Schwerpunktthema

Massstab Lebensqualität

Wie wir besser über unsere Zukunft reden können
An welchen Massstäben messen wir die Konsequenzen möglicher zukünftiger Veränderungen? Diese Frage wird immer wichtiger, denn von der Antwort hängen heutige Entscheidungen über den künftigen Kurs ab – im persönlichen Leben ebenso wie bei unserer gemeinsamen Zukunft. Das Lebensqualitäts-Modell von spirit.ch könnte eine attraktive Lösung sein.
Dr. Andreas Giger
spirit.ch


Die Titelgeschichte des Magazins DER SPIEGEL vom 28. Februar 2015 befasst sich unter der reisserischen Schlagzeile ‹Die Weltregierung› mit der Frage, ‹wie das Silicon Valley unsere Zukunft steuert›. Zum Schluss des Artikels werden spannende Fragen aufgeworfen, wie das folgende (leicht gekürzte) Zitat zeigt:
‹Wird nun alles gut, wie sie im Silicon Valley meinen, oder wird alles schlecht, wie die Kritiker das sehen, die ewigen Pessimisten und Warner? Dave Eggers etwa, der Autor von ‹The Circle›, dem wohl meist diskutierten Buch des vergangenen Jahres.
Während die neuen Masters of the Universe das Paradies kommen sehen, beschreibt Eggers bloss eine Hölle, Stück für Stück errichtet, Stein um Stein geschichtet wie ein riesiges digitales Gefängnis. In seinem Roman erfüllen die digitalen Machthaber den Menschen viele Träume – aber sie nehmen ihnen die Freiheit. Sie nehmen ihnen vor allem das Humane.
Eggers beschreibt einen totalen Sieg der Menschheitsbeglücker aus dem Silicon Valley. Dieser Sieg lässt frösteln. Aber hat er recht?
Man muss kein Warner sein wie Eggers und auch kein Prophet wie die Protagonisten aus dem Valley, um zu merken, dass vieles auf dem Spiel steht. Die Freiheit des Einzelnen, sein Recht, nicht effektiv zu sein, das Recht der Gemeinschaft, sich manchen Dingen, die machbar sind, zu verweigern, das Menschliche schlechthin.
Zugleich locken Chancen. Zugleich könnte da eine Zukunft sein, die in vielem tatsächlich besser ist als die Gegenwart. Weniger Verkehrstote sind nun einmal besser als viele. Jeder einzelne Krebstod weniger ist ein Gewinn.
Es sind grosse Fragen, und es sind politische Fragen, die beide stellen – die Optimisten in den Digitallaboren und die Pessimisten wie Eggers. Sie brauchen politische Antworten.
Deshalb ist es entscheidend, dass der Dialog über die Zukunft politisch geführt wird –und nicht mehr nur technisch. Nur wer klare politische Leitlinien hat, ist einigermassen sicher davor, nicht permanent zwischen hysterischer Euphorie und panischem Pessimismus zu wanken.›


Forderung nach Farbe
Gefordert wird hier – zu Recht – eine differenzierte Betrachtung der Konsequenzen der sich beschleunigenden digitalen Revolution. Sie soll nicht simpel zwischen Schwarz und Weiss unterscheiden, sondern auch Grautöne, ja Farben integrieren. Heruntergebrochen auf die Ebene persönlicher Lebensentscheidungen, so schwant uns längst, stehen wir vor derselben Herausforderung.
Eines steht fest: Der bisher dominierende Massstab dafür, ob die Entwicklung in die richtige Richtung verläuft, nämlich der rein materielle, taugt nicht mehr. Ob unsere individuelle Lebensbahn stimmt, kann sich nicht länger daran bemessen, ob unser Einkommen und Bankkonto stetig wachsen, genau so wenig wie die eine Kennziffer des BIP ein tauglicher Massstab dafür sein kann, ob ein Land sich in die richtige Richtung entwickelt.


Bewertungsmassstab Lebens­qualität


Eine weitaus sinnvollere Alternative haben wir auf spirit.ch längst präsentiert: Lebensqualität. Nur wenn sich die Lebensqualität verbessert, sind wir – individuell wie kollektiv – auf dem richtigen Entwicklungspfad. Weshalb wir uns bei jeder Entscheidung überlegen sollten, ob sie voraussichtlich zu einer Verbesserung oder Verschlechterung unserer Lebensqualität führen wird, ob sie ein Plus oder ein Minus auf unserem Lebensqualitäts-Konto bewirkt.
Doch was ist eigentlich Lebensqualität? Die erste Antwort lautet: Das kann nur jede und jeder für sich selbst bestimmen, es gibt keine allgemein gültige Definition. Die zweite: Lebensqualität ist kein einheitliches und eindimensionales Phänomen wie etwa der Lebensstandard, sondern vieldimensional, bunt und vielfältig. Lebensqualität entsteht aus vielen Faktoren.
Was auf den ersten Blick chaotisch erscheinen mag, kann auf den zweiten durchaus seine Ordnung haben. Eine Möglichkeit, in den vielfältigen Komponenten von Lebensqualität ein Muster zu erkennen, ist das Modell der sechzehn Lebensqualitäts-Sphären von spirit.ch. Dieses Modell umfasst alle relevanten Lebensbereiche und verweist auf jene Werte, die uns im Umgang mit uns selbst und mitein­ander mehr oder weniger wichtig sind.
Das sind die sechzehn Lebensqualitäts-Sphären, bei denen jeweils nach der (subjektiven) Bedeutung (wie wichtig ist diese Sphäre für Ihre persönliche generelle Lebensqualität?) und nach der Zufriedenheit (wie zufrieden sind Sie in dieser Sphäre, gemessen an Ihren Idealvorstellungen?) gefragt wird:
Gesundheit (körperlich, geistig, seelisch)
Tun (Arbeit – bezahlte und freiwillige, Aktivität, Kreativität, Leistung, Wirkung)
Beziehungen (Liebe, Familie, Freundschaft)
Lebensfreude (Glück, Genuss, Freude, Abwechslung)
Materie (Einkommen, Besitz, Konsum, Güter)
Stabilität (Tradition, Sicherheit, Kon­trolle)
Raum (Wohnsituation, Wohnort, Mobilität)
Echtheit (Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbständigkeit)
Respekt (im Umgang miteinander sowie mit Natur und Kulturen, Zuverlässigkeit, Treue, Toleranz)
Offenheit (Humor, Optimismus, Intelligenz, Zufriedenheit, Konfliktkompetenz)
Nachhaltigkeit (Umwelt-Verantwortung gegenüber nächsten Generationen, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Menschenrechte)
Zeit (Integration von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Lebens-Tempo, Oasen im hektischen Zeitstrom)
Eigenes (Selbstverwirklichung, Treue zu sich selbst, Unabhängigkeit, Lebensgestaltung nach eigenen Werten, Selbst-Kompetenz)
Reifung (im Reinen mit sich sein, ständiges Dazulernen, Selbst-Bewusstsein, Vertrauen in inneren Kompass, Weisheit)
Sinn (Lebens-Sinn, Sinn-Quellen, Naturerleben, Spiritualität, Religion)
Lebens-Kunst (Sinn für das richtige Mass, Balance zwischen Lebensbereichen, Integration aller Lebensqualitäts-Sphären)


Differenzierung nach Sphären


Schon ein kurzer Blick auf die sechzehn Lebensqualitäts-Sphären zeigt, dass wir damit das geforderte differenzierte Betrachtungs- und Bewertungssystem zur Verfügung haben. Bei der eingangs gestellten Frage, wie sich die digitale Revolution auswirken wird, können wir diese jetzt aufteilen und uns die Auswirkungen auf jede einzelne Sphäre überlegen.
Das kann und wird zu unterschiedlichen Antworten führen. Möglicherweise kommen wir zum Beispiel tatsächlich zum Schluss, die Auswirkungen der digitalen Revolution auf unsere Gesundheit seien insgesamt positiv. Ob das auch für die Sphäre ‹Eigenes› gilt, ist dagegen eher zu bezweifeln.Ich überlasse es Ihnen, dieses Fragenspiel auf alle Lebensqualitäts-Sphären auszudehnen. Zugegeben, das ist eine anspruchsvolle Herausforderung, zumal es zusätzlich zu differenzieren gilt zwischen den Auswirkungen einer Entwicklung auf das eigene Leben und jenen auf die ganze Welt. Doch der Aufwand lohnt sich: Nur so entwickelt sich der geforderte innere und äussere Dialog über unsere Zukunft, der sich nicht in Schwarz-Weiss-Gegensätzen erschöpft, sondern mit differenzierten Argumenten geführt wird.


Unter einem Hut


Führt diese Aufteilung in einzelne Sphären bei der Betrachtung von Lebensqualität nicht zu einer heillosen Zersplitterung? Der Einwand scheint zunächst berechtigt. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen, dass dabei widersprüchliche Bewertungen herauskommen können. Was tun wir etwa mit dem Ergebnis, die digitale Revolution wirke sich auf die einen Lebensqualitäts-Sphären positiv aus, auf die anderen dagegen negativ? Wie bringen wir das alles unter einen Hut?
Das Lebensqualitäts-Modell von spirit.ch, das ja nicht am Schreibtisch entstanden ist, sondern auf der Grundlage umfangreicher empirischer Studien, liefert eine Antwort: Eine Lebensqualitäts-Sphäre ist den übrigen fünfzehn gleichsam übergeordnet, nämlich die Sphäre ‹Lebens-Kunst›, in der es um den Sinn für das richtige Mass, um die Balance zwischen den Lebensbereichen und um die Integration aller Lebensqualitäts-Sphären geht.
Das ist tatsächlich eine Kunst, oder besser ein Kunsthandwerk, das sich mit einiger Übung erlernen lässt, von Individuen ebenso wie von ganzen Gemeinschaften. Wir sind sehr wohl fähig, die verschiedenen Aspekte von Lebensqualität unter einen Hut zu bringen.


Intuitive Einschätzung


Diese Fähigkeit zeigt sich in einem erstaunlichen Phänomen: Die meisten Menschen sind in der Lage, ihre eigene Lebensqualität als Gesamtheit in einer einfachen Zahl zwischen 0 und 100 auszudrücken. Das ist eigentlich paradox, denn üblicherweise lässt sich eine Qualität nicht quantifizieren. Der Trick bei unserem Lebensqualitäts-Index ist ganz einfach: Es gibt keinen allgemein gültigen Massstab für Lebensqualität. Dieser Massstab wird vielmehr subjektiv geeicht, indem die eigenen Idealvorstellungen von Lebensqualität mit dem Wert 100 gleichgesetzt werden. Wie weit man von diesem Ideal entfernt ist, lässt sich dann offensichtlich leicht einschätzen.
Damit haben wir einen intuitiven Massstab für die Auswirkungen künftiger Entwicklungen: Verbessern diese unsere Lebensqualität insgesamt, werden wir sie begrüssen, verschlechtern sie dagegen unsere Lebensqualität, werden wir sie ablehnen. Betrifft eine solche Entwicklung nur unser persönliches Leben, sind wir frei, die Konsequenzen aus dieser intuitiven Bewertung zu ziehen. Sind viele betroffen, haben wir für den dann dringend erforderlichen Dialog zumindest eine einheitliche Gesprächsgrundlage.
Dabei ist Intuition kein Gottesgeschenk, das aus dem Nichts kommt. Unsere Intuition wird vielmehr umso besser, je mehr und je bessere Informationen unbewusst verarbeitet werden, denn Intuition ist nichts anderes als unbewusste Informationsverarbeitung. Es schadet also nichts, Lebensqualität und ihre einzelnen Sphären gründlich und differenziert zu betrachten. Im Gegenteil: Je stärker wir das tun, desto treffsicherer wird unsere intuitive Einschätzung von Lebensqualität insgesamt.
Über Zukunft reden heisst also über Lebensqualität reden. So einfach ist das – und zugleich offenbar auch so schwer …




Schwerpunktthema

Die Welt im Umbruch

Folgerungen für das Management von Organisationen
Die Welt befindet sich – nicht erst seit wir in der postfaktischen Zeit mit ‹alternative facts› konfrontiert sind – im Umbruch. Zunehmende Komplexität führt zu einem Verlust an Steuerungsmöglichkeiten.
Es braucht ein anders ausgerichtetes Management. TA-Konzepte können dazu einen Beitrag leisten.
Dr. Michael Weber
wb@webermanagement.ch


Die Welt der Organisationen verändert sich grundlegend
Die Welt von heute ist zunehmend geprägt von Organisationen, die ihre Aufgaben in einem Umfeld erfüllen müssen, das sich grundlegend verändert hat. Die Zukunft wird immer unsicherer und weniger prognostizierbar. Weder die Entwicklung der Nachfrage, noch der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen oder der Zinssituation sind vorhersehbar, um nur einige Beispiele zu nennen. Einzig eines scheint sicher: Der Wettbewerb nimmt weiter zu, die Margen sind ständig unter Druck und Entscheidungen werden schwieriger. Zudem lassen sie sich häufig nicht mehr rückgängig machen.
Aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen, besser ausgebildeten und selbstbewussten Mitarbeitenden, einem rasanten technischen Fortschritt (Digitalisierung, Logistik etc.) sowie einer voranschreitenden globalen Öffnung der Volkswirtschaften hat die innere und äussere Komplexität, mit denen die Organisationen konfrontiert sind, massiv zugenommen. Kennzeichen dieser Komplexität sind eine explodierende Zahl von Faktoren, die in Entscheidungen einbezogen werden müssen, eine starke Vernetzung dieser Faktoren und eine sich beschleunigende Veränderungsdynamik. Die Zunahme der Ungewissheit mit widersprüchlichen, mehrdeutigen Informationen ist im Alltag eher die Regel als die Ausnahme.
Die Komplexitätsforschung zeigt, dass das Verhalten komplexer Systeme grundsätzlich nicht vollständig erfasst, analysiert und gesteuert werden kann (vgl. z.B. Büttner 2001, Malik 1996).Die benötigte Zeit für das Finden und Umsetzen von Entscheiden nimmt zu, während gleichzeitig die zur Verfügung stehende Reaktionszeit aufgrund der Dynamik abnimmt (Weber 2002). Viele Führungskräfte fühlen sich angesichts dieser Situation überfordert und paralysiert.
Konsequenzen für das Management
Die geschilderte Ausgangslage hat Konsequenzen für das Management von Organisationen: Die seit dem 20. Jahrhundert entwickelten Konzepte und Instrumente zur Gestaltung, Lenkung und Entwicklung von Organisationen erweisen sich für die neue Welt zunehmend als dysfunktional. Neue Ansätze für ein zukunftsgerichtetes Management von Organisationen sind gefragt. An Vorschlägen dafür mangelt es nicht. Vieles davon ist allerdings alter Wein in neuen Schläuchen. Im Folgenden wird versucht, einige grundsätzliche Gedanken für ein zukunftsgerichtetes Management von Organisationen darzulegen und auch Folgerungen für den Einsatz von Instrumenten abzuleiten.
Als Erstes ist festzuhalten, dass den direkten Einflussmöglichkeiten des Managements mit der zunehmenden inneren und äusseren Komplexität der Organisationen immer engere Grenzen gesetzt sind. Je weiter hierarchisch entfernt eine Organisationseinheit von der Führung ist, desto mehr ist sie nur noch eine ‹Black Box› (Christopher 2007). Für ein ‹Micro-Management› von weit oben fehlen den Führungskräften die notwendigen, kontextbezogenen Informationen und das entsprechende Handlungsrepertoire (vgl. z.B. Beer 2008). Im Weiteren braucht es aufgrund der Komplexität einen anderen Umgang mit der inhaltlichen Ausrichtung der Organisationen. Die früher so bewährte einfache Fortschreibung der Vergangenheit in die Zukunft funktioniert heute nicht mehr. Angesichts der Ungewissheit der Zukunftsentwicklung ist es auch gefährlich, weiterhin eine ausschliesslich an Effizienz orientierte Sichtweise einzunehmen. Das kann in einem stabilen wirtschaftlichen Umfeld funktionieren. In einem turbulenten Umfeld birgt das aber hohe Risiken. Alles auf eine Karte zu setzen, kann zwar hocheffizient sein, ist aber gefährlich, wenn die zugrunde gelegten Planungsannahmen nicht eintreffen.
Zweitens ist wichtig, dass sich die Führungsauffassung der Vergangenheit (Ausrichtung auf einen starken Macher, Trennung von Denken und Ausführung etc.) künftig kaum mehr bewähren wird. Die Führungskräfte sind stärker als früher angewiesen auf die aktive, konstruktive Mitarbeit der Geführten (vgl. z.B. Kruse 2013). So gesehen nimmt die Macht der Führungskräfte in komplexen organisatorischen Ausgangslagen markant ab (vgl. z.B. Bentele/Weber 2015). Der Einbezug der Mitarbeitenden, gute Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen gewinnen an Bedeutung. Dazu kommt, dass alle Mitarbeitenden den Sinn ihrer Arbeit verstehen und teilen wollen.
Drittens ist zu beachten, dass wir Menschen aufgrund unserer Wahrnehmungsfähigkeit nicht die Möglichkeit haben, unsere Umwelt unmittelbar und objektiv zu erfassen. Was wir wahrnehmen und für wahr halten, ist immer subjektiv (Wüthrich et al 2008).
Wo kann angesichts dieser Ausgangslage angesetzt werden? Hier scheinen insbesondere drei grundsätzliche Stossrichtungen zielführend sein:
1. Gestaltung von geeigneten Rahmenbedingungen, die die Führung von Organisationen mit hoher innerer und äusserer Komplexität erlauben. Im Zentrum stehen hier Metasteuerung und Förderung der Selbstorganisation.
2. Inhaltliche Ausrichtung der Organisation nach Prinzipien, die den Umgang mit Turbulenzen erleichtern.
3. Bewusstes Selbstmanagement und Gestaltung der Beziehungen zwischen den Menschen in der Organisation, die berücksichtigen, dass Menschen die Realität subjektiv wahrnehmen und dass einzelne Führungskräfte die hohe Komplexität nicht mehr alleine bewältigen können.
Metasteuerung und Selbstorganisation
Eine der wichtigsten Aufgaben des Managements von Organisationen wird künftig sein, geeignete Rahmenbedingungen zu gestalten. Das heisst, das Management engagiert sich weniger im operativen Tagesgeschäft (Arbeit im System), sondern konzentriert sich vermehrt auf die Gestaltung des Rahmens: Arbeit am System (vgl. dazu z.B. Malik 1996, Kaduk et al 2013).
Das heisst, das System Organisation ist so zu gestalten, dass es nicht ‹aus den Schuhen kippt›, wenn Unvorhergesehenes eintritt und dass die Organisation genug offen ist, um neue Chancen zu erkennen und zu nutzen.
Konkret geht es dabei insbesondere um die aktive Auseinandersetzung mit Zwecken, Zielen, Aufgaben und Werten der Organisation. Damit wird ein Rahmen gestaltet, der Klarheit über die Grundidee und die Grundbedingungen der Organisation schafft. Gleichzeitig lässt er Spielraum für den Umgang mit dem Unerwarteten. Der klare Rahmen hilft den Akteuren in der Organisation bei der Entscheidungsfindung, ohne dass jede Entscheidung von den obersten Ebenen getroffen oder abgesegnet werden muss.
Auf der Basis eines so geklärten Rahmens können sämtliche Aspekte der Organisation so gestaltet werden, dass eine möglichst weitgehende Selbstorganisation der Einheiten und der Mitarbeitenden ermöglicht wird. Zu diesem Zweck gibt es ausgezeichnete Hilfsmittel wie beispielsweise das ‹Viable Sytem Model› von Stafford Beer (vgl. z.B. Christopher 2007, Malik 1996).
Auf Turbulenzen vorbereiten und mit Neuem experimentieren
Was die inhaltliche Ausrichtung von Organisationen betrifft, so ist es sinnvoll, zwei unterschiedliche Blickwinkel zu unterscheiden: Einerseits geht es um die sorgfältige Pflege von Erfolgspotenzialen, die die Organisation heute erfolgreich machen. Andererseits ist die Suche und Erschliessung neuer Erfolgspotenziale, die die längerfristige Lebensfähigkeit der Organisation sichern sollen, unbedingt nötig (Gälweiler 1990). Vereinfacht gesagt, kann man das auch als ernten und säen bezeichnen.
Aber was heisst das konkret, wenn das wirtschaftliche Umfeld eben nicht absehbar ist, wenn ich nicht weiss, welche unerwarteten wirtschaftlichen Ereignisse eintreten und was künftig erfolgversprechend sein wird? Zwei Handlungsfelder sind dabei für die inhaltliche Ausrichtung einer Organisation wichtig:
a) Die erfolgreichen Teile des bestehenden Geschäfts sind mit Blick auf bestehende Risiken zu analysieren. Es gilt zu ergründen, bezüglich welcher Risiken die Organisation im Fall wirtschaftlicher Schocks besonders verletzlich ist. Daraus lassen sich Massnahmen zur Risikovermeidung, -reduktion oder zum Risikotransfer ableiten. Die bestehenden Erfolgsgrundlagen werden damit gepflegt und gestärkt. Ein Aspekt ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: Die Zeiten ausschliesslicher Konzentration der strategischen Bemühungen auf Fokussierung des Geschäfts und auf Effizienz sind vorbei. Wenn man nicht weiss, was künftig geschehen wird, können mehrere Standbeine und auch bewusst gestaltete Redundanzen im System lebenswichtig sein. Zu stark fokussierte und zu stark auf Effizienz getrimmte Organisationen sind bezüglich unerwarteter, rascher Veränderungen sehr verletzlich. Das Spannungsfeld zwischen Fokussierung/Effizienz und einer breiteren Aufstellung gewinnt angesichts dieser Ausgangslage an Bedeutung. Für das Abwägen zwischen den beiden Seiten gibt es keine Patentrezepte. Massgebend muss dabei der Blick auf die Möglichkeit der Organisation zum Abfangen wirtschaftlicher Turbulenzen sein. Das ist im Vergleich zu früher postulierten Schwerpunkten in der Managementlehre eine klare Prioritätenverschiebung.
b) Für die Suche nach künftigen Erfolgspotenzialen eignen sich die bisher angewandten Grundsätze und Methoden nur noch bedingt. Es kann gefährlich sein, alles auf eine Option der inhaltlichen Ausrichtung zu setzen, die vorgängig in einem ausgedehnten Planungsprozess bestimmt worden ist. Dabei läuft man Gefahr, ‹alle Eier in denselben Korb zu legen›. Wenn dann die getroffenen Annahmen über die Zukunft nicht eintreten, kann es sein, dass die getätigten Zukunftsinvestitionen vernichtet werden.
Deshalb ist die Suche nach erfolgversprechenden mittel- bis längerfristig wirksamen Erfolgspotenzialen viel stärker als bewusster Prozess von Versuch und Irrtum zu gestalten. Auf der Basis von klar definierten Zwecken, Zielsetzungen, Aufgaben und Werten (Metasteuerung) gilt es, eine Auswahl von verschiedenen Optionen der inhaltlichen Ausrichtung zu entwickeln und im Sinne von Experimenten in der Realität auszutesten – meist zuerst mit beschränkten Mitteleinsatz (z.B. Pilotprojekte). Diejenigen Experimente, die sich im Testumfeld – insbesondere im Markt – als erfolgreich erweisen, werden dann mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet. Die nicht erfolgreichen Projekte werden so früh wie möglich abgebrochen. Ein rascher und intensiver Such- und Lernprozess ist die Folge eines solchen Vorgehens.
Wer so handelt, muss sich auf den Vorwurf gefasst machen, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen aufgrund mangelnder Fokussierung verzettelt werden und nicht die höchste Effizienz erzielt werden kann (‹economies of scale›, Produktivität). Das stimmt. Dafür gibt es eine wesentlich höhere Chance, bereits dort mit einem ‹Experiment› aktiv zu sein, wo die Entwicklung hingeht. Damit ist die Unternehmung besser abgesichert für unterschiedliche wirtschaftliche Szenarien.
Das hier beschriebene Vorgehen zur inhaltlichen Ausrichtung der Organisation ist nicht einfach. Für die erfolgreiche Anwendung braucht es ein Bündel von Voraussetzungen (vgl. z.B. Beinhocker 2007, Taleb 2013):
Eingeständnis der Unsicherheit und Unprognostizierbarkeit der Zukunft
Bereitschaft, Lernen und Anpassung höher zu bewerten als Vorhersage und Planung (‹Lernende Organisation›)
Entwicklung eines gemeinsam getragenen Verständnisses der Führung zu Ausgangslage und angestrebten Zwecken/Zielsetzungen
Erarbeitung eines möglichst breit gestreuten Portfolios strategischer Optionen (Experimente, Pilotprojekte) mit unterschiedlichen Sprunglängen (inhaltliche und zeitliche Risikoverteilung)
Ein Selektionsverfahren für die verschiedenen Optionen, das erlaubt, möglichst in Echtzeit mit ‹marktnahen› Kriterien eine Beurteilung der Erfolgschancen vorzunehmen
Stärkung erfolgreicher Optionen durch Expansion und/oder Multiplikation (zusätzliche Ressourcenausstattung)
Konsequente Aufgabe von nicht erfolgreichen Optionen

Die aufgeführten Punkte zeigen, dass die Anwendung einer solchen evolutiven Denkweise für eine Organisation selber ein Lernprozess ist, denn die bisherigen mentalen Modelle und Instrumente sind noch stark verankert. Deshalb wird es für viele Organisationen zuerst darum gehen, auch mit dieser neuen Denkweise zu experimentieren und mit Pilotprojekten erste positive Erfahrungen zu sammeln. Der Lohn dafür ist ein bewusst gestalteter Umgang mit den Unsicherheiten des Umfeldes und eine inhaltliche Ausrichtung, die robuster ist für Risiken und Überraschungen.
Selbstmanagement und Beziehungsgestaltung
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass sich angesichts der aktuellen Ausgangslage von Organisationen auch das Führungsverständnis verändern muss. Die Führungskräfte benötigen erweiterte Kompetenzen aber auch Konzepte und Hilfsmittel, die ihnen bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe Unterstützung bieten können.
In erster Linie geht es darum, ein organisatorisches Umfeld zu gestalten, das den Mitarbeitenden erlaubt, bei ihrer Tätigkeit Sinn zu finden und vertrauensvoll miteinander umzugehen. Das ist nötig, weil Führungskräfte nicht mehr in der Lage sind, die Ausgangslage der Organisation objektiv wahrzunehmen und im Alleingang die richtigen Entscheidungen zu fällen. Es braucht mehr Einbezug von unterschiedlichen Personen mit verschiedenen Per­spektiven, Wissenshintergründen und Erfahrungen. Der Einbezug organisations­interner und -externer Perspektiven ist wichtig. Gerald Hüther spricht von der gemeinsamen Suche nach den besten Lösungen (2015).
Damit das gelingen kann, ist in zwei Richtungen zu denken (vgl. dazu z.B. Bentele/Weber 2015): Einerseits ist es mehr und mehr erforderlich, dass sich Führungspersonen mit sich selbst, ihren Werten, ihrem Menschenbild, ihren Zielen sowie ihren Stärken und Schwächen auseinandersetzen. Sie müssen sich als Person reflektieren und sich selber kennen (vgl. z.B. Drucker 1999). Das ist eine wichtige Basis zum Umgang mit Ambiguität und schwierigen Führungssituationen.
Andererseits braucht es eine bewusste Reflexion und Gestaltung der Beziehungsdynamik in der Organisation. Dazu gehört vor allem auch der Umgang mit schwierigen Führungssituationen. Gemäss Gerald Hüther haben Menschen vor allem zwei Bedürfnisse: Wachsen und dazu gehören. Im organisatorischen Kontext besteht die Herausforderung für Führungskräfte darin, entsprechende Aufgabenfelder und Gefässe zu schaffen, die das ermöglichen (Hüther 2015; ‹Supportive Leadership›: Einladen, ermutigen, inspirieren).
Die Transaktionsanalyse bietet eine Reihe von Konzepten an, die bei der Gestaltung und Entwicklung von Führungsbeziehungen in komplexen Ausgangslagen und bei der Selbstreflexion unterstützend wirken können. Im Folgenden wird eine beschränkte, sicherlich nicht abschliessende Auswahl von Konzepten erwähnt. Diese haben einerseits den Fokus auf die eigene Person der Führungskraft; andererseits sind sie wichtig für die Beziehungsgestaltung.
In Bezug auf die eigene Person hilft der Führungsperson zum Beispiel das Konzept der Grundpositionen, um sich zu hinterfragen und zu überprüfen bezüglich der eigenen Haltung gegenüber sich und anderen. Wichtig in der Selbstreflexion einer Führungsperson ist auch das Konzept der Antreiber. Es hilft, zu erkennen, welche Themen in Stresssituationen schwierig werden könnten. Zudem gibt es auch Hinweise, was hilft, um sich in Drucksitua­tionen adäquat verhalten zu können.
Bezüglich Beziehungsgestaltung hilft das Verhaltensmodell der Ich-Zustände situationsangemessenes Kommunikationsverhalten zu gestalten. In Konflikten kann die Sichtweise der Spiele hilfreich sein, um einerseits die Situation zu erfassen aber auch um Wege aus schwierigen Gesprächen oder Verwicklungen zu finden.
Ein weiteres hilfreiches Konzept ist der Bezugsrahmen. Führungskräfte können sich selber bewusst machen, was ihr eigener Bezugsrahmen ist. Zudem ist es wichtig, dass sie sich bewusst sind, dass ihre Vorgesetzten, ihre Kollegen oder ihre Mitarbeitenden andere Bezugsrahmen haben und dass sie Ideen dazu haben, wie sie mit unterschiedlichen Bezugsrahmen umgehen können.
Die erwähnten Konzepte sind hilfreich, um mit der bestehenden Komplexität adäquat umzugehen und um Muster zu erkennen. Ausserdem unterstützen sie auch dabei, angemessene Lösungsansätze oder Möglichkeiten im Umgang mit anspruchsvollen Führungssituationen zu finden. Und nicht zuletzt helfen sie Führungspersonen, sich selbst zu reflektieren und eine gute Balance zwischen all den oben erwähnten Anforderungen zu entwickeln.
Fazit
Trotz einem massiven Verlust an Steuerungsmöglichkeiten ist Management auch in Zukunft möglich und nötig, um die Lebensfähigkeit von Organisationen zu sichern. Die Prioritäten des Managements verändern sich aber grundsätzlich. Arbeit am System und an Beziehungsdynamiken gewinnen an Bedeutung. Besonders wichtig ist dabei eine bewusste und aktive Verbindung zwischen Organisation und Person sowie zwischen Hardfacts und Softfacts (Wilber 2001, Balling 2005).
Abschliessend gilt es noch einen Punkt besonders hervorzuheben: Die bisher eingesetzten Führungsinstrumente und -methoden verlieren zwar ihre Funktion als Lieferanten von eindeutigen, richtigen Antworten für das Management (‹Wahrheitslieferanten›). Das heisst aber nicht, dass sie nicht mehr nutzbringend eingesetzt werden können. Ihr Einsatz kann weiterhin sinnvoll sein, wenn sie mit einem anderen Charakter gesehen werden. Sie entwickeln sich immer mehr in Richtung Hilfsmittel, die den Dialog in Organisationen katalysieren und Informationen strukturieren helfen.
Literatur zum Text:
Balling R. (2005): Das Doppel-Spagat-Modell – die ganze Landschaft der Beratung. Handout.
Beer S. (2008): Diagnosing the System for Organizations. Malik Edition.
Beinhocker E.D. (2007): Die Entstehung des Wohlstands – Wie Evolution die Wirtschaft antreibt. mi.
Bentele M., Weber M. (2015): Macht und Komplexität – Führung verändert sich. info eins 15, S. 28 – 31.
Büttner S. (2001): Die kybernetisch-intelligente Unternehmung: Strukturen, Prozesse und ‹Brainpower› im Licht der organisationalen Komplexitätsbewältigungs-, Anpassungs-, Lern- und Innovationsfähigkeit. Haupt.
Christopher W.F. (2007): Holistic Management: Managing What Matters for Company Success. Wiley.
Drucker P. (1999): Management im 21. Jahrhundert. Econ.
Gälweiler, A. (1990): Strategische Unternehmungsführung. Campus.
Hüther G. (2015): Etwas mehr Hirn bitte – Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. V&R.
Kaduk St., Osmetz D., Wüthrich H.A., Hammer D. (2013): Musterbrecher – Die Kunst, das Spiel zu drehen. Murmann.
Kurse P. (2013): Die Führungsmacht ist erschüttert – Interview mit Netzwerkforscher Peter Kruse. managerSeminare, Heft 190, Januar 2014.
Malik F. (1996): Strategie des Managements komplexer Systeme – Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer System. 5. Auflage. Haupt.
Taleb N.N. (2013): Antifragilität – Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. Knaus.
Weber M. (2002): Strategisches Management in kleinen und mittleren Unternehmungen im schweizerischen Agribusiness. ETH Zürich.
Weber M. (2013): Strategiefindung in unsicheren Zeiten – sich auf Turbulenzen vorbereiten und mit Neuem experimentieren. Fachbeitrag.
Wilber K. (2001): Ganzheitlich handeln – Eine integrale Vision für Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Spiritualität. Arbor.
Wüthrich H.A., Winter W., Philipp A.F. (2008): Die Rückkehr des Hofnarren – Einladung zur Reflexion, nicht nur für Manager. Gellius.