeugungen: Das Leben ist hart, mir steht nichts zu, ich muss nur für die anderen da sein. Ruth sagte an einer Sitzung: "Was hatte ich bis jetzt schon vom Leben? Ich musste vor allem Verantwortung tragen, für andere da sein. Lohnt es sich überhaupt?" Vor einigen Jahren machte sie einen Suizidversuch mit Tabletten.
Lebensgeschichtlicher Hintergrund von Bruno
Bruno ist 43 Jahre alt. Er ist das 5. Kind von insgesamt 8 Kindern. Ausserdem ist er das 1. Kind von der zweiten Frau (komplexe Familienstruktur). In der grossen Familie, die einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete, gehörten finanzielle Probleme zum Alltag. Der Vater griff oft zur Flasche, wenn er nicht mehr über den Berg sah. Über Probleme wurde aber nicht gesprochen. Die Beziehungen waren funktional und distanziert, eher eine Zweckgemeinschaft. Es stand viel Arbeit an und man musste zupacken.

Skriptüberzeugungen: Das Leben besteht aus Arbeit und ich muss schauen, dass ich den Mann stelle, ich darf keine Schwäche zeigen. Der Terminkalender muss stets überfüllt sein.
Tatsächlich kommt es oft vor, dass Bruno morgens bereits um 3.00 Uhr in den Betrieb fährt. Tagsüber ist er dann mit seinen Terminen voll ausgelastet und am Abend schläft er ein, kaum ist er zu Hause.

Beziehung von Bruno zu seinem Stiefsohn Willi: Die beiden gingen sich aus dem Weg, wenn immer es möglich war. Wenn Bruno zu Hause war, suchte Willi das Weite und umgekehrt. An den Wochenenden war Willi meist weg und nicht selten kam er betrunken nach Hause.

Kommentar und Hypothese
Weil ich es in Stieffamilien oft erlebe, dass der leibliche Elternteil eine Koalition mit dem Kind eingeht, was zu massiven Symptomen bei allen Beteiligten führen kann, schlug ich ein erstes Familiengespräch vor. Im Weiteren bildete ich mir anhand der Geschichte von Ruth die Hypothese, dass es sich bei der Beziehungsstruktur zwischen Sohn und Mutter um eine Symbiose 2. Ordnung handeln könnte. Diese Hypothese wollte ich überprüfen.
Beispiele aus zwei Familiengesprächen mit Familie XY


Mit folgenden zwei Beispielen möchte ich zeigen, dass meine Hypothesen zutrafen. Gleichzeitig lässt sich daraus erkennen, wie ich mit Familien, deren familiäre Struktur dysfunktional ist, arbeite.

Erstes Beispiel
Berater zum Willi: "Du hast gesagt, es seien Spannungen in der Familie wegen deinem Zeugnis und wegen deinen Ausgängen."

Willi zum Berater: "Aber nicht nur wegen mir, nicht nur wegen mir sind Spannungen da."

Berater zum Willi: "Meinst du, es sind auch Spannungen zwischen Mutter und Vater?"

Willi zum Berater: "Vor allem, die Spannungen zwischen ihnen sind viel grösser."

Berater zu den Eltern: "Ist die Einschätzung von Willi richtig?"

Ruth zum Berater: "Von mir aus gesehen schon."

Bruno zum Berater: "Ich sehe es auch so."

Berater zum Paar: "Wenn die Spannungen euch als Ehepartner betreffen, dann gehören sie in die Paarberatung."

Eltern zum Berater: "Ja, sie betreffen uns als Paar und der Willi hat daran keine Schuld."

Berater zum Willi: "Also die Schwierigkeiten, die deine Eltern als Ehepartner haben, werden wir in der Paarberatung bearbeiten, du hast nichts damit zu tun. Du bist allenfalls von der Stimmung betroffen, die dann zu Hause herrscht."

Willi zu Berater: "Ja, und diese ist gegenwärtig sehr aggressiv."

Kommentar
Es ist wichtig die Ebene Paarbeziehung von der Ebene Familie abzugrenzen. Diese Interventionen sollten auch eine gewisse Modellfunktion aufweisen. Es soll deutlich werden, dass es zwischen Subsystemen Grenzen gibt, die zu beachten sind. Symptombildung der Familienmitglieder haben oft mit dem Nichtbeachten dieser Grenzen zu tun.

Zweites Beispiel
Willi zur Mutter: "Ja gut, ich bringe mal ein Beispiel: wenn es dir zum Beispiel schlecht geht, und das kommt oft vor, dass es dir schlecht geht, meistens ist er weg und du sitzt zu Hause und es geht dir schlecht, trinkst ein Glas Wein und bist wirklich am Boden zerstört, dann komme ich zu dir und frage, was ist. Dann haben wir jeweils auch 2-stündige Gespräche miteinander und ich gehe auf dich ein, oder?"

Mutter zum Willi: "Ja, aber dann habe ich dir jeweils einfach mein Herz ausgeschüttet, und da kannst du sehr gut auf mich eingehen."

Berater zum Willi: "Du gehst dann auf deine Mutter ein, wenn es ihr schlecht geht, wenn sie den "Moralischen" hat, wenn sie das Bedürfnis hat, ihr Herz auszuschütten?"

Willi zum Berater: "Ja, ......den "Moralischen" hat sie ziemlich oft, das ist nicht so schlimm, aber wenn das passiert, dass sie bei mir das Herz ausschüttet, dann ist etwas passiert."

Berater zum Willi: "Warum denkst du, geht deine Mutter, wenn sie das Herz ausschütten will, nicht zu deinem Vater?"

Willi zum Berater: "Ich sage ihr das manchmal, sie solle zu ihm gehen aber, ich weiss auch nicht, da sagt sie, sie könne das nicht."

Berater zur Familie: "Was ist denn mit dem Vater?"

Bruno zum Berater: "Wenn sie den "Moralischen" hat ist es wahrscheinlich dann, wenn ich herum hocke, dann kann sie ja nicht mit mir reden, wenn ich nicht da bin. Dann führen wir meistens 2 Tage später ein Gespräch, oder?"

Ruth zum Bruno: "Nein, wir sprechen nicht miteinander, wir streiten miteinander und dann irgendwann gibt es wieder Frieden und dann sprechen wir nicht mehr darüber, so ist es."

Berater zum Willi: "Ich denke schon, dass die Partner die Verantwortung übernehmen sollten, wenn sie Schwierigkeiten und Krisen zu bewältigen haben. Sie haben sich ja auch als Partner gewählt."

Willi zum Berater: "Ja für mich ist es manchmal schwierig, wenn sie mir Sachen über ihn anvertraut und ich sage ja, ja und höre zu, denke, jetzt darfst du ja nichts sagen, auch wenn ich es anders sehe. Am anderen Morgen fühle ich mich dann sehr unbehaglich, wenn ich ihm begegne, da weiss ich kaum, wie ich mich verhalten soll. Wenn sie auch noch anwesend ist, habe ich immer das Gefühl, sie erwarte von mir, ich sollte jetzt etwas Wichtiges sagen."

Berater zum Willi: "Du kommst in eine schwierige Rolle, die dir eigentlich gar nicht zusteht."

Ruth zu Willi: "Also ich habe von dir nie erwartet, dass du etwas zu ihm sagst."

Willi zur Mutter: "Nein, weisst du, wenn du wütend bist über ihn, dann machst du ihn ziemlich schlecht, und dann, wenn ich ihm begegne, und ich habe dir vielleicht recht gegeben, ihm kann ich dann nicht mehr in die Augen schauen, weil ich dir recht gegeben habe und ihm nicht, weil ich mit ihm trotzdem anständig bin und nicht irgendwie reagiere."

Mutter: "Aha!"

Berater zum Willi: "Es entsteht eine gefühlsmässige Verbindung zwischen dir und deiner Mutter, die sich gegen den Vater richtet, und das bringt dich in eine schwierige Situation. Darum glaube ich, dass du dort am falschen Platz bist."

Willi zum Berater: "Schon, aber ich finde es trotzdem wichtig, denn da sind wahnsinnige Spannungen im Haus, die kann ich dann etwas lindern."

Berater zu den Eltern: "Wie ist das für euch, wenn ihr jetzt hört, wie es Willi geht?"

Bruno zum Berater: "Das habe ich gar nicht gewusst, dass das in diesem Rahmen stattfindet."

Ruth zum Berater: "Das habe ich mir gar nicht überlegt, dass er zwischen Stuhl und Bank sitzt, aber jetzt wo er das so sagt, verstehe ich das."

Berater zu Ruth: "Dazu sind sicher Gespräche notwendig, denn viele Dinge werden uns nicht bewusst, wenn wir uns nicht mitteilen."

Berater zum Bruno "Und du hörst das zum ersten Mal?"

Bruno zum Berater: "Ja, dass das in diesem Ausmass stattfand, das war mir nicht bewusst."

Ruth zum Bruno: "Also, dass ich ihm oft mein Herz ausschüttete, und er mich viel unterstützte, das solltest du eigentlich wissen, habe ich dir schon oft gesagt, aber du hörst mir ja nicht zu."

Bruno zu Ruth: "Dass ihr miteinander redet über mich, das habe ich schon gewusst, aber dass er in eine Situation kommt, dass er mir fast nicht mehr in die Augen schauen kann, das habe ich nicht gewusst."

Berater zu den Eltern: "Also es scheint besonders wichtig, dass ihr die Schwierigkeiten der Paarbeziehung bearbeitet. Sonst wird eben euer Sohn in den Paarkonflikt mit hineingezogen und die familiäre Ordnung steht auf dem Kopf."

Willi zum Berater: "Es ist nicht so, dass es für mich so eine riesige Belastung ist, wenn ich meine Mutter tröste, ich mache dies ja von mir aus, gehe auf sie zu und frage, was hast du denn."

Berater zum Willi: "Das glaube ich dir schon, es ist ja sogar möglich, dass du auch ein wenig stolz bist auf diese Rolle, und trotzdem finde ich, dass dies nicht dein Platz ist."

Willi zum Berater: "Ja ich habe auch schon gedacht, jetzt gehe ich nicht, aber dann habe ich oft Angst, dass sie eine Dummheit macht, das hat sie ja auch schon............."

Mutter zum Willi: "Ja, aber das ist schon lange her und das war blöd von mir."

Willi zur Mutter: "Ja, aber einmal ist schon zu viel."

Berater zum Willi: "Also du hast Angst um deine Mutter, und deine Mutter hat Angst um dich."

Willi zum Berater: "Ja, aber meine Angst ist begründet."

Berater zu Willi: "Die Mutter sagt auch, ihre Angst sei begründet. Wahrscheinlich sagt ihr beide dasselbe, nämlich: "Meine Angst ist begründet, aber deine nicht."

Berater zum Bruno: "Bruno, eigentlich bist du sehr wichtig hier, vertausche doch bitte deinen Platz mit dem Platz von Willi."

Bruno setzte sich neben seine Frau und der Sohn an den Platz des Vaters, das wirkte und die Familienmitglieder nahmen war, dass es jetzt viel stimmiger ist.


Kommentar
Die Sitzordnung der Familie gibt wichtige Hinweise auf die informelle Struktur und es ist hilfreich, damit zu arbeiten. Die Veränderung der Sitzordnung hat eine sehr verblüffende Wirkung; diese Interventionstechnik spricht für sich, denn sie ist fühlbar.

Schlussgedanken
Mein Ziel war es, aufzuzeigen wie sich systemische Konzepte und TA ergänzen, wie sich dysfunktionale Familienstrukturen auswirken und wie sie sich verändern lassen.
Die Beratung der Familie XY konnten wir nach einigen weiteren Sitzungen beenden. Es ist ihnen gelungen, die Familienstruktur spürbar zu verändern, was Entlastung für alle Familienmitglieder bedeutete.

Vom «Ich zum Wir»
Zuerst kam der Vater allein. Dann gelang es ihm, seine Frau zu überzeugen mitzukommen - so wurde aus dem Ich ein Wir. Das Wir erweiterte sich, als der Sohn dazu kam. In dieser Familie waren alle Symptomträger. In anderen Familien reagiert oft nur ein Familienmitglied offensichtlich mit Symptomen. Eine lineare Sichtweise führt dann meist dazu, dass dieses Familienmitglied als das Problem betrachtet wird.

Der ganzheitliche Ansatz «Vom Ich zum Wir» zeigt sich ebenfalls bei einer weiteren Tätigkeit von mir. Ich arbeite auch als therapeutischer Mitarbeiter in der «Rose» in Heiden, einer sozialpädagogischen Wohngruppe für Mädchen und junge Frauen. Dort ist die TA zentral – Team, Bewohnerinnen und Eltern werden in den Konzepten geschult. Die systematische Sichtweise (vom Ich zum Wir) zeigt sich schon im Erstgespräch, wenn die Heimleiterin liebevoll darauf hinweist, dass in der Rose die Familie als Patient betrachtet wird, aber nur ein Familienmitglied aufgenommen werden könne. Die übrigen Familienmitglieder seien aber wichtig und eingeladen zu den Workshops und Familiengesprächen. Als Familienberater sehe ich die grosse Entlastung für die Töchter, wenn sie aus der Rolle der Problemträgerin aussteigen können.
Literatur
Salvador Minuchin: Theorie und Praxis struktureller Familientherapie/Lambertus (ISBN3-7841-0148-8)
Eric Berne: Grundlagen der Gruppenbehandlung /Junfermann
(ISBN2-87387-424-5)
Jürg Grundlehner
Dipl. Pflegefachmann Psychiatrie
Dipl. Sozialpädagoge/Heimerzieher
Dipl. Familienberater SYSTEMIS.CH
Transaktionsanalytiker TSTA-C

Praxis in St. Gallen, z.T. in Zürich,
Einzel- Gruppen und Teamsupervision
Einzel- Paar und Familienberatung,
TA-Ausbildungsgruppen

ASTA GmbH
Oberer Graben 42
9000 St. Gallen
www.institut-asta.ch
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artikelfebruar2022

Vom ICH zum WIR – Ein mediativer Weg

Ausgehend von einer abgeschlossenen Mediation in einem Unternehmen möchte ich auf das menschliche Potenzial der mediativen Haltung im Alltag hinweisen.
Abb. 1: Metallplastik im Hafenviertel von La Rochelle (F) - © Roberto Giacomin
Autor: Roberto Giacomin – Wir sitzen vor der Basilika eines französischen Dorfes. Ein holländisches Paar kommt auf uns zu und setzt sich zu uns. Wir kommen ins Gespräch. John praktiziert Aikido. Um es mir zu erklären, sagt er: «Du willst meinen Stuhl?» Er steht schwungvoll auf: «Hier, du kannst ihn haben. Setz dich! - Ich bin nicht wichtig.» Ich erfahre, dass Aikido bei der Lösung von Konflikten zur Anwendung kommt. Er öffnet in einer geraden Haltung Arme und Hände und erklärt mir seine Gebärde. Sie bedeutet: «Ich bin da, offen dich zu empfangen.»

Diese Begegnung hat bei mir nachgewirkt. Wir stehen heute durch Klimawandel, Zerstörung der Biodiversität und subjektive Realitätsvorstellungen vor grossen sozialen Herausforderungen. Können wir unser ICH zugunsten eines WIR zurücknehmen, damit menschliche Entwicklung stattfinden kann? Unter ICH verstehe ich – in Anlehnung an Michael Korpiun u.a. – ein Ego, das von einer Vielzahl von Quellen körperlicher, umweltlicher, gemeinschaftlicher und spiritueller Art beraubt und daher geschwächt ist, Lösungen für die aktuellen Herausforderungen zu entwickeln(1). Unter WIR verstehe ich einen Zusammenschluss von selbstverantwortlichen Individuen, die fern einer einebnenden Ideologie die Fähigkeit haben, über einen achtvollen, verbindlichen Kontakt soziale Herausforderungen zu meistern.

Im 20. Jahrhundert haben viele Formen von Konfliktbewältigung auf eine moderne Art Fuss gefasst. Neben Aikido, Gewaltfreie Kommunikation und Dialog, auch die Mediation. Die Konfliktparteien nehmen dabei in starkem Masse selbstbestimmt an einer gemeinsamen Lösung teil.
Was ist Mediation
Mediation ist für Personen hilfreich, denen eine gemeinsame Basis abhandengekommen ist und diese wieder herstellen wollen. Der schweizerische Dachverband Mediation (SDM) definiert Mediationen als «prinzipiengeleitete Formen der Konfliktklärung, bei der ergebnisoffene, allparteiliche Dritte (Mediator*innen) die Beteiligten darin unterstützen, in Konflikten selbstverantwortlich zu einvernehmlichen Regelungen zu finden»(2). Ziel von Mediationen ist die einvernehmliche Beilegung eines Konflikts.



Eine Mediation läuft grundsätzlich nach der Auftragsklärung und Mediationsvereinbarung in der Regel in aufeinanderfolgenden Phasen ab: Klärung der Bereitschaft für die Mediation (Phase 1), Darlegung der Sichtweisen und Identifizieren der Konfliktthemen (Phase 2), Klärung der Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten (Phase 3), offene und kreative Suche von Lösungsoptionen (Phase 4) und Auswahl der Optionen, Verhandlung und Erstellen einer Vereinbarung (Phase 5). Wenn angebracht und gewünscht kann in einer anschliessenden Phase der Transfer der Vereinbarung in den Alltag sichergestellt werden. Ablauf und Dauer einer Mediation hängen wesentlich von der Komplexität des jeweiligen Falles und der Verhandlungsbereitschaft der am Konflikt beteiligten Personen ab.

Mediation wird in unterschiedlichen Praxisfeldern angewandt: z.B. in Familiensystemen, bei Konflikten in Schulen, bei Erbschaftsangelegenheiten, bei Konflikten im öffentlichen Bereich oder innerhalb von Unternehmen.

Mediation in Organisationen


Bei Mediationen in Organisationen gibt es spezifische Eigenheiten. Typisch ist ein Dreiecksvertrag. Der administrative Vertrag wird mit der zuweisenden Führungskraft geschlossen. Die Mediation beginnt mit einem Übergabegespräch, in dem diese den Auftrag in Anwesenheit der Konfliktparteien an die Mediationsperson übergibt und endet mit einem Rückkopplungsgespräch, in dem die Mediationsperson den abgeschlossenen Auftrag wieder der Führungskraft zurückgibt. Im organisatorischen Kontext ist das Ziel einer Mediation oft, die konstruktive Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Die Beziehungsebene wird folglich an den Punkten bearbeitet, wo sie den Arbeitsablauf stört. Durch den Arbeitsvertrag ist die Freiwilligkeit der Konfliktparteien an der Teilnahme der Mediation eingeschränkt. Die Teilnahme an den Gesprächen ist für die angestellten Personen kaum freiwillig, da fernbleiben gegebenenfalls arbeitsrechtliche Konsequenzen zur Folge haben können.

Beispiel einer Mediation in einem Familienunternehmen


Der Geschäftsleiter eines mittleren Familienunternehmens kommt auf mich zu. Im Team «Hauswirtschaft» gibt es einen Konflikt zwischen zwei Frauen. Seit einem halben Jahr ist Anna die Vorgesetzte von Lisa. Vor kurzem eskalierte ein Konflikt. Lisas erwachsene Töchter warfen Anna in Anwesenheit des Geschäftsleiters Mobbing und Respektlosigkeit gegenüber ihrer Mutter vor. Er ist beunruhigt und will das Problem gelöst haben. Ich gewinne den Eindruck, dass es sich eher um einen hoch eskalierten Konflikt als um Mobbing(3) handelt und nehme den Auftrag an.

Ich treffe mich mit den Konfliktparteien. Die zwei Frauen, die sich auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen befinden, sind Angestellte, die keine Erfahrungen mit Kommunikationstraining oder Ähnlichem haben. Sie begegnen sich distanziert. Da Lisa kein Deutsch und Anna sowohl privat als auch im Betrieb Italienisch spricht, einigen wir uns, Italienisch zu sprechen.

Im Gespräch zeigt sich, dass für Lisa der Anlass des Konfliktes Annas Weigerung war, die gewünschten Ferien anfangs August zu gewähren. In dieser Zeit finden in Lisas Heimatdorf jeweils viele Hochzeiten und Taufen statt. Im weiteren Verlauf des Gespräches folgten von Annas Seite abschätzige Bemerkungen betreffend Lisas mangelnder Akzeptanz der festgelegten Ferienordnung, die diese tief verletzten. Anna habe Lisa ausserdem nicht entgegenkommen können, da im Team weitere Angestellte in der gleichen Zeit ebenfalls Ferien wünschen und diese turnusgemäss vergeben werden.

Anna ist durch den Mobbingvorwurf ebenfalls tief verletzt. Sie trifft sich seither nicht mehr privat mit Lisa und will den Kontakt mit ihr auf eine reine Arbeitsbeziehung reduzieren. Lisa versteht das nicht und will eine Beziehung wie vorher.

Nachdem diese Punkte benannt wurden, will sich Lisa kein zweites Mal mit Anna und mir treffen. Anna hingegen schon. Wenn Lisa ihre Kooperation verweigert, haben Anna und ich keine Chance.

Lisa zeigt sich klein, schwach, hilflos (Opfer-Rolle im Dramadreieck) und geht nicht aus einer konstruktiven Grundposition in die Auseinandersetzung. Lisas Verweigerung wird vom Geschäftsleiter nicht toleriert.

Einbezug von Stakeholdern


Um Bewegung in die Situation zu bringen, treffe ich mich mit Lisa und ihren Töchtern, die bereits ihre Interessen auf der Bühne der Organisation vertreten haben. Wilfried Kerntke nennt die unmittelbar am Konflikt beteiligten Parteien – hier Anna und Lisa - «Protagonisten» und die vom Ergebnis der Mediation betroffen Personengruppen «Stakeholder»(4). Seit Lisa Witwe ist, unterstützen die Töchter ihre Mutter und gehören dadurch zu den Stakeholdern.

Lisa zeigt sich aus der Opfer-Rolle im Dramadreieck wortkarg und überlässt das Feld den Töchtern. Diese disqualifizieren aus der Verfolger-Rolle im Dramadreieck Anna, die Vorgesetze ihrer Mutter. Ich konfrontiere Lisas Spieleinladung, dass sie Anordnungen mit «ja, ja» quittiere, sich dann aber nicht daranhalte. Lisa kann nichts damit anfangen. Die Töchter schützen ihre Mutter aus der Retter-Rolle im Dramadreieck und wehren ab. Da es auf diese Weise keine Bewegung gibt, wechsle ich zu einem andern Konfliktthema.
Ich spreche den kulturellen Bezugsrahmen an und weise darauf hin, dass im Brasilianischen, Annas Muttersprache, ähnliche Worte ein unterschiedliches inhaltliches Spektrum haben. Für italienischsprechende Personen kann dies zu Irritationen führen. Diese Klärung führt zu einem Perspektivenwechsel.

Ein weiterer Punkt ist die Kompetenzklärung der Ferienregelung. Lisas unmittelbare Vorgesetze hat nicht die Kompetenz, jegliche Ferienwünsche zu erfüllen. Eine Option könnte sein, ihren Wunsch in Absprache mit Anna ein nächstes Mal eine Hierarchiestufe höher anzubringen.

Lisa ist seit der Unternehmungsgründung dabei und wird in zwei Jahren pensioniert. Diese Situation eröffnet die Option, die verbleibenden zwei Jahren ihren persönlichen Bedürfnissen anzupassen. Sie könnte zum Beispiel ihre Arbeitszeit reduzieren und diese zusätzlich mit einer grosszügigeren Ferienregelung kombinieren. Eine weitere Option wäre eine vorzeitige Pensionierung.

Wir vereinbaren, dass Lisa mit ihren Töchtern die erarbeiteten Optionen zuerst auf sich wirken lassen, um dann zu entscheiden, welche sie weiterverfolgen möchten.

Der bewusste Perspektivenwechsel und die unterschiedlichen Optionen ermöglichten, dass sie wieder auf den Geschäftsleiter zugehen konnten.

Kulturdiagnose des Unternehmens


Matthias Sell bezeichnet unterschiedliche Beziehungsformen - „Ich-du-Beziehung“, „Ich-es-du-Beziehung“, „Ich-oder-du-Beziehung“, „Nicht-Beziehung“, „Pseudo-Beziehung“ und „erwachsene Ich-du-Beziehung“ - als individuelle Möglichkeiten, mit denen wir uns in privaten oder organisationalen Beziehungen ausdrücken können(5). Martin Thiele und Michael Korpiun haben die genannten Beziehungsformen in Beziehungskompetenzen umformuliert und im Organisationskontext angewendet(6). Alle Beziehungskompetenzen haben ihre Berechtigung und ihren Nutzen. Je nach Betriebskultur werden gewisse bevorzugt und andere vernachlässigt. Diese spezifische Ausprägung, welche die Autoren mit einem Netzdiagramm sichtbar machen, bestimmt die Betriebskultur.
Im oben genannten Familienunternehmen ist die Betriebskultur geprägt durch die Gründerin, die Mutter des Geschäftsleiters, und durch den Geschäftsleiter selbst, der die Organisation in die Differenzierungsphase geführt hat. Sie ist gekennzeichnet (vgl. Diagramm) durch eine überdurchschnittlich ausgeprägte Fähigkeit zu «Nähe und Vertrauen» und mittelmässige Ausprägungen der Fähigkeiten zu «kooperativem Handeln», «Selbstreflexion und Feedback», «Abgrenzung und Grenzziehung» sowie zu «Umgang mit Widersprüchen». Die Fähigkeit zu «Auseinandersetzung und Konflikten» ist eher schwach ausgeprägt. Die unten angegebenen Werte im Diagramm entspringen einer subjektiven Einschätzung (Abb. 2).

Rolf Balling bezeichnete eine solche Unternehmenskultur als «Fürsorglichkeitskultur», da sie hier vom fürsorglichen Modus eines Geschäftsleiters geprägt ist. Sie ist verbunden mit Anerkennung (Strokes) für die Bereitschaft der Angestellten zum Konsens (Einnahme eines komplementären kooperativen Modus). Konflikte werden gescheut, weil ein orientierender Modus wenig ausgebildet und eher als beziehungsstörend gesehen wird. Die Arbeitsleistung wird in einer solchen Kultur nicht zentral gewichtet(7).

Abschluss der Mediation


Zum Abschluss einer Mediation sind Informationen, die für die Ablauforganisation wichtig sein können, dem Auftraggeber – hier dem Geschäftsleiter - im Sinn eines Lernprozesses zurückzumelden(8).

Dass der Geschäftsleiter Lisa als langjähriger Mitarbeiterin auch bei ungenügender Leistung selbst in dieser verfahrenen Situation nicht kündigt, würdige ich als menschliche Kompetenz. Negative Konsequenzen sind, dass die Folgen durch das Team und die unmittelbaren Vorgesetzte, hier Anna, getragen werden müssen. Daher ist es empfehlenswert, zurückgemeldete Kritikpunkte über Arbeitsleistung zu prüfen und differenziert anzugehen.

Bezüglich Führungsrolle nehme ich die Tendenz wahr, dass der Geschäftsleiter zu Überfürsorglichkeit neigt. Statt die Retter-Rolle einzunehmen und Lisa in ihrer Opfer-Rolle im Dramadreieck zu bestätigen, ermutige ich ihn, nicht nur Vorschläge aufzunehmen (Achse «Nähe und Vertrauen» im Diagramm), sondern auch in eine sachliche Auseinandersetzung damit zu gehen, Grenzen zu wahren und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten (Stärkung der Achse «Auseinandersetzung und Konflikte» im Diagramm). Dies könnte beispielsweise darin bestehen, dass er die Situation von Lisa erhebt, auswertet und mögliche Massnahmen ableitet.

Anna, die unmittelbare Vorgesetzte von Lisa, wurde durch den Mediationsprozess entlastet und fühlte sich in ihrer Rolle sichtlich gestärkt.

Reflektion


Unterdessen haben die Töchter dem Geschäftsleiter mitgeteilt, dass ihre Mutter nicht mehr arbeiten wolle. Der Geschäftsleiter erkundigt sich regelmässig nach ihrer gesundheitlichen Situation. Dabei ist er mit ihr im Gespräch, wie das Arbeitsverhältnis für beide Parteien zu einem passenden Abschluss gebracht werden kann.

Ich habe die Hypothese, dass Lisa es auf eine Entlassung ankommen liess. Bereits zu Beginn verweigerte sie die gemeinsame Konfliktlösung mit Anna. Wichtige Entscheidungen, die ihre Anstellungen betreffen, überlässt sie den Töchtern. Die Mediation hat jedoch dazu geführt, dass sie selbst entschieden hat, die Arbeitsstelle aufzugeben. Die genauen Formalitäten stehen noch aus.

In einer Mediation hat die Mediationsperson keine Entscheidungsbefugnisse. Sie führt den Prozess und hält den Rahmen, damit ein co-kreatives Drittes entstehen kann. Die mediative Haltung, wie sie in den Berufsregeln für Mediator*innen des Schweizerischer Dachverband Mediation (SDM) zum Ausdruck kommt, ist grundsätzlich nicht an das Format Mediation gebunden.

Abb. 2: Netzdiagramm Unternehmenskultur (nach Martin Thiele und Michael Korpiun, 2016, S. 405)
Mediative Haltung einüben


Mediation ist weniger ein Tun als mehr eine Haltung, eine immer wieder neu herzustellende horizontale, symmetrische und gleichwertige OK-OK-Grundposition zu allen Beteiligten, einschliesslich sich selbst und der Welt gegenüber. Ramita Blume spricht in ihrem Buch über systemische Ethik von einer bewussten «Haltung der Haltung», also einer «Selbsthaltung» (S. 86).(9) Diese Haltung ermöglicht fördernde Handlungen, die auch die Bedürfnisse der andern respektieren und zu ihrem Wohlergehen beitragen.

Wer diese Haltung einnimmt, kann sie in entscheidenden Augenblicken auch bewahren und zeigen. Eine solche vermittelnde Haltung ist menschenfreundlich. Nach Joseph Duss-von Werdt findet sich in unserer Gesellschaft ein noch «ungenutztes Potential an vermittelnder Intelligenz» (S. 192).(10) Dieses Potential, das den Frieden fördert, kann jede Person entwickeln und durch bewusste Entscheidung in sozialen Konflikten aktivieren.

Nur in der Begegnung mit anderen und der Welt können Menschen sich selbst finden. Wer in diesem identifizierenden Eintauchen auch mit sich in Verbindung bleibt, bildet sich. Insofern ist Menschsein Mensch werden. Jede Begegnung, gerade eine konfliktträchtige, hat das Potenzial eigene Konditionierungen (Skript) zu durchschauen und diese bei Bedarf durch Selbstkonditionierung zu ändern.

In Konflikten sind Gefühle und Körperreaktionen bei allen Beteiligten als Erkenntnisquellen über die Konfliktparteien zu verstehen. Beachten und Ansprechen von Gefühlen und Körperreaktionen können ein gegenseitiges Verständnis deutlich vertiefen, da in der Folge zugehörige Bedürfnisse formuliert und eingebracht werden können.(11)

Vermittelnde Praxis beachtet das Einmalige eines jeden Menschen. Menschen sind in ihren «Konstrukten» einzigartig. Andererseits sind Menschen auch gleich. Die Gleichheit bezieht sich auf die Zugehörigkeit zur Menschheit. Trotz Bezugnahmen auf Menschenrechte, die normative Orientierung geben, fehlt es selbst in Demokratien oft am Bewusstsein, dass es den allgemeinen Menschen nicht gibt, nur den konkreten einzelnen.

Zum Lebensleitziel vieler transaktionsanalytisch Tätigen zählt Leonhard Schlegel «Mut und Entscheidung anstehende Probleme anzupacken» und «Mitverantwortung für soziale und umweltliche Probleme» zu übernehmen (S. 493f).(12) Grundsätzlich kann sich jeder mündige Mensch selbst zu Autonomie ermächtigen und Verantwortung übernehmen. Solche Entscheidungen führen zu Engagements. Sie verbinden uns mit anderen Menschen. Dies wirkt wiederum auf unsere Person zurück. Sie führen aus einem isolierten, verlorenen ICH heraus. Speziell soziale und umweltliche Probleme sind ohne WIR kaum lösbar.

Fussnoten
1. Korpiun, Michael, Tchelebi, Nadine & Thiele, Martin (2017). Vom ICH zum WIR: Warum wir ein neues Menschenbild brauchen. Hamburg: BoD.
2. Website des Schweizerischer Dachverband Mediation (SDM)
3. Der Begriff des Mobbings ist im schweizerischen Arbeitsrecht nicht definiert. Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts wird Mobbing als systematisches, feindliches, über einen längeren Zeitraum anhaltendes Verhalten, mit dem eine Person an ihrem Arbeitsplatz isoliert, ausgegrenzt oder gar von ihrem Arbeitsplatz entfernt werden soll, definiert (Entscheid 4A_652/2018 vom 21. Mai 2019). Im Fallbeispiel handelt es sich meiner Meinung nach nicht um Mobbing, sondern um eine ungeprüfte Schuldzuweisung.
4. Wilfried Kerntke (2018). Wie Ziegen und Fische fliegen lernen. Die Entwicklungskraft von Konflikten in Unternehmen. Frankfurt a. M.: Metzner Verlag.
5. Sell, Matthias (2009). Beziehungsformen als Element konsequenter transaktionaler Denkweise. Zeitschrift für Transaktionsanalyse (ZTA), 26 (2), 108 – 115
6. Thiele, Martin & Korpiun, Michael (2016). Wie Beziehungskompetenzen die Entwicklung von Kultur und damit von Organisationen prägen. In Raeck, Hanne & Lohkamp, Luise (Hrsg.). Tore und Brücken zur Welt. Willkommen in bewegten Zeiten (S. 400-416). Lengerich: DGTA.
7. Balling, Rolf (2005). Diagnose von Organisationskulturen. Zeitschrift für Transaktionsanalyse (ZTA), 25 (4), 234-253
8. Dörflinger-Khashman, Nadia (2010). Nachhaltige Gewinne aus der Mediation für Individuum und Organisation. Bern: Haupt Verlag.
9. Blume, Ramita G. (2016). Systemische Ethik. Orientierung in der globalen Selbstorganisation. Göttingen: V&R.
10. Duss-von Werdt, Joseph (2015). Homo mediator. Geschichte und Menschenbilder der Mediation. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.
11. Montada, Leo & Kals, Elisabeth (2013). Mediation. Psychologische Grundlagen und Perspektiven. Weinheim: Beltz.
12. Leonhard Schlegel (2020). Die Transaktionale Analyse. Bozen: DSGTA.
Roberto Giacomin
CTA-E, Mediator SDM-FSM, Supervisor bso, MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Dipl.- Theol., Vorstandsmitglied der DSGTA
Nach Studienabschluss 24 Jahre Gemeindeseelsorger in Leitungspositionen
Seit 9 Jahren Projektleiter für den Bereich Sexualpädagogik und -beratung an der AIDS-Fachstelle St. Gallen
Freiberuflicher Mediator und Supervisor

Brühlwiesenstr. 15b, CH-9545 Wängi
www.roberto-giacomin.ch info@roberto-giacomin.ch
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