„Die Frage, ob die Gewerkschaften überleben werden, ist in gewissem Sinne eine Frage „auf Leben und Tod", denn wenn die Gewerkschaften sterben sollten (was eher unwahrscheinlich ist), dann würden damit auch die soziale Gerechtigkeit, die Würde des Arbeitnehmers, die von ihm errungenen Rechte und sozialen Absicherungen einer mehr als unsicheren Zukunft entgegen gehen. Dies würde, um den Faden weiterzuspinnen, eine der großen Errungenschaften der demokratischen Gesellschaft, den sozialen Frieden, schwer belasten und die Allgemeinheit um Jahrzehnte in ihrer positiven Evolution zurückwerfen.
Wir brauchen uns nichts vorzumachen: Keine Gesellschaft bisher hat von sich aus, also freiwillig, Rechte an die weniger begüterten Schichten abgetreten. Um jedes einzelne Recht musste gerungen werden, und meistens ist es dabei zu Kompromissen gekommen. Auch das wichtigste Element, die Bereitschaft zum Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ist nicht als reife Frucht vom Baum gefallen, sondern in langen Jahren erkämpft worden und heute als Sozialpartnerschaft zu einem festen Bestandteil der wirtschaftlich-sozialen Auseinandersetzung geworden. Der Dialog zwischen den Partnern ist von extrem großer Bedeutung. Wo er fehlt, sind weit mehr wirtschaftliche und soziale Probleme festzustellen also dort, wo sich die Akteure der Volkswirtschaft an einen Tisch setzen und die gemeinsamen Probleme – denn um gemeinsame Probleme handelt es sich auf jeden Fall – besprechen und zu lösen versuchen.
Es ist leider eine Tatsache, dass in manchen Ländern der Grad der
gewerkschaftlichen Organisation abnimmt, wobei dies längst nicht immer der Arbeitgeberseite anzulasten ist, sondern viel mehr den Arbeitnehmerorganisationen selbst, welche ihre institutionellen Aufgabenbereiche entweder zu stark mit machtpolitischen Elementen vermischen oder aber nicht imstande waren und sind, mit den neuen Phänomenen der sich weiter entwickelnden Gesellschaft Schritt zu halten. Dazu gehören unter anderem der oft verspätete Abschied vom Klassenkampf, für den in einer offenen demokratischen Gesellschaft kein echter Platz mehr ist, aber auch eine gewisse Entfremdung zwischen den Führungsorganen und der Basis, wie dies des übrigen auch im demokratischen Spiel festzustellen ist, wo sich die Kluft zwischen Politikern und Wählern vergrößert und ein als Politikmüdigkeit bezeichnetes Phänomen auftritt.
Dies im Allgemeinen. Was im Besonderen die Gewerkschaftslage in Südtirol angeht, ist auf die besondere Situation Bedacht zu nehmen, die hier seit Ende des Zweiten Weltkrieges herrscht. Die Südtiroler Bevölkerung hat den Klassenkampf nie gemocht und immer den Dialog vorgezogen. Vielleicht auch unter dem Einfluss der österreichischen Entwicklung ist bei uns die Sozialpartnerschaft als Grundlage eines positiven Auskommens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern anerkannt und praktiziert worden. Hinzu kamen volkstumspolitische und weltanschauliche Beweggründe und ganz einfach die Notwendigkeit, den Wandel der sozialen Struktur von einer vormals sehr stark landwirtschaftlich geprägten zu einer modernen, vielseitig orientierten Gesellschaft mitzugestalten. In diesem Rahmen hat die Gewerkschaft – der ASGB ausgesprochen – eine Sonderrolle erfüllt und entscheidend mitgeholfen, ein neues Bewusstsein, größere Würde und eine tiefere Überzeugung von der Rolle des Arbeitnehmers zu schaffen. Das ist in einer florierenden Wirtschaft sicher leichter als in Krisenzeiten.
Gerade aus dieser Überlegung heraus wird heute und für die Zukunft die Rolle der Gewerkschaft so wichtig. Auf uns alle kommen Probleme zu, die keiner allein lösen kann, weil sie an sich Probleme der gesamten Gesellschaft sind: die Alterung der Bevölkerung, die notwendigen Rentenreformen, die Schaffung von zusätzlichen Altersabsicherungen, die Erhaltung von soliden und angemessen entlohnten Arbeitsplätzen, die Ausbildung, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen Umwelt. Besonderes Gewicht verdient die Qualität der Arbeitsplätze. Billige Arbeitsplätze machen die Gesellschaft nicht reicher, sondern ärmer, weil sie nicht genügend wirtschaftliche Kraft aufweisen, um die sozialen Absicherungen zu garantieren, und weil geringere Einkommen geringere Kaufkraft und somit einen niedrigeren Rückfluss in den Wirtschaftskreislauf bedingen.
Dies alles zu erreichen und zu sichern, erfordert moderne Denkweisen, die aber vom unverrückbaren Grundsatz der möglichst weitgestreuten sozialen Gerechtigkeit nicht losgelöst werden können. Es muss also die Überzeugung bleiben, dass aufgeschlossene Unternehmer und dialogbereite sowie gut organisierte Arbeitnehmer gemeinsam mit einer notwendigerweise immer stärker sozial orientierten Politik die Problematiken der Gegenwart und der Zukunft aufarbeiten. Wenn eine der drei genannten Komponenten fehlt, fehlt die Voraussetzung für eine gute Entwicklung der Gesellschaft. Deshalb liegt es im Interesse aller, dass die Gewerkschaften nicht „sterben", sondern dynamisch weiter leben. Für den sozialen Frieden und für den allgemeinen Wohlstand bleibt eine gut organisierte Arbeiterschaft gegenüber einer ebenfalls gut organisierten Unternehmerschaft – beide mit den demokratischen Grundregeln ausgestattet – eine Garantie für sozialen Frieden und Fortschritt.