Schwerpunktthema

Bericht

Viele Jahre habe ich meine Schamgeschichte erfolgreich verdrängt.
Das Thema Scham hat für mich in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen. Es wurde zu einem zentralen Lebensthema. Aus diesem Grund nahm ich die Einladung der Schweizerischen Grafologischen Gesellschaft sehr gerne an.
Anlässlich eines Tages-Workshop wurde das Thema Scham behandelt. Nach einem spannenden Theorie Input wurden entsprechende Handschriften vorgestellt – so auch meine.
Es kostete mich viel Mut, mich in dieser Runde von mir unbekannten, professionellen Grafologen auf ein Gespräch mit Jürg Schläpfer einzulassen. Ich habe mich der Situation gestellt.
Bereits nach kurzer Zeit konnte ich weitgehend die ganze Runde auszublenden. Dies ermöglichte mir, mich gut zu konzentrieren, um die Fragen von Jürg Schläpfer authentisch beantworten zu können.
Das Gespräch löste in mir Emotionen aus, welche ich für mich rasch einzuordnen vermochte. Somit blieb ich optimal in meiner Kraft.
Meine Schriftprobe mit Unterschrift wurde an die Wand projiziert, damit sie durch diese starke Vergrösserung im Detail analysiert werden konnte.
Spannend war für mich schon die erste Frage von Jürg Schläpfer, in welcher er mich zu meiner Unterschrift befragte. Es ist eindrücklich, was eine Unterschrift aus grafologischer Sicht alles hergibt.
Jürg Schläpfer stellte in meiner Schrift fest, dass ich in meiner Kindheit wohl sehr um meinen Platz kämpfen musste. Dies konnte ich bestätigen. Ich erzählte, wie stark ich mich in meiner Kindheit ausgeschlossen fühlte, und dass ich oft eingesperrt Zeit verbringen musste. So entwickelte ich einerseits meine Schamgeschichte; andererseits bildete sich dadurch auch ein unsicheres ambivalentes Bindungsmuster, welches die Grafologen ebenfalls in meiner Schrift erkennen konnten.
Zudem wurde meine Bannbotschaft ‹gehöre nicht dazu!›, wie auch die entsprechenden Kompensationsmechanismen deutlich erkannt.
Nach dem Gespräch mit Jürg Schläpfer besprachen wir noch meinen Mini-Skript-Ablauf.
Zum Abschluss der Sequenz gaben mir die anwesenden Grafologen ermutigende Rückmeldungen. Unter anderem wiesen sie auf meine starke Lebenskraft und auf meine Resilienz hin. Sie zeigten mir auf, wie ein möglicher Entwicklungsweg aussehen könnte.
Dieser Morgen war für mich eine neue, spannende Erfahrung, und es macht mich stolz, dass es mir gelungen ist, in einer wohlwollenden Runde offen über meine Schamerfahrungen zu sprechen. Dies war für mich ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung ‹innere Befreiung›.
Ich danke speziell Jürg Schläpfer für die Einladung und alle den damals anwesenden Grafologinnen und Grafologen für die Rückmeldungen, und dass ich an diesem Morgen ‹Teil der Gruppe› sein durfte.
S.B.
(Name der Redaktion bekannt)

Schwerpunktthema

Die Geschichte meiner Scham
und der Beginn deren Auflösung

Meine Scham, ich nenne es vor allem Fremdschämen, begleitet mein Leben bis heute (53 Jahre) wie ein Schatten. Ich bin die Jüngste von drei Geschwistern. Meine zwei älteren Geschwister sind geistig behindert. Mein Vater arbeitete als Käser, meine Mutter war sehr durch die Betreuung meiner Geschwister absorbiert. Wir lebten die ersten Jahre abgeschieden. Im Alter von zehn Jahren zogen wir vom Land in eine städtische Umgebung. Bei diesem Umzug erlebte ich eine Konfrontation mit der Aussenwelt, die in mir bewusste Scham, Fremdscham, auslöste. Wir waren anders als andere Familien. Ich habe mich zeitweise sehr für meine behinderten Geschwister geschämt. Sie benahmen sich anders.
Mein Vater wollte, dass meine Schwester gemeinsam mit mir zur Sonntagsschule ging. Dort musste sie wie alle anderen vorlesen, was sie nicht gut konnte. Ich habe ihr dann Wort für Wort eingeflüstert und dabei innerlich gezittert, in der Hoffnung, dass sich niemand über sie lustig machen würde. Meine Geschwister stellten meine Normalität und soziale Zugehörigkeit in Frage. Ich hatte latent Angst, von anderen Kindern ausgegrenzt zu werden. Ich meinte zu wissen, was sie über mich dachten; ‹ich sei zu dumm, zu dick etc.›, und in der Folge würden sie mich als Freundin ausschliessen. Aus diesem Grunde habe ich meine Geschwister möglichst versteckt gehalten. Ich vermied es, mich im öffentlichen Raum mit ihnen sehen zu lassen. Die meiste Freizeit verbrachte ich ausserhalb meiner Familie. Ich nahm nur wenige Freundinnen mit nach Hause. Auch wegen unserer Wohnung mit den alten Möbeln und auch der Einfachheit meiner Eltern wegen schämte ich mich.
Mein Vater arbeitete am neuen Ort in der Kehrichtverbrennung in Schichtarbeit. Manchmal kam er mir auf dem Schulweg, noch schmutzig von der Arbeit, entgegen. Er duschte erst zu Hause. Wenn ich ihn so sah, wich ich ihm aus, ging sogar auf die andere Strassenseite, sodass ich ihm nicht direkt begegnen musste. Als ich 14 Jahre alt war, sagte ich meinem Vater einmal, wie altmodisch er sich kleide, und dass ich mich seiner schäme. Er kaufte sich neue Kleider, die er nicht mehr tragen konnte, weil er in der gleichen Woche tödlich verunfallte. Meine Scham wuchs nun ins Unermessliche, weil ich seinen überraschenden Unfalltod mit meiner Äusserung verknüpfte.
Ich hatte mein Leben lang Angst davor, als ‹Ungebildete› bewertet und deswegen ausgegrenzt zu werden. Das Gefühl, ‹nichts› mitbekommen zu haben, ‹nichts› wert zu sein, veranlasste mich, durch Lernen und Büffeln für mich und meine Herkunftsfamilie Boden gut zu machen.
Die Scham sass extrem tief, und so versuchte ich durch Kompensation dieser zu begegnen und sie abzuschwächen. Ich schloss diverse Ausbildungen ab, las unzählige Bücher, trieb Sport und vieles mehr. So versuchte ich dem Gefühl der Wertlosigkeit durch Leistung einen Wert zu geben und endlich zu den ‹Intelligenten› zu gehören!
Natürlich setzte ich die Messlatte sehr hoch, ich wollte perfekt sein. Es war klar, dass ich mit dieser hohen Zielsetzung immer wieder frustriert wurde.
Gemäss Mini-Skript-Ablauf geriet ich dann jeweils sehr schnell von der Position 1 (Antreiberverhalten), in die Position 2. Da wurden alte Wunden geöffnet. (‹Du gehörst nicht dazu!›) Das war schmerzhaft, weil die dazugehörende Scham, welche ich ja unterdrücken wollte, erneut in Aktion trat.
Ich merke langsam, dass ich die ganze Schamproblematik nicht einfach durch Leistung kompensieren kann, sondern ich muss darüber reden, mich öffnen und mich nicht mehr ‹verstecken›.
Seit einigen Monaten gelingt es mir, offen über meine Ursprungsfamilie zu sprechen, weil mein Bruder wegen einer Erkrankung professionelle Unterstützung braucht. Er und ich haben viel Solidarität erfahren. Soviel Freundlichkeit, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft zu erfahren, hat mich positiv überrascht. Durch das offene, auch öffentliche Kommunizieren löste sich ein Grossteil meines Fremdschämens auf.
Mit viel Mut habe ich mich dieses Jahr einem Gespräch über meine Scham gestellt. Dies nicht nur im Einzelgespräch, sondern vor einer Expertengruppe. Ich liess mich in ein sehr persönliches Gespräch mit Jürg Schläpfer ein. Auf einer weissen Wand wurde meine Handschrift sehr stark vergrös­sert gezeigt. Dieses Offenlegen brauchte Überwindung, und sie diente der weiteren, befreienden Öffnung. Ich bekam nach dem Gespräch grossartige und ermutigende Rückmeldungen aus der Gruppe, was mich sehr bewegte. Damit wurde ein gewisses Ventil geöffnet, und der Druck des unterdrückten Scham-Geheimnisses nimmt nun ab.
Ich merke jetzt sehr genau, dass es nicht Menschen von aussen sind, die mich verurteilen, sondern es sind meine eigenen Denk-Konstrukte, die meine Lebensfreude oft lähmen.
Gegenwärtig lerne ich, unabhängig von der Ursprungsfamilie meine eigene Identität zu finden. Ich will mehr und mehr in der Plus-Plus-Haltung leben, weg von der Minus-Plus-Haltung. Schritt für Schritt weiter gehen, auch im Umgang mit meinen Geschwistern.
Im Buch von Daniel Hell über die Depression las ich einen wichtigen Satz: ‹Sich für andere zu schämen (Fremdschämen) setzt Einfühlung voraus!›
Durch das Zusammensein mit meinen Geschwistern konnte ich viel Sozialkompetenz erwerben. Diese Fähigkeit kommt mir nun in meiner Arbeit als Sozialarbeiterin im Spital zugute. Vom Fremdschämen will ich jetzt wegkommen, weil es meinem Selbstwertgefühl schadet.
M.S.
(Name der Redaktion bekannt)