Georg Pardeller: Wir sind, insgesamt gesehen, eine reiche Gesellschaft. Wir haben seit Jahren sozusagen Vollbeschäftigung, wir haben einen ständig wachsenden Landeshaushalt. Trotzdem wird seit Jahren vom Sparen geredet. Für die Arbeiterschaft gehört das Sparen seit jeher zur Notwendigkeit. Für viele ist der Tisch gedeckt, aber nicht für alle. Nicht alle können die Früchte der Arbeit sozial gerecht genießen. Es gibt noch zu viele, die nur Brosamen abbekommen. Das ist Anlass zur Sorge. Nur wenn alle gesättigt vom Tisch aufstehen, gibt es eine zufriedene Gesellschaft. Sind wir zufrieden? Nein. Viele können es nicht sein. Sie haben Sorgen, im Vergleich zu anderen Gebieten vielleicht kleine Sorgen, doch für sie sind sie groß.
Kollege Pardeller wie meinst du das?
Pardeller: Wir leben leider in einer sehr egoistisch gewordenen Gesellschaft, die genießt, konsumiert, wenig Opfer bringt und es bequem haben will. Viele, aber nicht alle, können sich das leisten. Dieser neue Lebensstil hat Folgen. Die Bevölkerungsentwicklung muss uns zu denken geben. Manche Werte sind im Wettlauf nach immer mehr Wohlstand verloren gegangen. Etwa in der Familie. Südtirol ist heute weniger kinderreich. 48 Prozent der Haushalte sind ohne Kinder. Die Politik hat sich lange Zeit gelassen, bis sie das erkannte, und jetzt endlich geht sie daran, die Familien mit einschneidenden Maßnahmen zu fördern. Die Familie bleibt Kernbereich der Wertegemeinschaft und der Traditionspflege.
Warum ist das deiner Meinung nach so gekommen? Den von dir angezeigten Wandel gibt es überall.
Pardeller: Es ist ein komplexes Problem. Eine Gesellschaft wächst, wenn sie optimistisch ist. Wenn ein Klima der Zuversicht herrscht, dann ist auch die Einstellung zum Kind eine andere. Zum Beispiel gab es bei den Arbeiterfamilien (und bei den Bauernfamilien) seit jeher Kinderreichtum. Heute hören die Arbeiter immer wieder: „Ihr seid zu teuer, ihr kostet zu viel. Löhne und Gehälter sind zu hoch." Es werden neue Formen der Arbeit eingeführt, die dem Arbeiter die Sicherheit des Arbeitsplatzes nehmen. Die Rentenabsicherung wird in Frage gestellt. Wo soll eine Arbeiterfamilie die Bereitschaft zum Nachwuchs hernehmen, wenn sie derart verunsichert wird? Wenn der Einzelne nicht weiß, ob er Morgen noch seinen Arbeitsplatz haben wird. Wenn die Geborgenheit fehlt. Wo ein rauer Wind weht, wächst nichts. In unserer Gesellschaft weht für manche ein rauher Wind.
Das ist die eine Seite. Eine andere ist die Stellung der Frau. Viele Frauen sind heute gezwungen, einem Beruf nachzugehen, weil ihre Familie sonst wirtschaftlich nicht mehr über die Runden kommt. Kindererziehung, Wohnung, Ausbildung, Deckung der Lebenshaltungskosten. Unsere Gesellschaft tut zu wenig, um die Mehrfachbelastung der Frau tragbarer zu machen. Wir leben in einer Welt mit weniger Solidarität.
Gibt es noch andere Ursachen für diesen Istzustand?
Pardeller: Wir Menschen werden älter. Darüber freuen wir uns, weil wir gerne leben. Dies bringt aber auch neue Herausforderungen. Die Rentenproblematik war noch nie so akut wie jetzt. Der Generationenvertrag hält nicht mehr. Der Sozialstaat wird laufend in Frage gestellt. Es fehlt die Sicherheit der Altersversorgung. Heute muss jeder für sich selbst zahlen und zusätzlich zahlen, ansonsten geht er der Altersarmut entgegen. Dies alles lastet besonders auf den jungen Generationen. Sie müssen konkret vorsorgen und sich damit auf ein längeres Alter einrichten. Das verlangt Opfer und Sparsinn.
Was ist dagegen zu tun?
Pardeller: Es braucht so stark wie noch nie das Zusammenwirken aller Kräfte der Gesellschaft. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen diese Probleme erkennen und entsprechend handeln. Der ASGB war seinerzeit Mitbegründer der Sozialpartnerschaft. Das war vor fünfundzwanzig Jahren, als es vor allem darum ging, die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Wir haben damals als Sozialpartner über alles geredet, was uns am Herzen lag, und wir haben sehr zur Erhaltung des sozialen Friedens beigetragen. Damals hatte man Hoffnung auf eine gute wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Heute ist es anders. Statt Zuversicht herrscht vielfach Pessimismus, weil sich manche mit Problemen konfrontiert sehen, die schier unüberwindlich scheinen. Deshalb müssen die Sozialpartner einen intensiven Dialog wieder aufnehmen. Wir müssen mit mehr Optimismus in die Zukunft blicken, weniger Angst haben. Angst ist immer ein schlechter Berater. Wer Angst hat, kann nicht frei denken und hat keine Motivation. Für die Arbeiterschaft sind die erhofften Perspektiven sehr konkret: Sichere Arbeitsplätze, gerechte Löhne und Gehälter, würdige Altersabsicherung und ein Ende der ständigen Behauptung, dass sie zu teuer sind.
Die Arbeitskosten sind aber hoch.
Pardeller: Sie sind heute nicht höher als früher. Nur scheint es, dass manche auf eine wirtschaftliche Logik vergessen haben, ohne die es nicht geht. Wenn gute Löhne gezahlt werden, wenn die Arbeitsplätze sicher sind, gibt es soziale Sicherheit und gute Altersabsicherung, das beste Mittel gegen Altersarmut. Zudem gibt das der Volkswirtschaft Auftrieb, denn dann haben die Leute auch das Geld, etwas auszugeben. Wenn die Einkommen gesichert und die Renten menschenwürdig sind, stärkt die gesicherte Kaufkraft auch die Wirtschaft.
Was haltest du von der Zuwanderung von Arbeitskräften?
Pardeller: Der Ruf nach billigen Arbeitskräften wird immer lauter. Die Zuwanderung steigt. Das ist nicht nur von Vorteil, sondern bringt auch manche Nachteile. Billigere auswärtige Arbeitskräfte, manches Mal auch „schwarz" beschäftigt, mögen zwar den Betrieben kurzfristig Kostenersparnisse bringen, aber diese Einkommen bleiben zumeist nicht im Land, werden also nicht hier ausgegeben. Andererseits nehmen diese Arbeitskräfte, wie es an sich sozial gerecht ist, das gesamte verfügbare soziale Netz in Anspruch (Wohnung, Gesundheitsdienste usw.), wofür letztendlich dann die einheimische Bevölkerung, und zu einem sehr großen Anteil die einheimische Arbeiterschaft mit ihren Steuern aufkommen muss. Und auf einer anderen, geistig-kulturellen Ebene kommt die Frage der Toleranz dazu. Es gibt, leider, auch bei uns Kräfte, die bereit sind, eigene Werte aufzugeben oder zu verleugnen, um die Zuwanderer nicht „vor den Kopf zu stoßen". Das ist sicher falsch verstandene Toleranz und Selbstaufgabe.
Südtirol hat den Vorteil eines noch stabilen sozialen und politischen Friedens. Ist das nicht etwas sehr Wertvolles?
Pardeller: Der Frieden an sich ist ein sehr hohes Gut. Der soziale Frieden ist in Südtirol in Gefahr, wenn ein Teil der Bevölkerung in Armut und der andere Teil im Überfluss lebt. Eine gerechte Verteilung der gemeinsam erwirtschafteten Werte ist Garant für sozialen Frieden. Was den Frieden zwischen den Volksgruppen angeht, ist es eine Tatsache, dass es immer wieder Leute gibt, die diesen zu stören versuchen, zum Beispiel mit dem so genannten Unbehagen der italienischen Sprachgruppe. Das sollte aufhören, denn es ist unbegründet, und es könnte dazu führen, dass einmal auch jene ihr Unbehagen zum Ausdruck bringen, die es wirklich haben, etwa durch das Gefälle zwischen Stadt und Land. Wer in der Stadt wohnt (die Italiener vor allem), hat das gesamte soziale und wirtschaftliche Leistungsangebot vor der eigenen Haustür: die Ämter, die Ärzte, die Krankenversorgung, die Schulen, die Wohnungen, die kulturellen Angebote, den Arbeitsplatz. Wer auf dem Land lebt, hat vieles davon nicht oder nur in einiger Entfernung, zum Beispiel die Pendler ihre Arbeitsplätze. Das kostet Zeit und Geld und zehrt am Einkommen. Hier ist noch manches auszugleichen. Aber wir sind keine Jammergesellschaft, unsere Leute kommen mit diesen Erschwernissen zurecht.
Du hast das erste Jahr in Deiner Doppelfunktion als Gewerkschaftsvorsitzender und Landtagsabgeordneter hinter dir. Wieweit wirkt die Politik auf die Entwicklung ein?
Pardeller: „Ich bin zufrieden und nicht zufrieden. Zufrieden, weil es wichtig ist, dass die Arbeiterschaft im Landtag vertreten ist und mitreden kann. Wer nicht dabei ist, kann nicht mitreden. Es ist für keine gesellschaftliche Kraft gut, wenn sie dort, wo wichtige Entscheidungen getroffen werden, nicht dabei ist. Dann entscheiden andere für sie und das kann auf Dauer nicht gut gehen. Nicht zufrieden bin ich, weil es in der Politik anders zugeht als im praktischen Leben, wo die Dinge meist schwarz oder weiß, also klar und konkret, sind. In der Politik gibt es zu viele Zwischenfarben. Dort ist fast nichts so, wie es scheint, weil der Gruppenegoismus oft den Blick für das Übergeordnete, das Wesentliche, trübt. Das muss man erst lernen. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Der einfache Mensch hat einfache Vorstellungen und erwartet sich, dass diese in der Politik in ihrer Einfachheit zum Tragen kommen.
Was meinst du damit?
Pardeller: Es beginnt bereits in der eigenen Partei. Als Gewerkschafter habe ich die Anliegen der Arbeiterschaft zu vertreten, als Politiker das Gemeinwohl. In der Sammelpartei treffen die Interessen aller Schichten der Bevölkerung aufeinander, und kein Teil kommt mit seinen Forderungen ohne Abstriche durch. Das verlangt dauernd den Kompromiss. Der Kompromiss ist ja nicht schlecht, ohne ihn geht es oft nicht. Aber es ist schwierig, weil die Machtverhältnisse selten auf der Seite der Arbeiterschaft sind. Allerdings, in der SVP-Fraktion kann man offen reden, weil schließlich doch das übergeordnete Interesse des Landes und damit der gesamten Bevölkerung im Vordergrund steht. Aber ich habe Sorgen. „Volkspartei" heißt, Partei für das Volk zu sein, für das Volk da zu sein, also auch für die Arbeiter. Wenn dieses Bewusstsein verloren geht, dann bricht das bisher gut gelaufene System unweigerlich zusammen.
Wie ist es im Landtag?
Pardeller: Mein bisheriger Eindruck ist, dass es im Landtag vordergründig darum geht, die Gegensätze in der Politik deutlich zu machen. Was für die einen richtig ist, ist für die anderen falsch. Ich dachte immer, rot ist rot, grün ist grün und blau ist blau. Schön wär's. In Wirklichkeit kommt es aber fast immer so, dass, wenn die einen sagen, das ist blau, die anderen behaupten, nein, das ist schwarz. Dann wird gestritten. Ich denke mir oft, das ist politische Farbenblindheit und schwer zu schlucken, weil die Vernunft und die Logik auf der Strecke bleiben.
Im Spiel zwischen Mehrheit und Opposition dürfte das unvermeidlich sein.
Pardeller: Ich kann verstehen, dass die politischen Auffassungen zwischen Opposition und Mehrheit auseinander gehen, und dass die einen den anderen nicht Recht geben wollen und der Öffentlichkeit Versprechen geben, die sie nicht zu halten brauchen. Das geht meist an der Sachlichkeit vorbei. Die Leute draußen interessiert weniger das Hickhack, sondern vielmehr, ob konkrete Maßnahmen für die Allgemeinheit entschieden werden.
Wie äußert sich das?
Pardeller: Es herrscht oft eine persönliche und nicht, wie es sein sollte, nur eine sachliche Aggressivität. In der täglichen beruflichen Praxis wird kaum einmal ein Gegenüber persönlich so angegriffen und schlecht gemacht wie in der Politik. Ich sage als Arbeitervertreter nie: „Die Unternehmer sind schlecht." Ich sage, wenn schon: „Die Unternehmer verfolgen ihre eigenen Interessen", begründe dies und bin mir im Klaren, dass dies zu Reibungsflächen führt, aber darüber kann man sachlich reden. In der Politik fehlt oft die Sachlichkeit. Es geht oft nur darum, den anderen bewusst herab zu setzen, ganz gleich, ob er Recht hat oder nicht. Die Polemik triumphiert.
Hast du ein Beispiel?
Pardeller: Ich erwähne nur eines. Da hat bei der letzten Haushaltsdebatte einer dem anderen vorgehalten, es sei an der Zeit, dass er gehe, denn er sei schon zu lange in der Politik und „ausgebrannt". Ich finde das nicht richtig. Diffamierung sollte nie Politik sein. Drehen wir den Spieß um. Wenn jemand von uns sagen würde, die Opposition ist nutzlos, sie ist ausgebrannt, es wäre besser, wenn sie nicht da wäre, würde das zu gewaltigen Protesten führen und man würde sofort Demokratie und Freiheit bemühen. Ich meine: Politik steht für Gemeinwohl, und mit solchen Reden kann man niemandem Nutzen bringen.
Was ist für dich konkrete politische Arbeit?
Pardeller: Konkrete Arbeit ist für mich, wenn etwas weiter geht, wenn Gesetze, die der Allgemeinheit etwas bringen, verabschiedet werden, wenn sich Mehrheit und Opposition der eigenen Rolle bewusst sind und vor allem mit der Zeit sinnvoll umgehen. Zeit ist Geld, auch in der Politik. Es ist ja nicht unsere Zeit, die wir dort verbrauchen, sondern die Zeit, die uns die Wähler gegeben haben, um für sie etwas Konkretes zu leisten. Wenn wir tagelang diskutieren und die Behandlung von wirklich wichtigen Anliegen dadurch auf die lange Bank schieben, ist das ein Unfug. Ich meine dabei auch einen Teil der zahllosen Abänderungsanträge und Anfragen, die nicht nur Zeit, sondern auch Nerven kosten.
Aber Anfragen sind wichtig, um einzelne Probleme aufzugreifen.
Pardeller: In Einzelfällen ist es sicher notwendig, und es ist auch ein Mittel in den Händen der Opposition, um ihre Vorstellungen kritisch an den Mann zu bringen. Aber alles mit Maß und Ziel. Anderswo läuft es besser. In anderen Parlamenten werden die Fragestunden genau geregelt, die Redezeiten sind kurz. Bei uns nicht. Wir sitzen im Landtag und sollen geduldig zuhören, wie stundenlang über Dinge diskutiert wird, die kaum jemanden interessieren. Im Europaparlament sind es Minuten und nicht Stunden. Was man in fünf, zehn Minuten nicht sagen kann, kann man auch in zwei Stunden nicht sagen. Oft habe ich den Eindruck, dass das Gefühl für die Zeit und für ihren Wert verloren geht.
Wie würdest du es machen?
Pardeller: Ich würde die Redezeiten drastisch reduzieren. Dazu braucht es eine entsprechende Geschäftsordnung und die Möglichkeit einer strammen Führung der Sitzungen. Persönliche Angriffe sollten nicht geduldet werden. Jeder soll reden können, aber nur zur Sache. Wer vom Thema abschweift, der soll unterbrochen werden. Ich weiß, dass das schwer durchzusetzen ist. Aber es ist eine Tatsache: Je länger geredet wird, umso weniger konkrete Entscheidungen können getroffen werden. Wenn es um Gesetze und andere wichtige Maßnahmen geht, dann haben alle da zu sein – und sie sind auch da – wenn es aber nur um stundenlange Polemik geht, um damit Obstruktion zu betreiben, wüsste man oft etwas Besseres zu tun.
Was kommt unterm Strich heraus?
Pardeller: Bei aller Kritik doch sehr Wertvolles. Es ist eine interessante Aufgabe und ein gutes Gefühl, dort zu sein, wo wichtige Entscheidungen fallen, die Sorgen der Arbeiterschaft vorzubringen, Einfluss zu nehmen und Überzeugungsarbeit zu leisten. Im abgelaufenen Jahr hat sich auch Einiges angebahnt und zum Teil auch getan, etwa für die Familie, für die Frau, für die Absicherung der Renten, für die Wohnbauförderung, für die Wirtschaftsförderung, damit Arbeitsplätze abgesichert werden, für die Bildung. Gerade zu Jahresende ist mit der PISA-Studie die Bestätigung gekommen, dass nicht nur unsere Lehrerschaft vorbildlich arbeitet, sondern auch unsere Jugend gut und fleißig ist, und es mit der Jugend anderer Länder sehr wohl aufnehmen kann. Auch unsere Lehrlinge haben sich bei den Wettkämpfen um die Berufsweltmeisterschaften hervorragend geschlagen. Gold und Silber heimgebracht und damit gezeigt, dass sehr viel in ihnen steckt. Die Landespolitik geht in diesem Bereich und auch in anderen den richtigen Weg. Aber vieles bleibt noch zu tun, manches ist ins rechte Lot zu bringen. Wichtig ist, dass unsere Bevölkerung sich der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten bewusst ist, wenn sie das Beste gibt. Es ist eine Genugtuung, wenn man als Politiker zur Weiterentwicklung der Gesellschaft beitragen kann. Für mich besteht die Befriedigung in erster Linie darin, dass die Arbeiterschaft ihre Stimme in der Politik verstärkt hat und das soziale Gewissen im Lande trotz mancher Selbstherrlichkeit stärker ins Bewusstsein dringt.