artikeljuni2021

Aufbruch und Neubeginn durch Neuentscheidung
Leben statt überleben

Autorin: Gabriele Frohme – Phönix aus der Asche ist der Titel einer Mythologie, welche darstellt, wie der Vogel Phönix in den frühen Sonnenstrahlen verbrennt, um dann gesund und jung aus seiner Asche wieder aufzuerstehen. Phönix wurde zum Sinnbild der Auferstehung.
Was bedeutet diese Sage für den psychotherapeutisch/beraterischen Kontext? Diese Entwicklung können wir in unserem Leben häufig beobachten. z. B. in unserem körperlichen Bereich, wenn Zellen absterben und sich neue Zellen entwickeln, wie z.B. unsere Hautzellen. Sie sterben ab, und es entwickeln sich neue Zellen. Blutzellen, wie die roten Blutkörperchen leben 120 Tage und erneuern sich dann. In unserem Wunderwerk Körper gibt es viele solcher Beispiele des Absterbens von Zellen und anschließender Erneuerungen.
Ähnliche Entwicklungen können wir auch bei unserer Psyche beobachten, wenn wir aus einer schweren Krise gestärkt hervorgehen. Beginnen wir erst etwas Neues, wenn wir gar nicht mehr weiterwissen? Müssen wir erst „am Boden liegen“ bevor wir unsere Lebensumstände ändern können? Kann „Phönix aus der Asche“ ein Sinnbild und eine Anleitung zur Selbsthilfe sein? Oder können wir auch durch eine Einsicht bei Problemen und Konflikten unser Leben ändern? Menschen fühlen sich ausgebrannt, leer und lassen womöglich die verbrannte Asche zurück, um ein altes Leben aufzugeben. Das „Funktionieren“ hat keine so große Priorität mehr, und es ist dann möglich, sich dem Leben neu und anders zuzuwenden. Trennungen werden vollzogen, wie die womöglich lang erwogene Kündigung des Arbeitsplatzes, die schon lange überfällig war. Andere belastende Situationen wie auch nicht mehr tragfähige Beziehungen werden oft nach einem Zusammenbruch (dem Sterben wie bei Phönix) für Neues und Besseres aufgegeben. Wir alle erleben in unserem Leben Rückschläge und Krisen, dabei ist es langfristig entscheidend, wie wir mit Krisen, sei es körperlich oder psychisch umgehen, und ob wir dadurch gestärkt „auf-stehen“. Ein Schwerpunkt meiner psychotherapeutischen Arbeit ist die Psychosomatik. Damit meine ich die Wechselwirkung zwischen Körper (Soma) und Psyche.
Um dies zu verdeutlichen, beschreibe ich ein authentisches Beispiel aus meiner Praxis mit einer Tumorpatientin. So eine Krebsdiagnose wird als Todesdrohung erlebt.
Anne ist 25 Jahre alt und arbeitet als MTA (Medizinisch Technische Assistentin). Im Erstgespräch erzählt sie mir folgendes: „Ich komme zu ihnen, weil mir meine Ärztin angeraten hat, unbedingt eine Psychotherapeutin aufzusuchen. Jetzt bin ich hier. Ich bin 25 Jahre alt und habe zum 2. Mal Eierstockkrebs. Eigentlich ist es schon das 3. Mal. Die erste Diagnose wurde gestellt, als ich 17 Jahre alt war. Meine Eltern und die behandelnden Ärzte haben diese Diagnose immer vor mir geheim gehalten.“ Hier zeigen sich schon erste „typische Sätze", welche für die Psychotherapie bedeutungsvoll sind.
Zuerst einmal sucht die Patientin den Weg zur Psychotherapie auf Grund des Anratens einer Ärztin auf, also nicht aus eigenen Überlegungen und Wünschen. Sie hat die Tragweite der damaligen Kränkung des „Geheimhaltens“ ihrer Krankheit durch ihre Eltern bis jetzt nicht erkannt, geschweige denn überwunden. Ich gebe Anne als erstes einmal Informationen zu dem Ablauf einer Psychotherapie, da sie verunsichert ist „wie eine Therapie so abläuft“. Ich vereinbare mit ihr, dass sie alles in Ruhe überlegt, auf ihre innere Stimme hört und mich dann nach spätestens drei Tagen anruft, um Ja oder Nein zur Psychotherapie zu sagen. Diese Vorgehensweise praktiziere ich gerne, da ich den Patienten eine verbindliche Vereinbarung, gemäß der Vertragsarbeit, vorschlage. Die Vertragsarbeit in der TA zeichnet sich durch gegenseitige Vereinbarungen aus. Diese beinhalten neben den administrativen Regelungen (Häufigkeit und Dauer der Sitzungen etc.) im Wesentlichen die Therapieziele. Patienten werden nach dem „Sacken lassen" der Informationen der ersten Therapiestunde eine Entscheidung für oder gegen die Therapie treffen können. Damit habe ich nicht nur die bewusste Entscheidung der Patienten (Erwachsenen-Ich), sondern durch die Sicherheit und Vertrauen bildenden Erklärungen das „innere Kind" auf der therapeutischen Seite. Das ist gerade dann wichtig, wenn es ängstlich ist und nicht weiß, was kommt und sich alles am Anfang „komisch“ anfühlt.
Anne rief am nächsten Tag an und berichtete mir, dass sie auf jeden Fall die Therapie bei mir beginnen möchte, nach dem Motto: „Schlimmer als bisher kann es ja nicht kommen".
Sie erzählte mir folgendes: Anne wurde als drittes Kind geboren, sei aber als Einzelkind (Nachzögling) aufgewachsen. Ihren älteren Bruder habe sie kaum erlebt, da er bereits ausgezogen war. Zu ihrer Schwester habe sie ein herzliches Verhältnis. Mit ihr könne sie gut reden, ohne unterbrochen zu werden. Das Verhältnis zu ihrer Mutter beschreibt sie als sehr eng. Die Mutter sage ihr, was gut für sie sei, wann sie schlafen gehen und was sie essen soll. Der Vater verhält sich distanziert und meist schweigsam. Eine Ablösung aus dem Elternhaus, z.B. durch Rebellion, fand nicht statt. Anne empfand ihr Verhalten mit „brav/ angepasst sein“ als normal. Sie nahm die Kontrolle der Mutter zunächst nicht wahr, war nur „ab und zu genervt“. Sie absolvierte nach der Schule die Ausbildung zur MTA und arbeite sehr gerne in diesem Beruf. Sie lebt bei ihren Eltern in einem kleinen Zimmer von 8 m².
Mit 17 Jahren erkrankte sie zum ersten Mal an Eierstockkrebs. Dies wurde ihr damals in Absprache zwischen ihren Eltern und den Ärzten nicht mitgeteilt. Ihr wurde gesagt, sie müsse am Blinddarm operiert werden. Anne erlitt mit der Konfrontation der Diagnose Eierstockkrebs 7 Jahre später einen Schock, als ihr der Arzt erklärte…“der Krebs sei wieder aufgetreten“. Zum jetzigen Zeitpunkt, ein Jahr später, sei die Krankheit zum dritten Mal ausgebrochen. Sie hat starke Angst vor der erneuten Operation. Ich erkläre Anne, dass bei einer Krebserkrankung eine Krebszelle aus ihrem normalen Gefüge ausbricht und sich unkontrolliert vermehrt. Auf meine Frage, ob sie unbewusst den Wunsch hat, auch „auszubrechen“, selbstständig zu werden, auszuziehen, um mit 25 Jahren ihren eigenen Weg zu gehen und die Verantwortung für ihre Erkrankung, ihre Heilung und ihr Leben selbst zu übernehmen, antwortet Anne: „Wenn die Krankheit nicht erneut ausbricht, dann würde ich auch ausziehen…“. Hier wurde deutlich, dass sie sich durch die Krankheit ausgeliefert, abhängig und hilfsbedürftig erlebte. Sie traute sich das alles nicht zu, da sie viel zu viel Angst hatte. Eine Entwicklung in Richtung Selbstständigkeit / Autonomie sah Anne zu diesem Zeitpunkt als Bedrohung an, so dass hier erst einmal andere therapeutische Arbeiten im Vordergrund standen.


Ein zentrales Thema der psychotherapeutischen Tätigkeit in der TA ist das Erkennen von einschränkenden Skriptbotschaften und die Auflösung der unbewussten schädlichen Skriptentscheidungen. Auch ist nach kraftspendenden und förderlichen Skriptbotschaften zu suchen. Erhaltene Skriptbotschaften von Eltern oder anderen nahestehenden Autoritätspersonen führen zu unbewussten Schlussfolgerungen für das Leben, den sogenannten Skriptentscheidungen. Die zentralen Botschaften an Anne waren: „Bleibe unser kleines Mädchen. Vertraue uns, dann geht es dir gut.“ Ihre Skriptentscheidung war: „Ich vertraue mir nicht. Ich vertraue meinem Körper nicht. Ich kümmere mich um meine Eltern, so wie sie sich um mich kümmerten“.
Das Lebensskript wird auch als unbewusster Lebensplan bezeichnet. Es ist wie ein Drehbuch mit einem Anfangsteil (Entstehung), mehreren Hauptakten (Wiederholungen) und einem Ende (glückliches Leben oder Krankheit). Das Skript entsteht durch Schlussfolgerungen und Entscheidungen, die das Kind aus den nonverbal gegebenen Skriptbotschaften (z.B. vertraue nur uns), aus Zuschreibungen (z.B. du bist dumm), Prägungen (z.B. gelebte Rituale und Bewertungen in der Herkunftsfamilie) und Schlüsselerlebnissen (z.B. Kränkungen, Unfälle, Traumata) trifft. Im Erwachsenenalter stellt sich die Frage, welche Skriptentscheidungen früher getroffen wurden, die zu der heutigen Lebensweise, dem Verhalten, Denken und Fühlen führen und einen wichtigen Einfluss auf unsere Gesundheit bzw. Krankheit haben.
Eric Berne definierte das Skript „als einen fortlaufenden Plan, der sich unter starkem elterlichem Einfluss aufgrund von Prägungen, Botschaften und Zuschreibungen ausbildet“. Richard Erskine modifiziert und betrachtet das Skript als einen „Lebensplan, der auf Entscheidungen beruht, die unter Druck in jeder Entwicklungsphase getroffen werden und die die Spontaneität und Flexibilität in der Lösung der Probleme und in den Beziehungen zu anderen beeinträchtigen“. Damit schließt Erskine in Ergänzung zu Berne spätere Traumata und Entwicklungskrisen in die möglichen Entstehungsbedingungen des Skriptes mit ein.
Siehe unten eine bildliche Grafik (Abb. 1) wie die elterlichen Skriptbotschaften und die Antreiber von den Eltern an das Kind gegeben werden. Antreiber sind Anweisungen, die in einer späteren Entwicklungsphase an das Kind verbal gegeben werden. z. B. „Sei lieb sonst werden wir krank“.


Gerade im Umgang mit lebensbedrohenden und psychosomatischen Krankheiten richte ich mein Augenmerk auf Skriptbotschaften und Skriptentscheidungen wie diese oben beschrieben wurden. Unser Selbstwertgefühl, unsere Glaubenssätze, unsere Verhaltens- und Denkmuster und unsere Gefühle sind abhängig von den frühen Skriptbotschaften und den daraus resultierenden Skriptentscheidungen.
Zu den Schlüsselerlebnissen gehören Kränkungen, schwere Unfälle und Krankheiten, und Traumata. Als Beispiel: Wenn jemand als Kind einen Fahrradunfall hatte, kann das Kind beschließen: „Nie mehr fahre ich Fahrrad, das ist viel zu gefährlich.“ Hier zeigt sich eine typische Entscheidung, die aufgrund des Traumas getroffen wird.


Wir begannen mit der Analyse von Annes Lebensskript:
Skriptbotschaften seitens ihrer Eltern:
Sei nicht du selbst
Fühle nicht was du fühlst, sondern was wir fühlen
Sorge für uns
Bleib unser kleines Mädchen
Vertraue uns


Skriptschlussfolgerungen und Skriptentscheidungen:
Ich darf nicht fühlen, was ich fühle, das ist gefährlich.
Ich vertraue nicht mir und meinem Körper, sondern meinen Eltern, den Ärzten und Anderen.
Ich bin zuständig für das Wohlergehen meiner Eltern.
Wenn ich mich beeile und in Aktion bin, vermeide ich meine eigenen Gefühle.
Ich darf nicht meine eigenen Dinge tun, sondern nur dass, was andere möchten.
Wenn ich mich Anderen anpasse, werde ich von allen geliebt.


Aufgrund von gegebenen Skriptbotschaften, welche Eltern oder weitere Autoritätspersonen (in diesem Fall Ärzte) nonverbal oder atmosphärisch vermitteln, trifft ein Kind unbewusst eigene Skriptentscheidungen. Diese Skriptentscheidungen waren erst einmal die besten Überlebensstrategien eines Kindes, um in der damaligen Welt zurecht zu kommen. Diese gilt es zu respektieren und zu würdigen und im weiteren Verlauf, „neue Entscheidungen“ zu treffen.
Wegen der Schwere der Erkrankung galt es als erstes eine neue, bewusste Lebensentscheidung zu erarbeiten. Diese Lebensentscheidung, die ich „Leben statt Überleben“ nenne, habe ich mit Anne schriftlich vereinbart, damit Körper und Psyche mit daran teilhaben können. Im Laufe dieses Prozesses hat Anne für sich eine Neuentscheidung getroffen: „Ich werde leben und nicht nur überleben“. Die schriftliche Vereinbarung schafft mehr Verbindlichkeit und Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit. Das löst körperliche und psychische Reaktionen wie Freude, Lebensmut und Zuversicht aus. Viele meiner Patienten hängen sich ihre schriftlich formulierte Lebensentscheidung in ihrer Wohnung, z.b. im Schlafzimmer über dem Bett, auf.
Gestärkt durch diese neue Lebensentscheidung ging Anne mit Mut ins Krankenhaus, um sich der Operation zu unterziehen. Sie erzählte mir später, dass in der 2. Nacht nach der OP der Tod an ihrem Bett saß. Sie hat ihm mitgeteilt, dass sie sich für ihr Leben entschieden hätte, noch viel zu jung sei, um zu sterben, sie viele neue Dinge in ihrem Leben wahrnehmen möchte und deshalb nicht sterben wolle. Im weiteren Therapieverlauf traf Anne weitere Neuentscheidungen, um den alten frühen Skriptentscheidungen entgegenzuwirken. So begann sie langsam aus ihrem angepassten Verhalten auszusteigen. Sie widersetzte sich Entscheidungen von Ärzten bezüglich ihrer Therapie, da einige Entscheidungen für sie nicht stimmig waren. Auch ihren Kollegen erschien sie plötzlich unbequem und zickig. Darauf angesprochen antwortete sie ...“besser unbequem und zickig als tot.“ Anne zog während der noch laufenden Therapie von zu Hause aus. Sie fand eine schöne helle Wohnung, in der sie sich bis heute wohlfühlt. Ein erneutes Auftreten des Krankheitsbildes erfolgte bis heute, 10 Jahre später nicht mehr. Sie teilt sich inzwischen die Versorgung ihrer Eltern mit ihren Geschwistern.
Eine Heilung war meines Erachtens nur durch einen ganzheitlichen Ansatz einschließlich der Psychotherapie möglich. Auch hier zeigte sich, dass Soma und Psyche untrennbar zusammengehören, da hier die körperliche Krebserkrankung viele psychische Probleme deutlich gemacht hat und psychische Probleme mit ein Auslöser der Krebserkrankung waren.
Ein wichtiger Aspekt im Heilungsverlauf bei Anne war die Entwicklung von Autonomie im Sinne von Bewusstheit, die Veränderung des Lebensstils und der Ausstieg aus dem (über)- angepassten Verhalten innerhalb der Familie und bei ihren weiteren sozialen Kontakten. Inwieweit die fehlende Autonomie, die erdrückende und kontrollierende Liebe der Mutter und der „geheime Familienauftrag“ (Anspruch auf Pflege der Eltern im Alter) zum damaligen Ausbruch der Erkrankung beigetragen hat, lässt sich im Nachhinein natürlich nicht feststellen.
In anderen Beispielen aus meiner Praxis zeigt sich ebenfalls, wie Menschen durch eine Krise auch wieder wie neugeboren, also gestärkt ihr Leben weiter gut gestalten können. Eine Patientin, Anna, welche als Krankenschwester auf einer Kinderstation arbeitete, konnte das Leiden der Kinder auf ihrer Station nicht mehr ertragen. Nachdem sie viele körperliche Zeichen wie Schlaflosigkeit, Fibromyalgie, diverse anhaltende Erkältungskrankheiten, die nicht ausheilten, durchgemacht hatte, entschloss sie sich für eine Psychotherapie. Ihre Erschöpfung war ihr deutlich anzumerken. Sie hatte die Antreiber: „Sei perfekt, streng dich an und sei schnell“. Die Kombination führt bei langfristigem Dauerstress zu einer Schwächung des Immunsystems mit zahlreichen Erkrankungen und damit auch zu einer instabilen psychischen Situation. Auslöser waren der hektische Klinikalltag und fehlende Rückmeldungen dazu, wie es den Kindern, zu denen sie eine Beziehung aufgebaut hatte, nach der Entlassung geht. Ihr größter (geheimer) Wunsch war es, in der Prophylaxe zu arbeiten. Anna traute sich aber nicht, diesem Wunsch umzusetzen, da sie existenzielle Nöte befürchtete. Durch vertiefte Skriptarbeit wurde ihr bewusst, dass sie folgende Glaubenssätze lebte: „Ich traue mir nicht, ich vertraue mir und meinen Fähigkeiten nicht, meinem Körper und meiner Intuitionen nicht“. Der Konflikt zwischen dem, was Anna als sinnvoll ansah und tun wollte und dem, was sie tun musste, zeigte sich in einem Engpass erster und zweiter Ordnung.
Die Engpasstheorie oder Sackgasse stammt von den Gouldings und sie definieren einen Engpass „als einen Punkt, an dem zwei oder mehr (gleich starke) entgegengesetzte Kräfte aufeinanderstoßen, einen festgefahrenen Ort, ein Patt“ (Gouldings: Neuentscheidungstherapie, Seite 63). Also, ein Engpass erster Ordnung (Abb. 2) nach den Gouldings kennzeichnet sich durch einen Konflikt zwischen dem, was man tun möchte und dem, was man tun muss.


Abb. 2 - Engpass 1. Ordnung nach Goulding
Im Engpass zweiter Ordnung (Abb. 3) zeigt sich der Konflikt zwischen dem, was als elterliche Botschaft oder als Verbot vermittelt wurde, z. B. „zeige deine Gefühle nicht“, und dem, was man aber tun will.


Abb. 3 - Engpass 2. Ordnung nach Goulding
Durch die Psychotherapie konnten die Konflikte gelöst werden. Anna absolvierte eine Ausbildung als Entspannungspädagogin für Kinder und arbeitet seitdem zufrieden in diesem Beruf. Sie fühlt sich in ihrer Arbeit erfüllt und ihre körperlichen Symptome verschwanden nach und nach. Therapeutisch gilt eine Neuentscheidung dann als abgeschlossen, wenn die gewünschten Veränderungen vollzogen und aufrechterhalten werden!
Ein Patient, Josef, suchte mich nach einer Kurmaßnahme auf, um seine „neu entdeckten Aspekte“ beizubehalten. Er litt unter einem Burnout aufgrund einer permanenten Überlastung durch seine Arbeit und in seiner Beziehung. Seine ausgeprägten „Sei stark“ und „Sei perfekt“ Antreiber überforderten ihn und führten zu körperlichen Reaktionen, depressiven Verstimmungen und endeten schlussendlich in einem Burnout. Josefs Ziel war es, diese Erkrankung nie mehr zu erleben. Wir arbeiteten an seiner Selbstwirksamkeit bezogen auf seine Psyche und seinen Körper. Therapeutische TA Konzepte wie neue Skriptentscheidungen, das Bewusstmachen von inneren Dialogen als Selbsterkenntnis, Erlaubnisarbeit und Neuentscheidungen sichern seine psychische und körperliche Stabilität bis heute.
In diesen drei Beispielen aus meiner therapeutischen Arbeit zeigt sich, dass ein Zusammenbruch durch langanhaltendes krisenhaftes Erleben auch wieder zu einem Neubeginn mit mehr Stärke führen kann. Doch es stellt sich immer wieder die Frage, ob Menschen erst durch Krisen lernen ihr Leben zu ändern und ihre Überlebensstrategie in eine Lebensstrategie umzuwandeln. Zeigen sich in unserem Körper oder in unsere Psyche erst einmal Symptome, die sich bei Nichtbeachtung verstärken, dann ist es sinnvoll, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, um eventuell alte Pfade zu verlassen und einen Neubeginn zu wagen und sich dem Leben voll und ganz zu widmen.
Die Transaktionsanalyse bietet hier viele sinnvolle Konzepte an, wie dies möglich werden kann.
Gerade beim Vorliegen von psychosomatischen Erkrankungen ist es mittels Handwerkszeugen der TA wie beispielsweise Antreiber, Skript, Maschensystem (Skriptzirkel), innerer Dialog durch Stuhlarbeit, um nur einige zu nennen, gut möglich, den Kreislauf der psychosomatischen Abläufe zu durchbrechen. Dabei ist es erst einmal nicht so wichtig, wo der Kreislauf durchbrochen wird. Unsere Patienten teilen uns Lösungsansätze meistens auch direkt am Beginn der Therapie mit (the power is in the patient). Wenn wir aufmerksam zuhören, erhalten wir die Lösung schon früh von Seiten der Patienten. In der Analyse des Lebensskripts werden neben den Glaubenssätzen auch die Erinnerungen an frühere Situationen mit entsprechenden Körpergefühlen erfasst. Diese Erinnerungen und Körpergefühle haben zu den unbewussten Skriptentscheidungen und zu den Verhaltensmustern geführt, die beide durch Neuentscheidungen verändert werden können. Dadurch verändern sich auch meistens die Körpersymptome. Da Psyche und Körper wie die zwei Seiten einer Münze mit Wechselwirkungen und Anhängigkeiten sind, ist die gegenseitige Beeinflussung erklärlich. Ob zuerst mit der Arbeit an der Psyche oder mit der Behandlung der körperlichen Symptome begonnen wird, entscheidet die Dringlichkeit unter der die Patienten vermehrt leiden. Wenn z. B. die psychische Symptomatik so ausgeprägt ist, dass ein Abgleiten in die Psychose oder den Suizid möglich ist, muss mit der psychischen Arbeit begonnen werden. Umgekehrt, wenn körperliche Symptome so stark ausgeprägt sind, z. B bei einer Krebserkrankung oder einem akuten Herzinfarkt, dass es bei Nichtbeachtung zu irreversiblen Schäden kommt, muss natürlich als erstes mit der Behandlung der körperlichen Symptome begonnen werden. Selbstverständlich sollte, sobald die jeweilige Situation soweit beherrscht ist, anschließend Psyche, beziehungsweise Körper direkt mit einbezogen werden. Denn, Psyche und Körper sind ein voneinander abhängiges System welches sich ergänzt. Vorstellungen über sich, die anderen, die Welt sind innere Bilder die wir alle in uns tragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Ideen und Visionen von dem was wir sind, was wir erstrebenswert finden und was wir vielleicht einmal erreichen wollen sind weitere Ziele, die nach einem Zusammenbruch einen Wiederaufbau gut gelingen lassen.
Aufbruch und Neubeginn durch Neuentscheidung und Umorientierung kann zu neuen Perspektiven führen und zu einem neuen Gesundheitsempfinden körperlich wie psychisch beitragen.

Literatur
Berne, E. (1972) Sprechstunden für die Seele; Reinbek bei Hamburg Rowohlt
Berne, E. (1975) Was sagen Sie, nachdem Sie guten Tag gesagt haben? Frankfurt: Fischer TB
Berne, E. (1970) Away from a theory of the impact of interpersonal interaction on non-verbal participation TAJ1, No.1 • Erskine, R. (1977) Integrative Psychotherapy Articles; Script Cure TA Press USA
Faulstich, J. (2012) Das Geheimnis der Heilung; Knaur München
Frohme, G. (2020) Wie die Seele den Körper heilt; Trias Stuttgart
Frohme, G. (2020) Corona; Wie Sie die psychischen Herausforderungen meistern; Trias Stuttgart
Frohme, G. (1/2017) Psychosomatik und Transaktionsanalyse; Zeitschrift für Transaktionsanalyse Junfermann Verlag; ISSN Print 1869-7712
Goulding, B. (1981) Neuentscheidung - Ein Modell der Psychotherapie; Klett-Cotta Stuttgart
Rankin,L (2014) Mind over Medicine, Kösel München





Gabriele Frohme
Approbierte Psychotherapeutin (Tiefenpsychologie) und Heilpraktikerin und seit 30 Jahren in eigener Praxis tätig (Verbindung von naturheilkundlichen Verfahren wie die klassische Homöopathie mit Psychotherapie und Körperarbeit)
TSTA Psychotherapie und Beratung
Fortbildungen in Gesprächstherapie, Gestalttherapie und Bioenergetik
Arbeitet als Supervisorin und Lehrtherapeutin, sowie Mediatorin
Praktiziert seit Jahrzehnten die japanische Kampfkunst Aikido und hat mehrere Meistergrade erworben

www.ta-wuppertal.de
frohme@ta-wuppertal.de
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artikeljuli2021

Förderung unverbundener Ressourcen mit Hilfe von Atemarbeit mit vergleichenden Gedanken aus der Transaktionsanalyse.

Autoren: Carlota und Richard Jucker – Die Atemarbeit und die Transaktionsanalyse begegnen sich hier eher zufällig, oder auch nicht, das wissen wir selbst wohl nicht so genau. Wir arbeiten und leben jedenfalls seit Jahrzehnten unter demselben Dach mit diesen beiden Beratungs- und Therapieansätzen und stellen fest, dass wir mit ressourcenorientierter Selbsterfahrungs- und Selbstentwicklungsarbeit hin zu ungetrübter, freier Entfaltung der Einheit von Körper und Geist dieselben Ziele aus unterschiedlichen Perspektiven anstreben.
Ilse Middendorf, die Begründerin der Methode «Der Erfahrbare Atem», folgte mit der Entwicklung des (selbst)erfahrbaren Atems im Grunde derselben Überzeugung wie Eric Berne mit der Transaktionsanalyse. Beide sahen die Wurzel der Heilung in der (Selbst)findung und Integration der ureigenen Bedürfnisse und Empfindungen in das Alltagsleben. Ausgehend von der Haltung, dass alle lebensnotwendigen Ressourcen jedem Menschen innewohnen, einige im Laufe des Lebens dem Bewusstsein entfallen und/oder aufgrund von Sozialisationserfahrungen weggedrückt werden, suchte die Atemtherapeutin Ilse Middendorf und der Psychotherapeut Eric Berne nach Methoden zur Unterstützung der Selbstheilungsprozesse. Ein Dialog zwischen beiden liesse sich wie folgt aus Zitaten konstruieren:
Eric Berne: «Die Menschen werden als Fürsten und Prinzessinnen geboren, bis der Zivilisationsprozess sie in Kröten verwandelt!»
Ilse Middendorf: «Atem ist eine verbindende Kraft. Sie schafft im Leiblichen Ausgleich und Gleichgewicht und hilft uns, die Eindrücke von innen und aussen wandelbar zu machen. Sie verbindet den Menschen mit der Aussenwelt und das Aussen mit seiner Innenwelt. Atem ist Urbewegung und damit unmittelbares Leben.»
Eric Berne: «Es liegt in unserer Verantwortung, die Haut dieses Frosches abzunehmen und weiterhin Fürsten und Prinzessinnen zu sein.»
Eric Berne und Ilse Middendorf teilen dasselbe Geburtsjahr 1910, bei weitem jedoch nicht ihr Todesjahr. Eric Berne starb 1970 an einem Herzinfarkt, Ilse Middendorf wurde annähernd 100 Jahre alt, starb 2009. Ob sie ihre nährenden und kräftigenden Ressourcen für sich selbst besser zu nutzen wusste obliegt selbstverständlich nicht unserer Beurteilung.
Unsere Grund- und Arbeitshaltung
Unser psychologisches und körpertherapeutisches Grundverständnis wurde in all unseren Aus- und Weiterbildungen von der Annahme geprägt, jeder Mensch verfüge über wertvolle lebensfördernde Ressourcen, welche oft ungenutzt blieben, oder gar versiegen würden. Dies sei der täglichen Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem Leben ab unserer Geburt, oder bereits davor, geschuldet. Dieses Verständnis einer erschwerten Persönlichkeitsentwicklung kann bisweilen zu fatalistischer Schicksalsergebenheit verleiten, zu tief empfundenen Ungerechtigkeitsgefühlen, oder auch «hilfreich» verdrängt werden, so dass ich mich, trotz selbst auferlegten Einschränkungen im Entfaltungsspielraum, scheinbar genügend gut im Leben zurechtfinde. Wir kennen diese verschiedenen Umgangsformen sehr differenziert aus der Skripttheorie der Transaktionsanalyse.
Aus der Perspektive der Atemarbeit nach Ilse Middendorf betrachtet, spiegelt sich das Skript im individuell einzigartigen, im Laufe des Lebens geformten Atemrhythmus. Sich selbst jederzeit neubesinnen, seinem ungenutzten Potenzial hinwenden, sich neu entscheiden und so die eigenen Ressourcen möglichst ungehindert nutzen, wird heutzutage allseits empfohlen.
«Ressourcenarbeit» und «Potenzialnutzung» sind aber auch in unserem Zeitgeist geformte Modeworte geworden und stimulieren manchmal einen «Optimierungsdruck», welcher doch erhebliche Spuren hinterlassen kann. Diese erkennen wir in der Transaktionsanalyse gut am sogenannten «Antreiberverhalten». In der Atemarbeit können wir die körperliche Entsprechung der wirkenden Antreiber am Atemgeschehen sehr anschaulich beobachten und einschätzen lernen.
Es wurde z.B. festgestellt, dass die Menschen früher im Durchschnitt viel weniger Atemzüge pro Minute machten. Unsere auf Optimierung und Tempo ausgerichtete moderne Welt, scheint sich in unseren lebenslangen Atembewegungen, sowohl kollektiv wie individuell, sehr klar zu spiegeln. Wir atmen schneller, kräftiger und sind gleichzeitig häufig «atemlos»?!
So wir diese Spiegelungen denn auch zu interpretieren verstehen, können wir in einem offenen Buch lesen und staunen, wie die Lebensgestaltung im Grossen wie im Kleinen im Atem seinen Niederschlag findet. Aber auch ohne sofort interpretieren und verstehen zu wollen, bringt allein die Hinwendung, das Wahrnehmen der eigenen Atmung sehr individuelles wohltuendes Selbstempfinden zum Vorschein.
In der Atemtherapie begebe ich mich mit meinen Klient*innen auf eine gemeinsame Forschungsreise und frage mich, wo der Wille zum Erreichen ihrer Ziele wohl verborgen liegen mag, oder mit anderen Worten, wo und in welcher Art von Asche ihr je eigener Phönix wohl seiner Befreiung und Entfaltung harren mag.
Atemrhythmus
Ilse Middendorf gibt in ihrer Arbeit die Führung dem individuellen Atemrhythmus ab, wenn sie sagt: «Atem ist eine führende Kraft in uns, Atem ist Urgrund und Rhythmus des Lebens, Atem ist ein Weg zum Sein.»
Jeder Atemzug ist dem nächstfolgenden ähnlich, aber nicht gleich. Genau wie zwei Atemzüge eines einzelnen, sind auch die Atemweisen zweier Menschen einander ähnlich aber nicht gleich. Mit dem Wachstum des Körpers, der Entwicklung von Bewegungs-, Sinnes-, Stimm-, Sprech- und Beziehungsfähigkeit, entfaltet sich auch die Grösse, Tiefe und Kraft des Atems. Es reift ein Atemrhythmus heran, der ganz geprägt ist von der Individualität eines Menschen. Wie der Körper die Luft in sich aufnimmt, sie wieder ausstösst, Pausen macht oder gar die Luft anhält, wird Ausdruck der persönlichen Eigenart, Entwicklung und vitalen Kraft. Genauso kennen wir diese Dynamik auf der psychischen Ebene als Skriptentwicklung, wenn wir zeitlebens Beziehungserfahrungen als Eindruck in uns aufnehmen, uns dadurch prägen lassen und aus diesem Bezugsrahmen wiederum zum Ausdruck kommen.
Den Atemrhythmus kann ich mit den Händen ertasten. Er dehnt sich in der Zeit und im Raum aus. Ich kann empfinden, wann der Einatem kommt, wie lange er in mich einströmt, wie viel Raum er in mir einnimmt und wann der Ausatem mich wieder verlässt. Ich kann auch das Zurückschwingen der Körperwände und die Dauer der Atempause, die Ruhe empfinden.
Atemqualität und Atemrhythmus reagieren seismographisch auf mein momentanes Befinden und sie zeichnen meine früheren Erlebnisse und Erfahrungen ab.
Arbeiten wir Atemtherapeut*innen mit Menschen in der Einzelarbeit oder in der Gruppe am Atem, bedeutet dies immer auch Arbeit am und mit dem Atemrhythmus. Im Atemrhythmus zeigt sich der Mensch. Er zeigt sich in seiner Individualität, seiner momentanen Befindlichkeit, seiner Kontaktfähigkeit aber auch in seiner Geschichte. Die Arbeit am Atemrhythmus ist ein Dialog mit dem Wesen des Menschen, seiner Individualität und seinem Selbst.
Die drei Atemphasen «Einatem, Ausatem und Atempause», bilden also die Grundarchitektur des Atems. Die von Pat Crossman beschriebene therapeutische Triade der drei P’s «Permission, Protection, Potency» lässt sich ergänzend über diese Struktur legen.


Im Einatem liegt die Erlaubnis zum Sein, zur Hingabe und zum Raum einnehmen.
Ich darf die Person sein, die ich bin, mit allem was mich ausmacht. Mit dem Einatem wird die Erlaubnis aus meinem eigenen wohlwollenden Eltern-Ich wirksam.
Im Ausatem ist die Kraft des Wirkens und des Ausdrucks.
Ich darf Einfluss ausüben, mich ohne Scham und Zweifel zeigen. Die Umgebung hält meinen Ausdruck aus, ich spüre den Rückhalt.
Die Atempause wird getragen vom sicherheitgebenden Schutz, um sich neu sammeln zu können, bevor der nächste Atemzug folgt.
Ich darf mir Zeit nehmen, werde von Aussen und von Innen respektiert in meinem, nach jedem Atemzug aktualisierten Sein.


Die Atemphasen stehen somit für einen sich ständig wiederholenden Zyklus des Werdens und Sterbens. Diese Pulsation ermüdet in ihrer Wirkung bei uns allen im Laufe unseres Lebens. Die Atemarbeit will ungenutzte oder verschollene Körperressourcen wieder stimulieren. Die Arbeit mit Bewegung, direkt am Körper, sowie an der Körperwahrnehmung und am Atem darf daher ausschliesslich ressourcenweckend bis -bildend verstanden sein, hat also auffordernden sowie die Individualität schützenden Charakter.
Voraussetzung ist dementsprechend, dass die Übungen und Berührungen als Angebote zur Selbsterkundung verstanden werden, also ohne Forcierung etwas ganz Bestimmtes spüren oder empfinden zu müssen. Diese Intention rüberzubringen, erfordert viel Fingerspitzengefühl, da wir alle schulsozialisiert, immer das «Richtige» tun wollen. Erst die angekommene Erlaubnis zum Nutzen der eigenen Ressourcen setzen den Menschen in die Lage, Kreativität, Gestaltungsräume und Lebendigkeit ausgeglichener zu erfahren und diese Erfahrung dann auszudrücken und die entstehende Wirkung auszuhalten.


Die drei Atemschenkel
Diese ganzheitliche Körperarbeit beginnt sinnvollerweise mit einem guten stabilen Kontakt zum Boden. Dies stellt bereits eine wichtige Ressource dar, auf der sich dann die weitere Entwicklung aufbauen kann, gespeist aus dieser vitalen Kraft des unteren Raumes. Das weitere Erarbeiten eines wachsenden Empfindungsbewusstseins für die eigenen Körperwände lässt uns Sicherheit und Raum erfahren, um die Präsenz des Selbst bewusst zu erleben. Diese Selbstzuwendung hin zur erlebten innewohnenden Kraft des eigenen Raumes auf sicherem Boden konfrontiert uns mit Skriptbotschaften und tief verankertem Antreiberverhalten. Will ich es beispielsweise allen recht machen, spüre ich meine eigenen Bedürfnisse nicht, neige ich zu Überanpassung?
Verändert sich die eigene Körperwahrnehmung, verknüpfen sich diese vertrauten Gedanken und Gefühle mit der neuen Körperwahrnehmung. Suche ich zum Beispiel lustvoll Kontakt zum Boden unter meinen Füssen auf, spüre meine Körperräume, interagiere ich mit meinem körperlichen Sicherheitsempfinden.
So bewusst den eigenen Körper bewohnen zu wollen, kann Menschen aber auch sehr schmerzhaft mit destruktiven Skriptanteilen in Kontakt bringen.
Da gelten in der Atemarbeit dieselben Vorgehensweisen wie in der Transaktionsanalyse. Aufkommende Widerstände werden als wichtigen unbewussten Schutzmechanismus verstanden. Die sorgfältige Arbeit am Aufbau des stabilen Kontaktes zum Boden, damit ich mich von ihm vertrauensvoll «Tragen lassen» kann, braucht oft viel Zeit. Nächste Schritte werden stets auf gewonnene und gesicherte Ressourcen aufgebaut. In der Transaktionsanalyse kennen wir die vertragsorientierte Prozessbegleitung.
Als möglicher nächster Schritt folgt die Arbeit an der Zentrierung, welche einen sehr bewusst wahrnehmbaren Kontakt zwischen mir und der Umwelt ermöglicht. Oder es wird an der Rückenkraft gearbeitet, an diesem Rückhalt, aus dem heraus ich kraftvoll in die Begegnung oder in die freie Gestaltung gehen kann. Oft erfahren wir an diesen Stellen des Prozesses die stärkende Erfahrung des eigenen Atems als Ressource, welche nicht von unserem Verstand gelenkt wird oder von aussen forciert wird. Dieses Bewusstwerden geschieht also erst über die Erfahrung, das Nachspüren und nicht über das Denken und Imaginieren.
Wenn wir zur Empfindung Zugang finden, betreten wir einen Raum, in dem es keine intellektuelle Bewertung gibt. Das heisst nicht, dass wir keine Unterschiede spüren, die verschiedenen Empfindungen sind «lediglich» unterschiedlich. Spüren wir, wie und wer wir sind, ohne dies vergleichend zu bewerten, erleben wir die Qualität der «Ich bin OK, du bist OK» Haltung.
Ilse Middendorf arbeitete im Einzelsetting als auch in der Gruppe mit dem Atem. Auch hier wieder eine Parallele zu Eric Berne. Einzeln wird sowohl auf der Liege behandelt wie auf Hockern sitzend geübt und bewegt. In Gruppen werden Übungen vorgezeigt, welche dann individuell von den Teilnehmenden übernommen werden. Beim anschliessenden Austausch über gemachte Erfahrungen können die Teilnehmenden die Erlaubnis zu vielfältigen unterschiedlichen individuellen Prozesserfahrungen erleben.
Gewisse Übungen, mit oder ohne Stimme, sowie Berührungen wirken direkt auf die einzelnen Atemphasen ein, wie z.B. Dehnungen oder Druck im Einatem oder Ausatem. Dann gibt es auch Übungsangebote ausserhalb des Atemrhythmus, die helfen, einen sehr fixierten oder angepassten Atem zu lösen. Gerade in den Phasen des Nachspürens, sowohl nach den einzelnen Übungen in der Gruppenarbeit als auch im Einzelsetting z.B. nach der Arbeit an einem bestimmten Bereich, entsteht die Möglichkeit wahrzunehmen, wie der Atem unwillkürlich von selbst, also ohne eine Anregung von Aussen kommt. Gelingt hier eine feine Wahrnehmung der Atembewegung, kann ein innerer Vergleich aufzeigen, ob sich in der Empfindung etwas verändert hat.
Verschiedene Atemmuster
Ein Atemrhythmus kann sich zum Beispiel fixiert zeigen, sehr kurz, eher schnell und meist ohne Pause oder eher lang, mit der Tendenz zum Überziehen mit langer Pause.


Sehr gehaltene, kleine schnelle Atembewegungen, vielfach ohne Pause
Fällt es diesem Menschen schwer, sich Raum zu nehmen und sich auszudehnen? Zieht er sich nach innen zurück? Erklärt dies die hohe Spannung nach innen? Dies sind bewusst gedachte Arbeitshypothesen, denen ich beobachtend nachgehen möchte.
Durch Dehnungen im Einatem, oder vielleicht zuerst durch mehr Dehnungen im Ausatem, möglicherweise durch die Arbeit am «sich-Tragen-lassen» kann ein langsames Nachgeben der hektischen Atembewegungen erlebt werden. Wenn nun dadurch mehr Raum entsteht, wirkt dies zunächst oft verunsichernd. Mit einer noch eingeschränkten Wahrnehmung der eigenen Konturen und Körpergrenzen lässt sich diese Ausdehnung nicht in den eigenen Bezugsrahmen einordnen. In der Skriptarbeit kennen wir dieses Phänomen, wenn Menschen sich ihr Antreiberverhalten abgewöhnen wollen, Fehler zulassen, eigene Bedürfnisse wichtig nehmen, oder Gefühle zulassen, verlieren sie erst mal Halt und Orientierung, da der Boden unter den Füssen noch nicht trägt. Oft führt dies zu Angsterfahrungen, welche sogleich alte Skriptmuster wieder aktivieren lassen. Die gewohnte Art der Kontrolle durch eingespielte Verhaltensweisen geben wieder vermeintlichen Schutz. An der Qualität der Atembewegungen sind diese Prozesse sehr gut zu beobachten. Die Klient*innen brauchen Zeit, sich entspannt an die neue, erstmal als noch nicht ihnen zugehörig erlebte, Körperempfindung zu gewöhnen.
Als Atemtherapeutin entwickle ich mit meinen Klient*innen zusammen einen Behandlungsvertrag, welcher einen Prozess auf der Körperempfindungsebene hin zu einer erwünschten Veränderung zum Inhalt hat. Oft erzählen mir Klient*innen zu Beginn der Atemarbeit unaufgefordert Ausschnitte ihrer Lebensgeschichte, welche sie selbst zu ihrem aktuellen Befinden in Zusammenhang stellen, oder von welchen sie denken, sie würden mir möglicherweise beim Planen der therapeutischen Schritte helfen.
Manchmal tauchen auch sogenannte «Empfindungsgedanken», also einen durch Körperstimulation geweckten Gedanken, auf, was aufzeigt, dass unsere Erfahrungen auch im Körpergewebe gespeichert sind.
Ich wertschätze das mir entgegengebrachte Vertrauen und integriere die erzählten Geschichten aufmerksam in meine Gesamtbeobachtung des Atemgeschehens. Bei sehr belastenden Themen, wie zum Beispiel Gewalterfahrungen und Missachtungen, weiss ich um die unbewussten psychischen Schutzmechanismen der Dissoziation und Fragmentierung, welche sich transaktionsanalytisch an der Unverbundenheit der Ich-Zustände gut beobachten lassen und so Hinweise zu Traumatisierungen geben. Auf der Körperempfindungsebene bilden sich Dissoziationsprozesse sehr unmittelbar und deutlich ab. Gut beobachtbar, wenn Klient*innen auf der Liege beim Behandeln unvermittelt aus ihrer Achtsamkeit heraus wegtauchen, gar nicht mehr wahrnehmen, was passiert. Liegend bin ich viel näher am Unbewussten als in der sitzenden Position auf einem Hocker. Auch körperlich wirken Traumatisierungen also desintegrierend. Vor diesem Hintergrund entscheide ich, ob ich mit meinen Klient*innen auf dem Hocker oder auf der Liege arbeiten will.
Es ist – im wahrsten Sinn des Wortes – sehr berührend zu beobachten, wie eine an sich banale vorgezeigte Aufforderung, sich zum Beispiel die Beine auszustreichen oder abzuklopfen, als völlig neue und damit auch verwirrende Erfahrung wahrgenommen werden kann. Der Körper an sich ist etwas sehr Konkretes und wird trotzdem oft nicht als solches wahrgenommen.
Da kann es helfen, die Körpergrenzen immer wieder durch Berührung deutlich zu betonen. Durch die Aufmunterung, sich gut auszustreichen, die Körperwände abzuklopfen oder zu Summen, was jede Zelle im Körper zum Schwingen bringt, fördern wir die bewusste Körperempfindung und gleichzeitig einen Weg der Selbstzuwendung des liebevollen Umgangs mit sich selbst. Abwechselnde Arbeit ausserhalb des Atemrhythmus erlauben der Person, immer mehr loszulassen und die überbetonte Kontrolle löst sich mit der Zeit immer klarer auf.
Erst jetzt wird «Raumerfahrung» überhaupt möglich. Das heisst, der kleine gehaltene und pausenlose Atem kann sich nun immer mehr Raum nehmen. Dieser Prozess wirkt erlaubend, die eigenen Bedürfnisse deutlicher wahrzunehmen und dafür einzustehen. Wenn ich dabei behilflich sein kann, dass der eigene Körper mit Freude und Sicherheit Stück für Stück wieder bewohnt wird, gewinnen die Klient*innen Kraft, um ihren Phönix aus der Asche wieder aufsteigen zu lassen.


Eine langsame, grosse, aber auch sehr kontrollierte Atembewegung mit langer Pause
Der Atem wird deutlich geholt und oft über das eigentliche hinreichende Mass hinaus überzogen. Damit geht der Atem meist auch mehr nach oben in den Brustraum, als in den Bauch und das Becken. Atem und Ruhe wird dann «gemacht» und nicht gelassen, kann so nicht «erfahren» werden. Ich kann mich wohl wahrnehmen, aber ausschliesslich über das Tun. Fällt das Tun weg, dann fällt der Atem und der Raum in sich zusammen und ich kann meistens auch nicht mit bewusster Achtsamkeit dabeibleiben. Stehen hier die Kontrolle und das Vermeiden von echter unbedingter Lebendigkeit, oder vielleicht auch von autonomen Gefühlen im Vordergrund?Bei einem solchen Muster lade ich direkt über das «Tor des Tuns» ein, zu warten, bis der Atem von selbst kommt, den Einatemimpuls wahrzunehmen und ihm zu folgen.
Die Arbeit ausserhalb des Atemrhythmus kann dann auch ermöglichen, dass die Kontrolle sich immer mehr verabschiedet. Gleichzeitig gilt es zu üben, die Achtsamkeit über die ganze Zeit zu halten.


Nachhaltigkeit
In der Atemarbeit erlebe ich in unterschiedlicher Intensität oft, dass das Anstossen neuer oder aufgefrischter Körperwahrnehmung bei den Klient*innen nachhaltig wirkende Prozesse in Gang setzen. Nehmen die Klient*innen bewusst wahr, dass sich ihr Atem im Körper mehr Raum nimmt und sich dies auch in ihrer «Aussenwelt» zeigt.
Die bewussten Neuentscheidungen wirken dann nachhaltig, wenn sich das Selbstvertrauen mit dem Atem wieder mehr Raum genommen hat. Der Atem ist uns ein sehr intimer Begleiter, welchen wir im Alltag wohl allzu oft übergehen oder unbewusst in ein Korsett zwängen. So wie der permanente innere Dialog zwischen meinen Ich-Zuständen, bildet er einen unversiegbaren Quell der Lebendigkeit und der Entwicklung, besonders wenn wir uns vertrauensvoll hingeben.
Wenn der Phönix aus der Asche erwacht und seine Flügel ausbreitet, ist die Anstrengung nicht mehr nötig. Dem Antreiber «streng dich an!» steht die Erlaubnis als Erkenntnis entgegen, dass der Atem schon von allein kommt. Ich muss ihn gar nicht holen, er wird mir geschenkt.



Literatur
Faller, N. (2003) Trauma und Atemarbeit, Diplomarbeit,
www.atemlehre.at
Fischer, K. & Kemmann-Huber, E. (1999) Der bewusste, zugelassene Atem, Urban und Fischer
Middendorf, I. (1985) Der Erfahrbare Atem, eine Atemlehre, Junfermann, Paderborn
Schlegel, L. (2020) 6. Auflage, Die Transaktionale Analyse, DSGTA, Zürich




Carlota Jucker
Dipl. Atemtherapeutin, Komplementär Therapeutin mit eidgenössischem Diplom
Supervisorin OdA KT
Atem – Tonus – Ton®, Körperorientierte Stimmpädagogik
Praxiskompetenz in Transaktionsanalyse
Ausbilderin mit eidg. Fachausweis
Fachlehrerin im Bereich Pflege
Dipl. Pflegefachfrau HF
Seit über 20 Jahren im Bereich Bildung und Coaching von Jugendlichen tätig
Richard Jucker
Zertifizierter Transaktionsanalytiker CTA-E
Supervisor BSO
Mediator
Ausbilder mit eidg. Fachausweis
Aussendozent in Lehre und Supervision an Fachhochschulen für Soziale Arbeit
Dipl. Soziale Arbeit FH
Seit 40 Jahren in Feldern der Sozialen Arbeit tätig
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