artikelmai2021

Wenn schon kündigen, dann bitte fair!

Autorin: Claudia Scherrer – Wir bedauern sehr. Es tut uns leid. Wir haben uns entschieden. Wer einen solchen Satz anfängt, tut das nie mit Freude und grosser Lust. Denn angetreten als Führungskraft sind alle, um Erfolg zu haben, Ziele zu erreichen, etwas bewirken zu können, Einfluss zu nehmen. Schlicht, um mit Teams Spass zu haben. So hat jede Kündigung ihre Vorgeschichte. Manchmal lief es über lange Zeit gut. Manchmal verändert sich das Verhalten oder die Leistung des Mitarbeitenden plötzlich. Manchmal prägen die ‘Auf und Ab’s’ seit Anstellungsbeginn die Zusammenarbeit. Meist gehen Gespräche voraus, lange Prozesse der Entscheidungsfindung, abwägen, was für das Unternehmen, die Kunden, Teams am besten ist. Bevor es dann zum Kündigungssetting kommt. Zum provozierten Zusammenbruch.
Schauen wir uns im Folgenden eine Kündigungssituation aus zwei Perspektiven an: aus der Sicht des Mitarbeiters, der die Kündigung erhält. Und aus der der Führungskraft, der die Kündigung ausspricht.
Der Zusammenbruch zum Ersten
Aus der Sicht von Karl Grossenbacher, 56 Jahre alt, Familienvater
Karl kommt zur Arbeit. Er fühlt sich innerlich nervös. Sein Magen rebelliert. Aber das ist jetzt seit Wochen so und er schenkt dem gar keine Aufmerksamkeit mehr. Am prunkvollen Gebäude seiner Firma angekommen, nimmt Karl die Treppen in den dritten Stock. Wenigstens ein bisschen Fitness, denkt er. Für ausgedehnten Sport bleibt keine Zeit, seit im Business ein Projekt das andere jagt. Wie gewohnt geht er an seinen Arbeitsplatz, grüsst seine Kolleginnen und Kollegen im vorbei gehen nur knapp. Das Lächeln ist ihm schon lange vergangen, er hat praktisch keinen Bezug mehr zum Team. Es kommt ihm vor, als wären sie da und er dort. Na ja, die Jungen haben auch eine ganz andere Arbeitsmoral. Die Griffe sind automatisiert: Jacke aufhängen, Knopf auf PC drücken, Bildschirm gerade drehen, Wasserflasche hinstellen, Tastatur nach vorne ziehen. Durchatmen, Schultern kurz bewegen, aufrechte Sitzhaltung. Los geht’s. E-Mails checken, internes Kommunikationstool nach aktuellen Posts durchscrollen, Projektstatus prüfen.
Da steht auch schon die HR-Verantwortliche vor ihm und bittet ihn, mit zu kommen. Erstaunt schaut Karl sie an. Seine Gedanken schiessen durch den Kopf, er versucht ein Lächeln und steht dann auf, folgt ihr. Im Rücken spürt er die Blicke. Er versucht sich auf das Gehen zu konzentrieren, das Kopf Kino auszuschalten und seine Vorahnung ‘da kommt nichts Gutes’ zu unterdrücken. ‘Wo gehen wir denn hin? Ich wusste gar nichts von einem Termin…’ ‘Wir sind gleich da, Karl. Ja, es ist richtig, ich habe dich nicht vorgängig eingeladen. Schau, hier sind wir schon im Sitzungszimmer. Nimm bitte Platz.’ Im Sitzungszimmer ist bereits der Chef von Karl. Eigentlich kommt er gut klar mit ihm. Sie lassen sich gegenseitig in Ruhe. Es müssen um die 12 Jahre sein, dass die beiden schon miteinander arbeiten. Als er neu gekommen ist, der Chef, hat Karl ihm einiges gezeigt und ihn in die spezifischen Fachthemen sogar richtig gut eingearbeitet. Dafür war ihm sein Chef immer dankbar, das hat er gespürt. Obwohl er ihn vor dem Druck auch nicht abgeschirmt hat und er auch schon heftig Kritik einstecken musste: zu langsam, zu wenig offen für neue Wege. ‘Karl, es tut mir leid, wir haben uns entschieden… Arbeitsvertrag auflösen… Drei Monate Kündigungsfrist... Letzter Arbeitstag!’ Details kriegt Karl nicht mehr mit. Innerlich knickt er ein, bricht zusammen. Er fühlt sich wie ein kleiner Knabe, der nicht weiss, ob er in Tränen ausbrechen oder einen Wutanfall kriegen soll. Ob er einfach nicken oder lauthals protestieren soll. Scham, Angst, Verzweiflung. Am liebsten einfach; weg hier.
Der Zusammenbruch zum Zweiten
Aus der Sicht des Chefs, Oliver Keller, 46 Jahre alt, ledig
Immer dieser Druck von oben! Als ob nicht schon alle ihr Bestes geben und die Ziele vor Augen haben. Oliver liebt seinen Beruf und vor allem blüht er auf, seit er Vorgesetzter ist und mit grossen Teams arbeiten kann. Irgendwie ist er da reingerutscht Mitte 30 und hat sich dann aber erstaunlich wohl gefühlt. Er war schon immer ein guter Kommunikator und konnte andere begeistern. Das kam ihm nun zu Gute. In ein paar Führungsseminaren hat er auch das Handwerk gelernt, wie Delegieren, Ziele setzen, Menschenkenntnisse. Jetzt aber ist alles anders seit der Krise. Plötzlich gehen die Umsätze den Bach runter und die Kosten fliegen ihm um den Kopf. Und kein Ende ist in Sicht. Mittlerweile besteht das Mutterhaus darauf, dass er mindestens einen Mitarbeitenden pro Einheit abbaut. Also drei ihm unterstellte Mitarbeiter. Anfänglich hat Oliver das Gespräch gesucht mit seinen Vorgesetzten im Ausland. Um Aufschub gebeten; ‘ich schaffe das, die Umsätze kommen wieder’. Er war echt verzweifelt, hatte sogar den Impuls, den Bettel hin zu schmeissen. Oder beleidigend zu werden. Er weiss aber, dass er damit die Situation nicht besser macht, im Gegenteil, zum Schluss steht er dann plötzlich noch selber im Schussfeld.
Deshalb reisst er sich zusammen und definiert Kriterien, nach denen er entscheiden will:
1. Leistungsnachweis in der Vergangenheit
2. Potential für die Zukunft
3. Leistung und Verhalten jetzt, während der Krisenzeit
Er erstellt sich ein Punkte-System von 1 – 10 und verteilt dies in einer Matrix zu den Namen seiner Mitarbeitenden. Er schläft drüber und bespricht seine Ergebnisse mit der Verantwortlichen im HR. Ihre Meinung ist ihm wichtig. Schliesslich hat sie einen guten Überblick,
ist zwar erst seit 4 Jahren im Unternehmen, kennt ihn und die Organisation jedoch sehr gut. Nach langen Gesprächen, hin und her abwägen, einigen sie sich auf Karl und zwei weitere Mitarbeitende. Im Punktesystem von Oliver hatte Karl zu den Punkten 2 und 3 die tiefste Punktzahl. Hinzu kommt, dass er in der Vergangenheit in den Feedback-Gesprächen bereits Kritik ausgesprochen hatte.
Oliver sitzt als erster im Sitzungszimmer, als die HR-Verantwortliche mit Karl hereinkommt. Die Nervosität ist fast atemraubend. Er hat das Gefühl, am ganzen Körper zu zittern und gar keine Stimme mehr zu haben. Er war doch sonst so taff, was das nur ist, dass er jetzt am liebsten einfach abhauen möchte, wie damals, als Kind. Wenn er seinen Vater enttäuschte. Da hat er sich jeweils verkrochen. Sein Vater gab ihm aber auch das Gefühl, ein kompletter Versager zu sein. Während er die Sätze spricht ‘haben uns entschieden… Auflösung… Kündigungsfrist…’, bricht er innerlich zusammen, verhaspelt sich und nimmt Karl nur durch einen Schleier wahr. Einfach nur: schnell fertig machen und weg hier.
Was ist passiert?
…Ein Blick in die Transaktionsanalyse
Die Ich-Zustände gehören zu den Basis-Konzepten der Transaktionsanalyse. Die drei Ich-Zustände beschreiben das Denken, Fühlen und Verhalten, das wir zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Aussen zeigen. Sie beziehen sich auf einen Teil unserer Persönlichkeit und werden in drei Ich-Zuständen unterschieden. (siehe Grafik).
Und im funktionellen Modell wird das ‘wie’, das Verhalten und der Prozess beschrieben. Die Anwendung wird ebenfalls in der Graphik aufgezeigt. Dadurch wird das Modell leicht verständlich und nachvollziehbar.
Was heisst das nun für unsere Beispiele?
Die Asche oder am Boden zerstört
Karl und Oliver sind durch die Kündigung erschüttert in ihren Werten. Wie in den zwei unterschiedlichen Perspektiven aufgezeigt, leiden beide unter der Situation, waren teilweise überfordert, weil sie letztlich unvorbereitet in diese einschneidende Krisensituation geführt wurden.
Karl Grossenbacher
Karl schwankt zwischen ‘kritischen Eltern-Ich’ (das macht man nicht, ich bin schliesslich schon lange dabei, habe so viel geleistet und jetzt kommt der junge Chef, den ich eingeführt habe! Das ist unmoralisch!) und dem ‘rebellischen Kind’ (sowas lass ich mir nicht bieten, ich beschwere mich, du wirst schon sehen, Chef! Er wird innerlich laut und möchte am liebsten den Stuhl rumwerfen) und dem ‘angepassten Kind’ (was wird jetzt aus mir? Ich finde in meinem Alter nie mehr eine Stelle, was sagen die Nachbarn, wenn ich plötzlich nur noch zu Hause rumsitze, was denken meine Kinder von ihrem Vater, meine Frau. Wie soll es nur weiter gehen?).
Seine Gefühle lähmen ihn.
Oliver Keller
Bei Oliver sieht es ähnlich aus. ‘Sei kein Weichei, sowas musst du doch hinkriegen, das steckst du einfach weg!’ Kritisches Eltern-Ich. Und gleichzeitig: ‘Du musst für deine Mitarbeitenden sorgen, du bist verantwortlich, dass es ihnen gut geht.’ Fürsorgliches Eltern-Ich. ‘Nicht einmal das kriegst du hin.’ Kritisches Eltern-Ich. Aber auch: ‘Wieso tut der Karl so schwierig, ich habe es ihm ja immer wieder gesagt! Der hätte das kapieren müssen und jetzt tut er so überrascht.’ Rebellisches Kind. ‘Ich habe doch gar nichts dafür, die da oben haben es mir einfach befohlen. Was kann ich denn schon ausrichten?’ Angepasstes Ich.
Das Gedanken Karussell lässt nicht locker und die Gefühle kommen wellenartig. Er ist im Schraubstock und will am Morgen gar nicht mehr aufstehen.
…Aus Fachexperten Sicht
Gerne bleibe ich bei den zwei Perspektiven. Dieses Mal jedoch verlasse ich die individuellen Beispiele mit Karl und Oliver. Ich fokussiere auf die allgemeine Ebene und schreibe aus der Sicht ‘der Gekündigten’ und aus der Sicht ‘der Führungskräfte’. Denn diese zwei Protagonisten sind in jeder Kündigungssituation wieder zu finden. In der Öffentlichkeit richtet sich der Blick häufig auf die austretende Person. Richtige Horrorgeschichten sind zuweilen zu hören und schnell passiert eine Solidarisierung mit dem Opfer von Arbeitgeberkündigungen. Dabei wird der Prozess der Führungskraft, die Kündigungen ausspricht, oft vergessen. Aus meiner Praxiserfahrung weiss ich, dass dies für viele eine enorme Herausforderung ist. Und, dass sie fast immer alleine gelassen werden damit.

Aber eines nach dem anderen.
Aus der Perspektive von Gekündigten: Kann eine Kündigung fair sein?
Ja, natürlich! Allerdings ist das von verschiedenen Faktoren abhängig. Und letztendlich auch von der Person selber. Schafft sie es, nach dem Misserfolg wieder aufzustehen? Einen Weg aus der Krise heraus zu finden? Und wie lange dauert dieser persönliche Prozess? Bei einer ungewollten Trennung von einer Arbeitsstelle sind einschneidende, ja existentielle Themen betroffen. Ausgedrückt mit den drei Hungern nach Eric Berne geht es um Folgendes:
Hunger nach Anerkennung und Akzeptanz: Zugehörigkeit wird erschüttert, Möglichkeit von Lob/Tadel entfallen, finanzieller Status geht verloren und damit verbundene Sicherheit.
Hunger nach Anreizen: Sinn und Erfüllung gehen verloren, Stimuli wie Herausforderung, Abwechslung sind nicht mehr da, Pflegen von Kontakten, Beziehungen werden reduziert.
Hunger nach Struktur (wobei dies im ersten Moment noch nicht sichtbar ist): Es fehlen ein klarer Tagesrhythmus, vorgegebene Leitplanken und ein von Aussen definierter Rahmen, wie zum Beispiel durch den Arbeitsplan.
Da ist es nachvollziehbar, dass die Auflösung des Arbeitsvertrages zu einem Zusammenbruch führen kann, zu einer persönlichen Krise und zu Zukunftsängsten. So hart es klingt; tatsächlich braucht es manchmal Erschütterungen von Aussen, um weiter zu kommen. Um einen Schritt in der persönlichen Entwicklung zu machen. Führt die Kündigung allerdings zu einem traumatischen Erlebnis, das tiefe Wunden hinterlässt, ist dies verantwortungslos seitens des Unternehmens und auch unnötig. Berücksichtig ein Arbeitgeber nämlich folgende Kriterien, kann eine Kündigungssituation mit der Zeit als ‘hart, aber fair’ empfunden wird:
1. Aussprechen von Vorwarnungen, z.B. in Form von Feedback- oder Kritikgesprächen
2. Klare Botschaften und ehrliche Gründe im Kündigungsgespräch
3. Wertschätzende Führung während der Kündigungsfrist

Was heisst das konkret?
1. Aussprechen von Vorwarnungen
In einer Zusammenarbeit geht es um Leistung und Verhalten und daraus ergeben sich Resultate. Diese Resultate werden unter anderem gesteuert durch Führungsgespräche wie Probezeit, Feedbacks, Jahresgespräche, Vereinbaren von Zielen, Informationen. Aber auch Kritik, Aktennotiz und Verwarnungen. Dies sind ‘Vorwarnungen’, die den Mitarbeitenden transparent merken lassen, woran er in Bezug auf sein Verhalten, seine Leistung oder die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens beziehungsweise deren Strategie ist. Damit erhält er die Gelegenheit, aktiv darauf zu reagieren, sein Verhalten zu ändern oder seine Leistung zu verbessern. Auf Grund dieser Vorgeschichten erfolgen dann weiterführende Entscheidungen der Führungskräfte – im Extremfall kommt es zur Kündigung. Gerne betone ich, wie zentrale Gespräche im Führungsalltag sind, sie bauen Vertrauen auf, machen Werte transparent und geben Leitplanken! Der betroffene Mitarbeiter erlebt den Entscheid somit nicht als willkürlich oder komplette Überraschung und fühlt sich nicht ohnmächtig ausgeliefert.
2. Klare und ehrliche Botschaften
Mit dem Kündigungsgespräch wird der Mitarbeiter über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt. Definitiv und verbindlich. Dies löst Stress aus (siehe ‘Hunger’ weiter oben) und die entsprechenden Reaktionen sind bereits im Gespräch spürbar oder gar körperlich sichtbar: zum Beispiel verändert sich die Atmung oder die Hautfarbe. Unter Stress ist die Aufnahmefähigkeit stark eingeengt, alle Sinne sind in Alarmbereitschaft.
Klare Botschaften und ehrliche Gründe (am besten nur einer) geben dem Mitarbeitenden Struktur und die Möglichkeit, das Gesagte zu hören und zu verstehen. Nichts ist verwirrender, als ausschweifende und umständliche Sätze, die Türen für Zweifel offen lassen: ‘Was passiert jetzt gerade?’ ‘Werde ich wirklich gekündigt?’ Oder das Gefühl geben, es gibt noch Hoffnung. Oder gar, dass noch etwas anderes oder mehr dahintersteckt. Leider kenne ich einige Beispiele, da dachte der Mitarbeiter zuerst, er würde befördert. Oder nach gefühlt 15 Minuten blabla haben sie nachgefragt: ‘Was wollen Sie mir genau sagen?’ Auch schon wurde ich von einer Kundin gefragt: ‘Ich glaube, die haben mir gerade gekündigt. Aber ich bin nicht sicher. Was mach ich denn jetzt?’ Das hat dann nichts mit Fairplay zu tun. Und bleibt häufig sehr lange in Erinnerung. Deshalb; klare und ehrliche Botschaften, mit einer wertschätzenden Grundhaltung.
3. Führung während der Kündigungsfrist
Am darauffolgenden Tag wieder an der Arbeit zu erscheinen ist herausfordernd für den Gekündigten. Er fühlt sich automatisch in der Defensive. Gehört jedoch dazu. Denn ab jetzt ist die Kündigung öffentlich. Kollegen, Teams werden informiert, je nach Position auch externe Stellen oder gar die Medien.
Auch der Gekündigte trägt die Botschaft nach Hause, informiert Partner, Eltern, Kinder. Was – in Klammern – oftmals eine enorme Belastung ist und die grösste Angst im Moment nach dem Kündigungsgespräch. Ein offen kommunizierter Kündigungsgrund hilft bei diesem Gespräch, das von Scham und Versagensgefühlen geprägt ist.
Eine Zusammenarbeit während der Kündigungsfrist ist üblich und gehört zu den Pflichten eines Arbeitnehmers. In dieser Zeit ist die Führung durch den Vorgesetzten matchentscheidend. Gespräche, Anerkennung, Wertschätzung helfen dem Mitarbeiter, im Erwachsenen-Ich der Arbeit nach zu kommen. Den Team-Kollegen auf Augenhöhe zu begegnen und die Kunden zu bedienen. Diese Hilfe durch Führung kann den Mitarbeiter schneller wieder auf die Beine bringen und unterstützen ihn im persönlichen Prozess. Und wer weiss, vielleicht gelingt es, dass er sich bereits zum Ende der Kündigungsfrist wieder neu orientieren kann. Fehlt die Führung nach der Kündigung gänzlich, ist ein hohes Risiko, dass der Mitarbeiter im Kind-Ich bleibt, vor lauter Gefühlen in ein Loch fällt und mit Krankheit und längeren Absenzen rebelliert. Oder aus dem Eltern-Ich einen Rechtsstreit in die Gänge setzt, der aufwändig an Zeit und Emotionen ist.
Aus der Sicht der Führungskraft
Inwiefern eine Führungskraft die ausgesprochene Kündigung als fair empfindet, ist auch hier von den oben erwähnten Kriterien abhängig. Die Entscheidung, eine Kündigung zu fällen, geht an die Nieren. Vor allem, wenn eine nahe Verbindung besteht, vieles gemeinsam durchlebt wurde. Vielleicht sind gemeinsame Projekte erfolgreich gelungen. Oder Kundenreklamationen konnten zum Guten gewendet werden. Vielleicht hat das Team immer zusammen die Mittagspause verbracht. Oder der Chef weiss, dass beim Mitarbeiter der Haussegen schief steht.
Eine Kündigung entscheiden und aussprechen bedeutet: die Beziehung auflösen! Und die andere Person zurückweisen. Das setzt persönliche Prozesse in Gang und weckt Schuldgefühle. Auf der einen Seite erinnert sich die Führungskraft an eigene Situationen, in der sie abgewiesen wurde. Zum Beispiel von den Elternfiguren, von einem Lehrer, von einem Chef. ‘…Und jetzt soll ich der Täter sein?’ Erschwerend ist (oder auch: Gott sei Dank), dass Kündigungen nicht an der Tagesordnung sind und in der Regel wenig Übung darin besteht.
Und der dritte Faktor, der noch einen draufsetzt: Kündigungen sind Krisensituationen. Unsicherheit prägt Krisen. Das heisst, nicht alles ist planbar. Und immer wieder kommen Unbekannte ins Spiel, die dann rasch erkannt, bewertet und adaptiert werden müssen. Ja, aus diesen Gründen sind auch für die Führungskraft die drei Kriterien –Vorwarnungen – Klarheit und Ehrlichkeit im Kündigungsgespräch – wertschätzende Führung und Begegnungen während der Kündigungsfrist – zentral, ob die Führungskraft im Nachhinein sagen kann: ‘ich habe alles gemacht, was in meiner Führungsrolle möglich ist. Und es war zwar hart, aber fair’.
Der Phönix aus der Asche oder der Weg hinaus führt über das Erwachsenen-Ich
Kommen wir zurück zu unseren Beispielen und betrachten wir uns, wie sie es geschafft haben, aus dem Tief heraus zu kommen und gestärkt in die Zukunft zu schauen.
Karl vertraut sich seinem Umfeld an
Die Herausforderung für Karl ist nun, mit seinen Gefühlen der Trauer über den Verlust des Arbeitsplatztes klar zu kommen. Auch mit der Enttäuschung und den Schamgefühlen. Ja, mit der Angst vor der Zukunft. Das heisst, diese anzunehmen, ihnen Raum zu geben und sie im hier und jetzt zu zulassen. Ein Austausch mit Vertrauenspersonen, die ihn gut kennen, ihm wohlgesinnt sind und einfach zuhören. Das hat ihm sehr geholfen. Er hat erkannt, dass er mehr als sein Jobtitel ist und ist sehr froh, dass es ihm gelungen ist, mit seiner Frau von Anfang an offen zu reden. Während der Kündigungsfrist weiterhin im Arbeitsprozess stehen ist nicht einfach, bietet jedoch die Möglichkeit, auf andere Gedanken zu kommen, sich auf das ‘tun’ zu konzentrieren. Während dieser Zeit nutzt Karl die Chance, den Kind-Ich Zustand zu verlassen, um ins Denken und Handeln zu kommen. Er befreit sich von den lähmenden Emotionen.
Unterstützend ist für Karl der Prozess bei der Regionalen Arbeitsvermittlung. Zugegeben, ein administrativ mühsamer Prozess, jedoch prioritär, weil dies für die Zukunft von grosser Wichtigkeit ist. Nicht zuletzt, um die finanzielle Existenz abzusichern. Und so schwierig der Gang zu den Ämtern sein mag, Karl holt auch dies aus seinem Tief heraus, er kann sich Schritt für Schritt seiner Zukunft zuwenden.
Parallel hat er sich mit Blättern und Buntstiften ausgestattet. Er hat sich entschieden, mit sich selber eine ehrliche Standortbestimmung zu machen. Und Informationen über sich selber und sein bisheriges berufliches Leben zu analysieren. Damit ist er im Erwachsenen-Ich und macht einen ersten Schritt Richtung neue Herausforderung. Auf drei Blättern hält er fest:
1. Jobinhalte, Aufgaben, Verantwortungen, die ihn bisher erfüllt haben.
2. Fähigkeiten, Stärken, die ihm Spass machten und ihn die Zeit vergessen liessen.
3. Rahmenbedingungen, die nicht zu diskutieren sind.
Daraus entwickelt er eine Vision und klärt sein Vorgehen. So kann er sich bereits nach vier Monaten selbstsicher auf dem Arbeitsmarkt bewegen und er freut sich sogar, auf eine neue Tätigkeit.
Oliver macht den Schritt nach Aussen
Oliver hat sich Unterstützung geholt. Er reflektiert nun seine Rolle und die damit verbundene Verantwortung für den Kündigungsprozess. Im Rückblick erkennt er, dass er den Entscheidungsprozess im Erwachsenen-Ich gestaltet hat. Das stärkt ihn und er ist bereit, das Kündigungsgespräch zu verarbeiten. Oliver stösst auf ungeklärtes in der Beziehung zu seinem Vater. Überrascht erkennt er, dass er unter dem Stress des Kündigungsgesprächs wieder in seine Kindheit zurückgefallen ist und sich plötzlich wieder wie damals verhalten hat. Schritt für Schritt löst er diese Muster auf. Mit der nötigen Distanz kann er jetzt seine Haltung zu Karl und seinen zwei anderen Mitarbeitern ändern. Indem er nicht mehr aus dem kritischen Eltern-Ich zu sich selber redet (‘das macht man nicht’) und nicht mehr aus dem fürsorglichen Eltern-Ich in die Überverantwortung geht, erarbeitet er sich ein neues Rollenbewusstsein.
Oliver freut sich über die neue innere Klarheit, die er gewonnen hat und die ihn als Führungspersönlichkeit stärkt. Er ist bereit, mit seinem nun kleineren Team die Zukunft erfolgreich zu gestalten.
Claudia Scherrer
HR- und Kündigungsexpertin
TA Grundausbildung und mehrere Jahre Fortgeschrittenen-Training, sowie Vorbereitung auf den Abschluss zur Beraterin SGfB. SVEB Zertifikat und durchlaufene Ausbildung zur Ausbildnerin.
info@claudiascherrer.com
+41 (0)79 279 37 47
www.claudiascherrer.com
Hier den Artikel drucken oder downloaden: info.dsgta.ch/download/A1139/03-artikel-mai21.pdf

artikeljuni2021

Aufbruch und Neubeginn durch Neuentscheidung
Leben statt überleben

Autorin: Gabriele Frohme – Phönix aus der Asche ist der Titel einer Mythologie, welche darstellt, wie der Vogel Phönix in den frühen Sonnenstrahlen verbrennt, um dann gesund und jung aus seiner Asche wieder aufzuerstehen. Phönix wurde zum Sinnbild der Auferstehung.
Was bedeutet diese Sage für den psychotherapeutisch/beraterischen Kontext? Diese Entwicklung können wir in unserem Leben häufig beobachten. z. B. in unserem körperlichen Bereich, wenn Zellen absterben und sich neue Zellen entwickeln, wie z.B. unsere Hautzellen. Sie sterben ab, und es entwickeln sich neue Zellen. Blutzellen, wie die roten Blutkörperchen leben 120 Tage und erneuern sich dann. In unserem Wunderwerk Körper gibt es viele solcher Beispiele des Absterbens von Zellen und anschließender Erneuerungen.
Ähnliche Entwicklungen können wir auch bei unserer Psyche beobachten, wenn wir aus einer schweren Krise gestärkt hervorgehen. Beginnen wir erst etwas Neues, wenn wir gar nicht mehr weiterwissen? Müssen wir erst „am Boden liegen“ bevor wir unsere Lebensumstände ändern können? Kann „Phönix aus der Asche“ ein Sinnbild und eine Anleitung zur Selbsthilfe sein? Oder können wir auch durch eine Einsicht bei Problemen und Konflikten unser Leben ändern? Menschen fühlen sich ausgebrannt, leer und lassen womöglich die verbrannte Asche zurück, um ein altes Leben aufzugeben. Das „Funktionieren“ hat keine so große Priorität mehr, und es ist dann möglich, sich dem Leben neu und anders zuzuwenden. Trennungen werden vollzogen, wie die womöglich lang erwogene Kündigung des Arbeitsplatzes, die schon lange überfällig war. Andere belastende Situationen wie auch nicht mehr tragfähige Beziehungen werden oft nach einem Zusammenbruch (dem Sterben wie bei Phönix) für Neues und Besseres aufgegeben. Wir alle erleben in unserem Leben Rückschläge und Krisen, dabei ist es langfristig entscheidend, wie wir mit Krisen, sei es körperlich oder psychisch umgehen, und ob wir dadurch gestärkt „auf-stehen“. Ein Schwerpunkt meiner psychotherapeutischen Arbeit ist die Psychosomatik. Damit meine ich die Wechselwirkung zwischen Körper (Soma) und Psyche.
Um dies zu verdeutlichen, beschreibe ich ein authentisches Beispiel aus meiner Praxis mit einer Tumorpatientin. So eine Krebsdiagnose wird als Todesdrohung erlebt.
Anne ist 25 Jahre alt und arbeitet als MTA (Medizinisch Technische Assistentin). Im Erstgespräch erzählt sie mir folgendes: „Ich komme zu ihnen, weil mir meine Ärztin angeraten hat, unbedingt eine Psychotherapeutin aufzusuchen. Jetzt bin ich hier. Ich bin 25 Jahre alt und habe zum 2. Mal Eierstockkrebs. Eigentlich ist es schon das 3. Mal. Die erste Diagnose wurde gestellt, als ich 17 Jahre alt war. Meine Eltern und die behandelnden Ärzte haben diese Diagnose immer vor mir geheim gehalten.“ Hier zeigen sich schon erste „typische Sätze", welche für die Psychotherapie bedeutungsvoll sind.
Zuerst einmal sucht die Patientin den Weg zur Psychotherapie auf Grund des Anratens einer Ärztin auf, also nicht aus eigenen Überlegungen und Wünschen. Sie hat die Tragweite der damaligen Kränkung des „Geheimhaltens“ ihrer Krankheit durch ihre Eltern bis jetzt nicht erkannt, geschweige denn überwunden. Ich gebe Anne als erstes einmal Informationen zu dem Ablauf einer Psychotherapie, da sie verunsichert ist „wie eine Therapie so abläuft“. Ich vereinbare mit ihr, dass sie alles in Ruhe überlegt, auf ihre innere Stimme hört und mich dann nach spätestens drei Tagen anruft, um Ja oder Nein zur Psychotherapie zu sagen. Diese Vorgehensweise praktiziere ich gerne, da ich den Patienten eine verbindliche Vereinbarung, gemäß der Vertragsarbeit, vorschlage. Die Vertragsarbeit in der TA zeichnet sich durch gegenseitige Vereinbarungen aus. Diese beinhalten neben den administrativen Regelungen (Häufigkeit und Dauer der Sitzungen etc.) im Wesentlichen die Therapieziele. Patienten werden nach dem „Sacken lassen" der Informationen der ersten Therapiestunde eine Entscheidung für oder gegen die Therapie treffen können. Damit habe ich nicht nur die bewusste Entscheidung der Patienten (Erwachsenen-Ich), sondern durch die Sicherheit und Vertrauen bildenden Erklärungen das „innere Kind" auf der therapeutischen Seite. Das ist gerade dann wichtig, wenn es ängstlich ist und nicht weiß, was kommt und sich alles am Anfang „komisch“ anfühlt.
Anne rief am nächsten Tag an und berichtete mir, dass sie auf jeden Fall die Therapie bei mir beginnen möchte, nach dem Motto: „Schlimmer als bisher kann es ja nicht kommen".
Sie erzählte mir folgendes: Anne wurde als drittes Kind geboren, sei aber als Einzelkind (Nachzögling) aufgewachsen. Ihren älteren Bruder habe sie kaum erlebt, da er bereits ausgezogen war. Zu ihrer Schwester habe sie ein herzliches Verhältnis. Mit ihr könne sie gut reden, ohne unterbrochen zu werden. Das Verhältnis zu ihrer Mutter beschreibt sie als sehr eng. Die Mutter sage ihr, was gut für sie sei, wann sie schlafen gehen und was sie essen soll. Der Vater verhält sich distanziert und meist schweigsam. Eine Ablösung aus dem Elternhaus, z.B. durch Rebellion, fand nicht statt. Anne empfand ihr Verhalten mit „brav/ angepasst sein“ als normal. Sie nahm die Kontrolle der Mutter zunächst nicht wahr, war nur „ab und zu genervt“. Sie absolvierte nach der Schule die Ausbildung zur MTA und arbeite sehr gerne in diesem Beruf. Sie lebt bei ihren Eltern in einem kleinen Zimmer von 8 m².
Mit 17 Jahren erkrankte sie zum ersten Mal an Eierstockkrebs. Dies wurde ihr damals in Absprache zwischen ihren Eltern und den Ärzten nicht mitgeteilt. Ihr wurde gesagt, sie müsse am Blinddarm operiert werden. Anne erlitt mit der Konfrontation der Diagnose Eierstockkrebs 7 Jahre später einen Schock, als ihr der Arzt erklärte…“der Krebs sei wieder aufgetreten“. Zum jetzigen Zeitpunkt, ein Jahr später, sei die Krankheit zum dritten Mal ausgebrochen. Sie hat starke Angst vor der erneuten Operation. Ich erkläre Anne, dass bei einer Krebserkrankung eine Krebszelle aus ihrem normalen Gefüge ausbricht und sich unkontrolliert vermehrt. Auf meine Frage, ob sie unbewusst den Wunsch hat, auch „auszubrechen“, selbstständig zu werden, auszuziehen, um mit 25 Jahren ihren eigenen Weg zu gehen und die Verantwortung für ihre Erkrankung, ihre Heilung und ihr Leben selbst zu übernehmen, antwortet Anne: „Wenn die Krankheit nicht erneut ausbricht, dann würde ich auch ausziehen…“. Hier wurde deutlich, dass sie sich durch die Krankheit ausgeliefert, abhängig und hilfsbedürftig erlebte. Sie traute sich das alles nicht zu, da sie viel zu viel Angst hatte. Eine Entwicklung in Richtung Selbstständigkeit / Autonomie sah Anne zu diesem Zeitpunkt als Bedrohung an, so dass hier erst einmal andere therapeutische Arbeiten im Vordergrund standen.


Ein zentrales Thema der psychotherapeutischen Tätigkeit in der TA ist das Erkennen von einschränkenden Skriptbotschaften und die Auflösung der unbewussten schädlichen Skriptentscheidungen. Auch ist nach kraftspendenden und förderlichen Skriptbotschaften zu suchen. Erhaltene Skriptbotschaften von Eltern oder anderen nahestehenden Autoritätspersonen führen zu unbewussten Schlussfolgerungen für das Leben, den sogenannten Skriptentscheidungen. Die zentralen Botschaften an Anne waren: „Bleibe unser kleines Mädchen. Vertraue uns, dann geht es dir gut.“ Ihre Skriptentscheidung war: „Ich vertraue mir nicht. Ich vertraue meinem Körper nicht. Ich kümmere mich um meine Eltern, so wie sie sich um mich kümmerten“.
Das Lebensskript wird auch als unbewusster Lebensplan bezeichnet. Es ist wie ein Drehbuch mit einem Anfangsteil (Entstehung), mehreren Hauptakten (Wiederholungen) und einem Ende (glückliches Leben oder Krankheit). Das Skript entsteht durch Schlussfolgerungen und Entscheidungen, die das Kind aus den nonverbal gegebenen Skriptbotschaften (z.B. vertraue nur uns), aus Zuschreibungen (z.B. du bist dumm), Prägungen (z.B. gelebte Rituale und Bewertungen in der Herkunftsfamilie) und Schlüsselerlebnissen (z.B. Kränkungen, Unfälle, Traumata) trifft. Im Erwachsenenalter stellt sich die Frage, welche Skriptentscheidungen früher getroffen wurden, die zu der heutigen Lebensweise, dem Verhalten, Denken und Fühlen führen und einen wichtigen Einfluss auf unsere Gesundheit bzw. Krankheit haben.
Eric Berne definierte das Skript „als einen fortlaufenden Plan, der sich unter starkem elterlichem Einfluss aufgrund von Prägungen, Botschaften und Zuschreibungen ausbildet“. Richard Erskine modifiziert und betrachtet das Skript als einen „Lebensplan, der auf Entscheidungen beruht, die unter Druck in jeder Entwicklungsphase getroffen werden und die die Spontaneität und Flexibilität in der Lösung der Probleme und in den Beziehungen zu anderen beeinträchtigen“. Damit schließt Erskine in Ergänzung zu Berne spätere Traumata und Entwicklungskrisen in die möglichen Entstehungsbedingungen des Skriptes mit ein.
Siehe unten eine bildliche Grafik (Abb. 1) wie die elterlichen Skriptbotschaften und die Antreiber von den Eltern an das Kind gegeben werden. Antreiber sind Anweisungen, die in einer späteren Entwicklungsphase an das Kind verbal gegeben werden. z. B. „Sei lieb sonst werden wir krank“.


Gerade im Umgang mit lebensbedrohenden und psychosomatischen Krankheiten richte ich mein Augenmerk auf Skriptbotschaften und Skriptentscheidungen wie diese oben beschrieben wurden. Unser Selbstwertgefühl, unsere Glaubenssätze, unsere Verhaltens- und Denkmuster und unsere Gefühle sind abhängig von den frühen Skriptbotschaften und den daraus resultierenden Skriptentscheidungen.
Zu den Schlüsselerlebnissen gehören Kränkungen, schwere Unfälle und Krankheiten, und Traumata. Als Beispiel: Wenn jemand als Kind einen Fahrradunfall hatte, kann das Kind beschließen: „Nie mehr fahre ich Fahrrad, das ist viel zu gefährlich.“ Hier zeigt sich eine typische Entscheidung, die aufgrund des Traumas getroffen wird.


Wir begannen mit der Analyse von Annes Lebensskript:
Skriptbotschaften seitens ihrer Eltern:
Sei nicht du selbst
Fühle nicht was du fühlst, sondern was wir fühlen
Sorge für uns
Bleib unser kleines Mädchen
Vertraue uns


Skriptschlussfolgerungen und Skriptentscheidungen:
Ich darf nicht fühlen, was ich fühle, das ist gefährlich.
Ich vertraue nicht mir und meinem Körper, sondern meinen Eltern, den Ärzten und Anderen.
Ich bin zuständig für das Wohlergehen meiner Eltern.
Wenn ich mich beeile und in Aktion bin, vermeide ich meine eigenen Gefühle.
Ich darf nicht meine eigenen Dinge tun, sondern nur dass, was andere möchten.
Wenn ich mich Anderen anpasse, werde ich von allen geliebt.


Aufgrund von gegebenen Skriptbotschaften, welche Eltern oder weitere Autoritätspersonen (in diesem Fall Ärzte) nonverbal oder atmosphärisch vermitteln, trifft ein Kind unbewusst eigene Skriptentscheidungen. Diese Skriptentscheidungen waren erst einmal die besten Überlebensstrategien eines Kindes, um in der damaligen Welt zurecht zu kommen. Diese gilt es zu respektieren und zu würdigen und im weiteren Verlauf, „neue Entscheidungen“ zu treffen.
Wegen der Schwere der Erkrankung galt es als erstes eine neue, bewusste Lebensentscheidung zu erarbeiten. Diese Lebensentscheidung, die ich „Leben statt Überleben“ nenne, habe ich mit Anne schriftlich vereinbart, damit Körper und Psyche mit daran teilhaben können. Im Laufe dieses Prozesses hat Anne für sich eine Neuentscheidung getroffen: „Ich werde leben und nicht nur überleben“. Die schriftliche Vereinbarung schafft mehr Verbindlichkeit und Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit. Das löst körperliche und psychische Reaktionen wie Freude, Lebensmut und Zuversicht aus. Viele meiner Patienten hängen sich ihre schriftlich formulierte Lebensentscheidung in ihrer Wohnung, z.b. im Schlafzimmer über dem Bett, auf.
Gestärkt durch diese neue Lebensentscheidung ging Anne mit Mut ins Krankenhaus, um sich der Operation zu unterziehen. Sie erzählte mir später, dass in der 2. Nacht nach der OP der Tod an ihrem Bett saß. Sie hat ihm mitgeteilt, dass sie sich für ihr Leben entschieden hätte, noch viel zu jung sei, um zu sterben, sie viele neue Dinge in ihrem Leben wahrnehmen möchte und deshalb nicht sterben wolle. Im weiteren Therapieverlauf traf Anne weitere Neuentscheidungen, um den alten frühen Skriptentscheidungen entgegenzuwirken. So begann sie langsam aus ihrem angepassten Verhalten auszusteigen. Sie widersetzte sich Entscheidungen von Ärzten bezüglich ihrer Therapie, da einige Entscheidungen für sie nicht stimmig waren. Auch ihren Kollegen erschien sie plötzlich unbequem und zickig. Darauf angesprochen antwortete sie ...“besser unbequem und zickig als tot.“ Anne zog während der noch laufenden Therapie von zu Hause aus. Sie fand eine schöne helle Wohnung, in der sie sich bis heute wohlfühlt. Ein erneutes Auftreten des Krankheitsbildes erfolgte bis heute, 10 Jahre später nicht mehr. Sie teilt sich inzwischen die Versorgung ihrer Eltern mit ihren Geschwistern.
Eine Heilung war meines Erachtens nur durch einen ganzheitlichen Ansatz einschließlich der Psychotherapie möglich. Auch hier zeigte sich, dass Soma und Psyche untrennbar zusammengehören, da hier die körperliche Krebserkrankung viele psychische Probleme deutlich gemacht hat und psychische Probleme mit ein Auslöser der Krebserkrankung waren.
Ein wichtiger Aspekt im Heilungsverlauf bei Anne war die Entwicklung von Autonomie im Sinne von Bewusstheit, die Veränderung des Lebensstils und der Ausstieg aus dem (über)- angepassten Verhalten innerhalb der Familie und bei ihren weiteren sozialen Kontakten. Inwieweit die fehlende Autonomie, die erdrückende und kontrollierende Liebe der Mutter und der „geheime Familienauftrag“ (Anspruch auf Pflege der Eltern im Alter) zum damaligen Ausbruch der Erkrankung beigetragen hat, lässt sich im Nachhinein natürlich nicht feststellen.
In anderen Beispielen aus meiner Praxis zeigt sich ebenfalls, wie Menschen durch eine Krise auch wieder wie neugeboren, also gestärkt ihr Leben weiter gut gestalten können. Eine Patientin, Anna, welche als Krankenschwester auf einer Kinderstation arbeitete, konnte das Leiden der Kinder auf ihrer Station nicht mehr ertragen. Nachdem sie viele körperliche Zeichen wie Schlaflosigkeit, Fibromyalgie, diverse anhaltende Erkältungskrankheiten, die nicht ausheilten, durchgemacht hatte, entschloss sie sich für eine Psychotherapie. Ihre Erschöpfung war ihr deutlich anzumerken. Sie hatte die Antreiber: „Sei perfekt, streng dich an und sei schnell“. Die Kombination führt bei langfristigem Dauerstress zu einer Schwächung des Immunsystems mit zahlreichen Erkrankungen und damit auch zu einer instabilen psychischen Situation. Auslöser waren der hektische Klinikalltag und fehlende Rückmeldungen dazu, wie es den Kindern, zu denen sie eine Beziehung aufgebaut hatte, nach der Entlassung geht. Ihr größter (geheimer) Wunsch war es, in der Prophylaxe zu arbeiten. Anna traute sich aber nicht, diesem Wunsch umzusetzen, da sie existenzielle Nöte befürchtete. Durch vertiefte Skriptarbeit wurde ihr bewusst, dass sie folgende Glaubenssätze lebte: „Ich traue mir nicht, ich vertraue mir und meinen Fähigkeiten nicht, meinem Körper und meiner Intuitionen nicht“. Der Konflikt zwischen dem, was Anna als sinnvoll ansah und tun wollte und dem, was sie tun musste, zeigte sich in einem Engpass erster und zweiter Ordnung.
Die Engpasstheorie oder Sackgasse stammt von den Gouldings und sie definieren einen Engpass „als einen Punkt, an dem zwei oder mehr (gleich starke) entgegengesetzte Kräfte aufeinanderstoßen, einen festgefahrenen Ort, ein Patt“ (Gouldings: Neuentscheidungstherapie, Seite 63). Also, ein Engpass erster Ordnung (Abb. 2) nach den Gouldings kennzeichnet sich durch einen Konflikt zwischen dem, was man tun möchte und dem, was man tun muss.


Abb. 2 - Engpass 1. Ordnung nach Goulding
Im Engpass zweiter Ordnung (Abb. 3) zeigt sich der Konflikt zwischen dem, was als elterliche Botschaft oder als Verbot vermittelt wurde, z. B. „zeige deine Gefühle nicht“, und dem, was man aber tun will.


Abb. 3 - Engpass 2. Ordnung nach Goulding
Durch die Psychotherapie konnten die Konflikte gelöst werden. Anna absolvierte eine Ausbildung als Entspannungspädagogin für Kinder und arbeitet seitdem zufrieden in diesem Beruf. Sie fühlt sich in ihrer Arbeit erfüllt und ihre körperlichen Symptome verschwanden nach und nach. Therapeutisch gilt eine Neuentscheidung dann als abgeschlossen, wenn die gewünschten Veränderungen vollzogen und aufrechterhalten werden!
Ein Patient, Josef, suchte mich nach einer Kurmaßnahme auf, um seine „neu entdeckten Aspekte“ beizubehalten. Er litt unter einem Burnout aufgrund einer permanenten Überlastung durch seine Arbeit und in seiner Beziehung. Seine ausgeprägten „Sei stark“ und „Sei perfekt“ Antreiber überforderten ihn und führten zu körperlichen Reaktionen, depressiven Verstimmungen und endeten schlussendlich in einem Burnout. Josefs Ziel war es, diese Erkrankung nie mehr zu erleben. Wir arbeiteten an seiner Selbstwirksamkeit bezogen auf seine Psyche und seinen Körper. Therapeutische TA Konzepte wie neue Skriptentscheidungen, das Bewusstmachen von inneren Dialogen als Selbsterkenntnis, Erlaubnisarbeit und Neuentscheidungen sichern seine psychische und körperliche Stabilität bis heute.
In diesen drei Beispielen aus meiner therapeutischen Arbeit zeigt sich, dass ein Zusammenbruch durch langanhaltendes krisenhaftes Erleben auch wieder zu einem Neubeginn mit mehr Stärke führen kann. Doch es stellt sich immer wieder die Frage, ob Menschen erst durch Krisen lernen ihr Leben zu ändern und ihre Überlebensstrategie in eine Lebensstrategie umzuwandeln. Zeigen sich in unserem Körper oder in unsere Psyche erst einmal Symptome, die sich bei Nichtbeachtung verstärken, dann ist es sinnvoll, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, um eventuell alte Pfade zu verlassen und einen Neubeginn zu wagen und sich dem Leben voll und ganz zu widmen.
Die Transaktionsanalyse bietet hier viele sinnvolle Konzepte an, wie dies möglich werden kann.
Gerade beim Vorliegen von psychosomatischen Erkrankungen ist es mittels Handwerkszeugen der TA wie beispielsweise Antreiber, Skript, Maschensystem (Skriptzirkel), innerer Dialog durch Stuhlarbeit, um nur einige zu nennen, gut möglich, den Kreislauf der psychosomatischen Abläufe zu durchbrechen. Dabei ist es erst einmal nicht so wichtig, wo der Kreislauf durchbrochen wird. Unsere Patienten teilen uns Lösungsansätze meistens auch direkt am Beginn der Therapie mit (the power is in the patient). Wenn wir aufmerksam zuhören, erhalten wir die Lösung schon früh von Seiten der Patienten. In der Analyse des Lebensskripts werden neben den Glaubenssätzen auch die Erinnerungen an frühere Situationen mit entsprechenden Körpergefühlen erfasst. Diese Erinnerungen und Körpergefühle haben zu den unbewussten Skriptentscheidungen und zu den Verhaltensmustern geführt, die beide durch Neuentscheidungen verändert werden können. Dadurch verändern sich auch meistens die Körpersymptome. Da Psyche und Körper wie die zwei Seiten einer Münze mit Wechselwirkungen und Anhängigkeiten sind, ist die gegenseitige Beeinflussung erklärlich. Ob zuerst mit der Arbeit an der Psyche oder mit der Behandlung der körperlichen Symptome begonnen wird, entscheidet die Dringlichkeit unter der die Patienten vermehrt leiden. Wenn z. B. die psychische Symptomatik so ausgeprägt ist, dass ein Abgleiten in die Psychose oder den Suizid möglich ist, muss mit der psychischen Arbeit begonnen werden. Umgekehrt, wenn körperliche Symptome so stark ausgeprägt sind, z. B bei einer Krebserkrankung oder einem akuten Herzinfarkt, dass es bei Nichtbeachtung zu irreversiblen Schäden kommt, muss natürlich als erstes mit der Behandlung der körperlichen Symptome begonnen werden. Selbstverständlich sollte, sobald die jeweilige Situation soweit beherrscht ist, anschließend Psyche, beziehungsweise Körper direkt mit einbezogen werden. Denn, Psyche und Körper sind ein voneinander abhängiges System welches sich ergänzt. Vorstellungen über sich, die anderen, die Welt sind innere Bilder die wir alle in uns tragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Ideen und Visionen von dem was wir sind, was wir erstrebenswert finden und was wir vielleicht einmal erreichen wollen sind weitere Ziele, die nach einem Zusammenbruch einen Wiederaufbau gut gelingen lassen.
Aufbruch und Neubeginn durch Neuentscheidung und Umorientierung kann zu neuen Perspektiven führen und zu einem neuen Gesundheitsempfinden körperlich wie psychisch beitragen.

Literatur
Berne, E. (1972) Sprechstunden für die Seele; Reinbek bei Hamburg Rowohlt
Berne, E. (1975) Was sagen Sie, nachdem Sie guten Tag gesagt haben? Frankfurt: Fischer TB
Berne, E. (1970) Away from a theory of the impact of interpersonal interaction on non-verbal participation TAJ1, No.1 • Erskine, R. (1977) Integrative Psychotherapy Articles; Script Cure TA Press USA
Faulstich, J. (2012) Das Geheimnis der Heilung; Knaur München
Frohme, G. (2020) Wie die Seele den Körper heilt; Trias Stuttgart
Frohme, G. (2020) Corona; Wie Sie die psychischen Herausforderungen meistern; Trias Stuttgart
Frohme, G. (1/2017) Psychosomatik und Transaktionsanalyse; Zeitschrift für Transaktionsanalyse Junfermann Verlag; ISSN Print 1869-7712
Goulding, B. (1981) Neuentscheidung - Ein Modell der Psychotherapie; Klett-Cotta Stuttgart
Rankin,L (2014) Mind over Medicine, Kösel München





Gabriele Frohme
Approbierte Psychotherapeutin (Tiefenpsychologie) und Heilpraktikerin und seit 30 Jahren in eigener Praxis tätig (Verbindung von naturheilkundlichen Verfahren wie die klassische Homöopathie mit Psychotherapie und Körperarbeit)
TSTA Psychotherapie und Beratung
Fortbildungen in Gesprächstherapie, Gestalttherapie und Bioenergetik
Arbeitet als Supervisorin und Lehrtherapeutin, sowie Mediatorin
Praktiziert seit Jahrzehnten die japanische Kampfkunst Aikido und hat mehrere Meistergrade erworben

www.ta-wuppertal.de
frohme@ta-wuppertal.de
Hier den Artikel drucken oder downloaden: info.dsgta.ch/download/A1139/04-artikel-juni21.pdf