2006 gab es für die Südtiroler Arbeiterschaft gute und weniger gute (schlechte) Nachrichten. Um es spannend zu machen, könnte man fragen: Zuerst die gute oder die schlechte Nachricht? Lasst uns mit der guten Nachricht beginnen. 2006 gab es, wie seit bald zwanzig Jahren, in Südtirol eine sehr niedrige Arbeitslosenrate. Unser Land liegt von allen europäischen Regionen (EU-Raum) mit seinen 2,8 Prozent Arbeitslosigkeit an dritter Stelle der Bestenliste. Das ist eine erfreuliche Nachricht. Die Fast-Vollbeschäftigung bedeutet, dass in unserem Land die Wirtschaft „gut geht", dass die meisten Menschen, die arbeiten wollen, auch arbeiten können, dass wir trotz der über 25.000 Personen aus anderen Ländern (Einwanderer), die bei uns arbeiten und die gesamte Sozialstruktur in Anspruch nehmen, eine gute Beschäftigungslage haben.
Hohe Beschäftigungsrate
Das ist eine gute Nachricht und, wie die Bozner Handelskammer aufgrund der vorliegenden Daten errechnet hat, auch ein Grund, für die nächsten Jahre optimistisch zu sein. Trotz aller Hiobsbotschaften über die Nachteile der Globalisierung, über die Konkurrenz von Ländern mit Niedriglöhnen (auch innerhalb der EU, nicht nur Indien, China usw.) hat Südtirol auch 2006 seinen Standort behauptet. Die Qualität der in unserem Land erzeugten Produkte und angebotenen Dienstleistungen wächst, es wächst auch der berufliche und allgemeine Bildungsgrad der Bevölkerung, der Jugend, wir sind, insgesamt gesehen, ein offenes Land.
Südtirols Infrastruktur ist nicht schlecht. Die öffentlichen Dienste, von der Gesundheit (samt ihrer jetzt anlaufenden Reform), angefangen über das Verkehrswesen, die Schulsysteme, die Verteilung des Landeshaushalts, die Wirtschaftsförderung, funktionieren nicht schlecht. Also: Ein verhältnismäßig gutes Jahr 2006? Ja, aber.
ASGB unter Druck
Der ASGB hat 2006 die vielen Vorsätze und Aufgaben, die sein Programm und seine Arbeit ausmachen, mit viel Einsatz seiner Funktionäre und seiner Mitglieder umgesetzt. Er hat an Ansehen und Vertrauen weiter gewonnen. Er hat auch an Mitgliedern zugenommen. Es war harte Arbeit, Arbeit unter oftmals sehr schwierigen Bedingungen. Es waren nicht nur die Auswirkungen des weltweit um sich greifenden Neoliberalismus, die sich bei uns bemerkbar gemacht haben – darüber später – sondern auch einige „hausgemachte" Probleme, die uns sehr zu schaffen gemacht haben.
Eine Existenzfrage
Darunter in erster Linie der Versuch der gesamtstaatlichen Gewerkschaft CISL, die Rolle des ASGB, so wie sie im Rahmen unserer Landesautonomie und des Minderheitenschutzes gewachsen ist, in Frage zu stellen. Dieser Versuch der CISL, beim Landtag das Vertretungsrecht des ASGB als führende deutsche und ladinische Gewerkschaft einer neuerlichen Überprüfung unterziehen zu lassen, hat gezeigt, dass es zwischen den Sprachgruppen noch immer politisch gärt, dass die gesamtstaatlichen Gewerkschaften noch immer nicht positiv zur Kenntnis nehmen, dass die ethnische Minderheit das Recht hat, eine eigene Gewerkschaft zu haben. Gleich wie sie das Recht auf eine eigene Sprache, Schule, Kultur, Tradition, soziale Gesinnung unter Berücksichtigung der hier gewachsenen historischen Gegebenheiten hat.
Eine schmerzhafte Lehre
Wir haben uns gegen dieses Ansinnen der CISL mit allen Mitteln und mit unserer Überzeugungskraft zur Wehr gesetzt, und es hat den Anschein, als sei dieser sozialpolitische Affront vorerst beiseite gelegt worden. Wir sagen es ganz offen: Die Politik hat den ASGB in dieser kritischen Situation zum Teil unterstützt, zum Teil aber auch sich selbst überlassen – und das spricht nicht zugunsten einer ehrlichen und überzeugten Volkstumspolitik, und es war uns eine teilweise schmerzhafte Lehre, die wir uns gut ins Gedächtnis einprägen müssen. Denn wenn die Politik den ASGB nicht als das anerkennt, was er ist, dann heißt das, dass sie die echten Anliegen der deutschen und ladinischen Arbeiterschaft in ihrer nicht nur sozialen, sondern auch politischen und kulturellen Komplexität nicht begriffen hat. Das wäre schwerwiegend.
Der ASGB ist ein Musterbeispiel für den Existenz- und Unabhängigkeitswillen der deutschen und ladinischen Volksgruppe. Sein Gewicht und seine Bedeutung reichen über das rein Gewerkschaftliche, das sicher die wichtigste Basis des ASGB ist, hinaus. Dass der ASGB bereit ist zu kämpfen – für die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein der Südtiroler Arbeiterschaft – hat er gezeigt. Viele haben diesen Kampf auch verstanden und mitgeholfen. Das hat uns als Gewerkschaft gestärkt und unsere Rolle betont.
Auf die Probe gestellt
2006 wurde die Sozialpartnerschaft auf eine harte Probe gestellt, und das ist die zweite nicht gute Nachricht aus dem abgelaufenen Jahr. Hierbei spielt der im Vormarsch begriffene globale Neoliberalismus eine bedeutsame Rolle und Anziehungskraft, der sich auch die Südtiroler Gesellschaft nicht entziehen konnte. Leider ist diese von außen gekommene Weltanschauung aufgrund mehrerer Zusammenhänge missbraucht worden, um die soziale Grundausrichtung und Orientierung unserer Gesellschaft teilweise in Misskredit zu bringen.
Ein unwürdiges Spiel
Wir hatten gedacht, dass das unwürdige Spiel, das die Regierung Berlusconi mit ihrem virulenten Antikommunismus getrieben hat, vorbei sei, weil der Kommunismus seit Jahren auf dem absteigenden Ast ist und in Italien seine Gefolgschaft mehr optisch als substantiell ist – und auch weil die demokratischen Grundfeste des Staates in keiner Weise gefährdet erscheinen. Südtirol hat keine Sympathie für die Altkommunisten von Fausto Bertinotti und auch nicht für die Kommunisten Dilibertos. Unser Land hatte nie Sympathien für die extreme Linke, weil bei uns die christlich-soziale Idee und Grundhaltung ein historisches Erbe darstellt. Diese Grundhaltung kommt seit vielen Jahren auch im Dialog und in der Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern zum Ausdruck, wo der ASGB seit jeher eine Hauptrolle spielt.
Der „neue Kommunismus"?
Im nun zu Ende gehenden Jahr hat sich in unserem Land etwas sehr Bedauerliches getan: Ausgehend von der gesamtstaatlichen Wirtschafts- und Sparpolitik, die von der Regierung der linken Mitte unter Einschluss der linken Parteien eingeleitet wurde und der auch die regierende Mehrheitspartei unseres Landes (SVP) nach langer Diskussion ihre Zustimmung gegeben hat, ist innerhalb von Südtiroler Wirtschaftskreisen die Gefahr eines „neuen Kommunismus" hochgespielt worden. Soziale Forderungen und der Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit wurden als „kommunistisch" bezeichnet, weil sich mit diesem Schlagwort offensichtlich noch immer Stimmung in jenen Teilen der Bevölkerung machen lässt, welche sich schwer tun, die sozialen Verpflichtungen, die aus der Sozialpartnerschaft erwachsen, als den Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit für alle jene zu erkennen und zu akzeptieren, die sich nicht leicht tun. Dies betrifft vor allem die Arbeiterschaft.
Teuerung, knappe Löhne
Es ist eine objektive Wahrheit, dass die Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren stark gestiegen sind, Löhne und Gehälter hingegen nicht oder kaum, und dass sich deshalb Tausende von Familien bedeutend schwerer tun, mit ihrem Einkommen ein halbwegs würdiges Leben zu führen. Dass sie – und für sie auch der ASGB – hier nach einem besseren sozialen Ausgleich verlangen, ist nicht „Kommunismus", sondern Recht auf soziale Gerechtigkeit, wie sie in der christlichen Soziallehre ebenso enthalten ist wie in den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft.
Gefährliches Manöver
Das Heraufbeschwören einer „kommunistischen Gefahr" ist daher im Kern nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern im Gegenteil ein sehr gefährliches Manöver, weil es den sozialen Frieden im Land in Frage stellt und Ausreden glaubhaft machen will, um berechtigten sozialen Forderungen nicht nachkommen zu müssen. Gerade im Zusammenhang mit dem Staatshaushalt 2007 – der einige große und notwendige Sparmaßnahmen beinhaltet (weil die vorangegangene Regierung Berlusconi das genaue Gegenteil von Sparen getan hat) – ist auch in unserem Land ein Keil in die Meinung der Bevölkerung getrieben worden. Das ist nicht gut und stellt eine Belastung für die Entwicklung in den kommenden Jahren dar. Natürlich ist es nicht Anlass zur Freude, wenn höhere Einkommen zusätzliche Steuern bezahlen müssen, während niedrigere Einkommen in bescheidenem Umfang entlastet werden, aber es ist auch eine Tatsache, dass es in Italien eine Steuerhinterziehung von rund 300 Milliarden Euro im Jahr (600.000 Milliarden „alte" Lire) gibt und dass die Hinterziehung fast ausschließlich bei den Einkommen aus nicht lohn- oder gehaltsabhängiger Arbeit vorkommt. Die Arbeiterschaft will nichts anderes als Gerechtigkeit.
Initiativen auf dem Wege
2006 sind in Südtirol wichtige Vorhaben mit großer sozialer Bedeutung angepackt worden, einige wenige davon wurden bereits durchgeführt, anderen sollen noch an die Reihe kommen. Die Sanitätsreform wird mit Beginn des Jahres 2007 anlaufen. Sie soll bei gleich bleibendem (oder gar höherem) Qualitätsstandard der medizinischen Leistungen Einsparungen bringen. Der ASGB stand dieser Reform lange Zeit kritisch gegenüber, willl nun aber der Reform eine Chance geben. Noch nicht weiter gekommen ist die von ASGB schon lange erhobene Forderung nach einer systematischen Pflegevorsorge, einem sehr ernsten und dramatischen Problem, mit dem unsere immer älter werdende Gesellschaft zurecht kommen muss. Hingegen ist die Lehrlingsreform gut angelaufen, und auch die Fortentwicklung der Bildungssysteme – im allgemeinen wie in der Berufsausbildung – lässt sich positiv an. Im Transportwesen werden laufend Initiativen ergriffen, um auf der einen Seite die Belastungen für die Bevölkerung zu verringern, auf der anderen Seite neue Vorhaben (Brennerbasistunnel) voran zu bringen, die Umwelt zu schonen und die Bevölkerung zum Sparen zu bewegen. Die Wohnbauprogramme des Landes gehen weiter, das soziale Netz für jene, die es brauchen, ist stark. Aber es wird im kommenden Jahr und in den folgenden viel Arbeit und Einsatz brauchen, alle guten und notwendigen Vorsätze zu verwirklichen.
Vorsätze des ASGB
Der ASGB hat sehr klare Ziele vor Augen: Die Kaufkraft der Bevölkerung muss erhalten und gestärkt werden, sonst kommt die Volkswirtschaft in eine schwierige Situation. Kaufkraft erhalten bedeutet aber auch, dass Löhne und Gehälter den gestiegenen Lebenshaltungskosten angepasst werden, und das ist etwas, an dem die Sozialpartner in Zukunft sehr hart arbeiten müssen. Die öffentliche Hand muss ihren Einsatz für sozialpolitische Ziele verstärken. Die Arbeiterschaft im breitesten Sinne muss stärker als bisher in die Entscheidungen einbezogen werden, um eine sozial gerechte Welt zu erhalten und weiter zu bauen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen mehr miteinander reden, nicht aneinander vorbeireden, denn die Erhaltung des sozialen Friedens ist Voraussetzung für die Erhaltung des politischen Friedens. Beides, sozialer und politischer Frieden, aber ist unabdingbar für eine gute Zukunftsentwicklung. Und dafür steht der ASGB ein.
Gelebte Sozialpartnerschaft
Der ASGB hat im abgelaufenen Jahr seine Strukturen ausgebaut und erprobt. Er hat zu allen sozialen Fragen Stellung bezogen, und es ist ihm auch gelungen, in der Bevölkerung Verständnis für soziale Entwicklungen zu bilden. Der ASGB hat offen auf den Tisch gelegt, was sich in den vergangenen Jahrzehnten gesamtgewerkschaftlich in unserem Land abgespielt hat und mit welchen Schwierigkeiten und finanziellen Benachteilungen der ASGB zu kämpfen hat. Der ASGB hat der Bevölkerung immer reinen Wein eingeschenkt, er hat nichts beschönigt und nichts unter den Teppich gekehrt, was es an sozialem Defizit in unserem Lande noch gibt. Der ASGB hat aber auch die sozialen Errungenschaften, an denen er konstant mitwirkt, anerkannt, wie es dem Wesen einer echten und gelebten Sozialpartnerschaft entspricht. Der ASGB ist und bleibt eine zentrale Kraft in der ethnischen Minderheit. Das ist eine der großen Aufgaben für das Jahr 2007. Die anderen sind: Mithilfe bei der Erhaltung von Arbeitsplätzen, bei der Wahrung sozialer Gerechtigkeit, bei der Förderung vor allem jener, die sich wirtschaftlich und sozial am schwersten tun. Denn eine Gesellschaft ist so stark, wie ihre schwächsten Mitglieder es sind.