artikelseptember2021

SPONTANEITÄT – vom Anfangen-Können


Autor: Franz Liechti-Genge – „Alles, was sich im Bereich menschlicher Angelegenheiten abspielt – jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum – könnte auch anders sein, und dieser Kontingenz sind keine Grenzen gesetzt.“(1) Auf dieses Zitat von Hannah Arendt(2) bin ich bei den Vorarbeiten zu meinem Beitrag "Supervision, Neugier, Kontingenz" gestossen, der im Sammelband zur transaktionsanalytischen Supervision erschienen ist(3). Ich sehe in diesem "alles was sich im Bereich menschlicher Angelegenheit abspielt, könnte auch anders sein" eine grosse Nähe zu den Grundsätzen der Transaktionsanalyse, die ebenso davon ausgeht, dass es zu jeder Handlung und jedem Verhalten immer noch andere Optionen gibt. Das hat mich angeregt, mich näher mit dieser Philosophin und Historikerin Hannah Arendt zu befassen. Dabei faszinierte mich ihre Idee den Menschen nicht von seiner Sterblichkeit her zu bestimmen, sondern von seiner Geburt her. In der Geburt erkennt sie das Ereignis, das zur Freiheit führt und es möglich macht, dass Menschen dieses "es könnte auch anders sein" leben können, dass Menschen auch nach einem Zusammenbruch etwas Neues aufbauen können, dass Menschen sich aus der Asche wie Phönix zu neuem Leben aufschwingen können. Spontaneität ermöglicht Anfangen-Können. Auf diese Weise versucht sich dieser Essai dem Leitthema zu nähern, das die DSGTA für die vorliegende Artikelreihe vorschlägt: Zusammenbruch und Aufbau - wie ein Phönix aus der Asche.
Hannah Arendt's Denken ist "vom existenzphilosophischen Ansatz geprägt, den sie, ausgehend von Heidegger, jedoch umkehrt: nicht die Sterblichkeit, sondern die Natalität stellt sie ins Zentrum ihrer Reflexion; nicht die Beschränktheit menschlicher Existenz als die Wand, gegen die er fortwährend stösst, während er versucht, sie einzureissen – ist ihr theoretischer Ausgangspunkt, sondern die Möglichkeiten, die daraus erwachsen. Der Mensch hat sich nicht selbst erschaffen und kann über den Lauf der Dinge nicht völlig autonom entscheiden. Darin aber liegt zugleich seine Freiheit begründet, im Vermögen der Spontaneität, nämlich zu handeln und etwas Neues zu beginnen – ohne zu wissen, was daraus folgt."(4)
Geboren werden
Das erste Kapitel im in vielen Auflagen erschienenen TA-Klassiker von Muriel James und Dorothy Jongeward mit dem Titel "Spontan leben" beginnt so: "Jeder Mensch wird als etwas Neues, Niedagewesenes geboren. Er ist mit allem ausgestattet, was er braucht, um im Leben zu gewinnen. Jeder Mensch kann auf seine Weise sehen, hören, fühlen, schmecken und denken".(5)
Ich bin am 9. April 1958 zur Welt gekommen. Das ist eine Tatsache, von der mein Leben seinen Ausgang nimmt: eine Eizelle meiner Mutter wurde von einer Samenzelle meines Vaters befruchtet und daraus entstand ein winziger Zellhaufen, der sich nach und nach von einem Embryo zu einem Fötus entwickelte und langsam alle nötigen Organe ausbildete, um an diesem bestimmten Tag geboren zu werden. Damit kann mein Leben anfangen. Die eigene Geburt ist etwas, an das ich mich nicht erinnere. Gezeugt werden und geboren werden ist etwas, das ich nicht selbst gemacht habe, das ist an mir geschehen. Es ist Inbegriff dessen, was Berne mit Physis umschreibt, die positive Lebenskraft, die ich von meinen Eltern bekommen habe. Neben der negativen parentalen Programmierung spricht Berne von der "konstruktiven parentalen Programmierung", die unterstützt wird von "jenem Lebensdrang, den man vor langer Zeit einmal Physis bezeichnet hat."(6) Physis kommt aus dem Griechischen und wird häufig mit "Natur"übersetzt. Der Begriff trägt aber weitere Bedeutungen in sich, die sich aus dem griechischen Verb "phyein", "sich der Natur gemäss verhalten" ableiten. Es geht dabei um die "Natur, die nicht nur ein Substantiv, sondern auch ein Verb ist, bezeichnet nicht nur eine Substanz oder einen Bereich, sondern gerade auch Werden, Bewegung, Veränderung, Zeit, Tätigkeiten, Kraft."(7)
Sinnbild für die Physis ist die Geburt. Die Geburt ist das grosse positive Vorzeichen, das vor meinem Leben steht und in meinem Leben wirkt, die Geburt ist DER Anfang. Es ist das umfassendste "ich bin ok", das ich mir denken kann. Und ohne diese Geburt kann ich nicht leben, kann ich nicht Erfolg haben oder scheitern, kann ich nicht zusammenbrechen und neu aufbauen, kann ich nicht brennen und Asche werden, um wieder neu geboren zu werden.
Paradigmenwechsel - von der Mortalität zur Natalität
Erstaunlicherweise sprechen die grossen Philosophen aller Zeiten wenig von der Geburt, sie sprechen mehr von der Sterblichkeit des Menschen und von der Begrenztheit des Lebens. Hannah Arendt bildet da eine Ausnahme. Sie ist wahrscheinlich die erste Denkerin der abendländischen Tradition, die die Geburt als das sinnstiftende und prägende Ereignis des menschlichen Lebens hervorgehoben hat. Für sie ist die Geburt die Voraussetzung dafür, dass Menschen überhaupt handeln können. Handeln ist für Hannah Arendt das, was den Menschen in seiner Einzigartigkeit ausmacht. "Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen ... Der Antrieb (zum Handeln) scheint in dem Anfang selbst zu liegen, der mit der Geburt in die Welt kam, und dem wir dadurch entsprechen, dass wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen. In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe; ... Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen."(8)
Das menschliche Leben ist also von der Natalität, von der Geburt her geprägt und nicht nur auf das Sterben hin ausgerichtet, wie viele Denker uns weismachen wollen. Arendt spricht deshalb ebenso selbstverständlich wie von der Sterblichkeit des Menschen von seiner Geburtlichkeit(9). Und in der Geburtlichkeit liegt die Möglichkeit der Wahl und der Freiheit, die die Einmaligkeit und das "Niedagewesene" eines Menschen ausmachen. Mit den Worten von Hans Saner: "Im Anfangen-Können liegt die Möglichkeit der Freiheit. Die Möglichkeit der Freiheit erscheint mit der Geburt in der Welt und lebt in ihr fort durch die Geburtlichkeit des Menschen. Mit der Geburt beginnt so die Geschichte der Freiheit. Insofern ist die Geburt des Menschen auch die Geburt der Freiheit. Das Wesen der Geburtlichkeit aber ist die Freiheit."(10)
Spontaneität
Hannah Arendt verbindet das Geboren-Sein mit dem Begriff der Spontaneität. Sie schreibt in ihrem Denktagebuch im April 1951 unter dem Stichwort Spontaneität: "Der Mensch wurde geschaffen, damit überhaupt etwas begann, mit dem Mensch kam der Anfang in die Welt(11). Hierauf beruht die Heiligkeit menschlicher Spontaneität. Die totalitäre Ausrottung des Menschen als Menschen ist die Ausrottung seiner Spontaneität."(12) Etwas später notiert sie in ihren Aufzeichnungen: "Die Quelle der Freiheit, die sich als Spontaneität - eine Reihe von selbst anfangen können - äussert, ist das Ereignis. Dieses gibt der Freiheit gleichsam das Material, an dem sich Spontaneität entzünden kann".(13) Die Bemerkung "eine Reihe von selbst anfangen können" paraphrasiert ein Zitat von Kant, der den Begriff der Spontaneität auch schon benutzt und "davon überzeugt ist, dass Menschen in einem anspruchsvollen Sinne frei sind, da sie über die Fähigkeit verfügen, 'unabhängig von (den) Naturursachen ... etwas hervorzubringen ..., mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen'".(14) Zugleich bedeutet Anfangen-Können immer auch ein Bruch gegenüber dem Alten und Vorgegebenen. Spontan handeln heisst immer auch das Unerwartete wagen. "Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, dass er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent."(15)
Dieses Anfangen-Können entspricht der Spontaneität. Der Begriff Spontaneität kommt aus dem lateinischen und ist vom Wort "spons (Genetiv: spontis)" abgeleitet was so viel wie "Antrieb, freier Wille" bedeutet. Das Bedeutungsfeld von "spontan" umfasst unter anderem Begriffe wie: "freiwillig", "aus eigenem Entschluss handeln", "eine nicht von aussen gesteuerte politische Aktion". Mein Englischwörterbuch schlägt ergänzend als Übersetzung von "spontaneity""Ungezwungenheit, Natürlichkeit" vor(16).
Auch Eric Berne verwendet den Begriff der Spontaneität. In seinem Buch "Spiele der Erwachsenen" bezeichnet er damit eine Dimension dessen, was er unter Autonomie versteht. "Die Erringung von Autonomie manifestiert sich in der Freisetzung oder Wiedergewinnung von drei Fähigkeiten: Bewusstheit, Spontaneität und Intimität".(17) Unter dem Stichwort Spontaneität notiert er: "Spontaneität bedeutet in gewissem Sinn Option: die Freiheit, seine Empfindungen aus dem verfügbaren Assortiment (Empfindungen auf der Ebene des Eltern-Ichs, des Erwachsenen-Ichs und des Kindheits-Ichs) auszuwählen und auszudrücken. Sie bedeutet auch Befreiung: Befreiung von dem Zwang Spiele zu spielen, und nur die Empfindungen zum Tragen zu bringen, die einem von anderen beigebracht worden sind."(18)
Ich weiss nicht, ob Eric Berne Hannah Arendt's Schriften gekannt hat, sie waren ungefähr gleich alt und teilten als Angehörige des Judentumes ein ähnliches Schicksal und wurden beide erst im mittleren Alter US-Bürger. Und beide wurden in ihren jeweiligen Fachkreisen als "Aussenseiter" wahrgenommen. Beide plädieren für ein "Denken ohne Geländer"(19). Was ich vermute, ist, dass er genau so gut wie Hannah Arendt wusste, dass schon Kant von Spontaneität geschrieben hat als einem Element der praktischen Freiheit. Und Kant ist es auch, der den Begriff der Autonomie in der abendländischen Denktradition (wieder)einführt. Spontaneität und Autonomie gehören schon bei ihm zusammen und Berne hat sicher nicht zufällig auf diese Begrifflichkeiten zurückgegriffen.
So ist es leicht nachvollziehbar, dass Spontaneität eine Fähigkeit ist, die dazu beiträgt, Autonomie zu erringen. Und Autonomie kann als Frucht der Geburtlichkeit verstanden werden. Als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und damit auch von Veränderung und Anfangen-Können.
Zusammenbruch und Aufbau - das Mysterium der Wiedergeburt
Die Möglichkeit der Freiheit eröffnet die Möglichkeit des Gelingens ebenso wie die Möglichkeit des Scheiterns. Scheitern muss aber nicht das Ende bedeuten. Im Scheitern - wie schlussendlich auch im Sterben - kann immer auch die Möglichkeit eines Neuanfangs stecken. Und dieser Neuanfang kann dann verstanden werden als Re-aktivierung der Geburtskräfte, oder wie vielleicht Berne sagen würde, der Physis.
In vielen Kulturen und Religionen wird in diesem Zusammenhang von Wiedergeburt gesprochen, was vom Bild her gut in den Ansatz der Geburtlichkeit von Hannah Arendt passt. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat in seinem Buch "Das Mysterium der Wiedergeburt"(20) zahlreiche Beispiele aus der ganzen Welt zusammengetragen, wie Menschen mit symbolischen Handlungen und mythologischen Geschichten versucht haben dem Geheimnis des Neuanfangens auf die Spur zu kommen. Wiedergeburt bedeutet immer wieder Anfangen-Können.
Dabei geht es strukturmässig immer um einen Prozess, in dem ein Mensch einen rituellen "Tod" erleiden muss, um dann als neuer Mensch "wieder geboren" zu werden. Als exemplarisches Beispiel mögen die Riten der Initiation dienen. Unter Initiation wird der Vorgang verstanden, in dem ein Kind zum Erwachsenen wird, der Knabe zum Mann, das Mädchen zur Frau. In den meisten Initiations-Riten - und bezeichnenderweise wird der Begriff der Initiation (lateinisch für "Anfang") gewählt - geht es darum, dass die Kinder ihr "Kind-Dasein" verlassen müssen, dass sie je nach dem rituell gestaltet als Kinder "sterben" müssen, um dann als Erwachsene "neu geboren" zu werden. Oft sind mit diesem rituellen Tod schwere Prüfungen verbunden. Die Jugendlichen müssen sich allein in der Wüste oder im Dschungel durchschlagen, sie müssen hungern, Entbehrungen erleiden, werden durch Tattoos oder anderen rituellen Handlungen gekennzeichnet oder bekommen einen neuen Namen. Wichtig bei diesen Initiationen ist, dass damit etwas Neues beginnt, ein neuer Anfang gesetzt wird, die Geburts-Physis neu Gestalt findet.
Was religionsgeschichtlich und ethnologisch als "Wiedergeburt" bezeichnet wird, darf uns vielleicht auch als Paradigma dienen, wie Menschen Zusammenbrüche erleben können. Im Wissen und im Vertrauen um die Kraft der Geburtlichkeit kann ein Zusammenbruch auch als neuer Anfang verstanden und erlebt werden. Ich formuliere so vorsichtig mit "kann", weil ich es unmenschlich fände, daraus eine Regel zu machen. Es gibt auch Zusammenbrüche, die in Abgründe führen, die wir nicht ermessen können.
Die "kann-Formulierung" weist zugleich darauf hin, dass ein Zusammenbruch nicht ins Nichts führen muss, sondern eben auch als Durchgang zu etwas Neuem erlebt werden kann. Ein Zusammenbruch kann zu einem Neuanfang führen. Beratende wissen das und bauen darauf. Es scheint sogar zur menschlichen Existenz zu gehören, solche Reisen zu wagen und zu bestehen. Schon Eric Berne bezieht sich bei seiner Darstellung des Skripts auf die Tradition der "Heldenreise"(20). Dieses mythologische Muster des "hero" erzählt von der Abenteuerfahrt, die zu bestehen ist, durch Prüfungen und Kämpfe aller Art hindurch, bis zur erlösenden Wiedergeburt in ein neues, geläutertes Leben. Ich glaube, dass Berne seine Idee von Skript auf diesem Hintergrund entworfen hat. Um Autonomie zu erringen, muss ein Mensch diese "Heldenreise" bestehen um dann als neuer Mensch "skript-frei" und autonom, oder mit anderen Worten "spontan" leben zu lernen. Das ist die transaktionsanalytische Idealvorstellung. Praktisch hilft das Bild des Durchgangs und der Wiedergeburt, einen Sinn und ein Gefühl für das Anfangen-Können zu entwickeln. Auch kleine Anfänge können Grosses bewirken.
Ausflug in die christliche Tradition
Wenn von Geburtlichkeit und Wiedergeburt die Rede ist, werde ich als Mensch, der spirituell in der christlichen Tradition beheimatet ist, unweigerlich an die beiden grossen Festzyklen des Christentums erinnert.
Auf der einen Seite der Weihnachtsfestzyklus, der die Geburt des Retters feiert. Auch die grosse Heilsbewegung, die sich in der Figur von Jesus, dem Christus abzeichnet, beginnt mit der Geburt. Diese Geburtsgeschichte nimmt viel von dem auf, was Hannah Arendt in ihrem Ansatz der Geburtlichkeit hervorhebt. Sie formuliert es als Jüdin wie folgt: „Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien 'die frohe Botschaft' verkünden: 'Uns ist ein Kind geboren.'"(22)
Auf der anderen Seite steht der Osterzyklus. Hier berühren sich die vielfältigen symbolischen Dimensionen von Sterben und Wiedergeborenwerden mit der Grundbewegung des Christus-Ereignisses. In der christlichen Tradition bildet der exemplarische Durchgang durch Sterben und Tod zu neuem Leben, der sich in den christlichen Festen von Karfreitag und Ostern widerspiegelt den Kern christlichen Glaubens. Der Weg des Menschen Jesus von Nazareth kann durchaus als "Heldenreise" durch den Tod hindurch zu neuem Leben verstanden werden, wodurch er sich in Christus, den Retter verwandelt und zum grossen "Anfänger" wird. Und es mag erstaunlich sein, aber passend, dass in einer der ältesten Kirchen in Rom - Santa Prassede - im byzantinischen Mosaik über der Aspis neben der Christusdarstellung auf der linken Seite auf einer Palme ein Phönix sitzt.
Spontan leben - ein Phönix werden?
"Spontan leben" ist der Titel des am Anfang zitierten Buches von Muriel James und Dorothy Jongeward. Für einmal gefällt mir der deutsche Titel besser als der englische Originaltitel "born to win". Autonomie ist und bleibt das Ziel aller transaktionsanalytischer Arbeit. Und um diese zu erringen, gilt es nach Berne bekanntlich Spontaneität freizusetzen oder wieder zu erlangen. Spontan leben würde dann heissen, sich klar zu werden, dass eben "alles, was sich im Bereich menschlicher Angelegenheiten abspielt – jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum – auch anders sein könnte.“
Spontan leben würde dann heissen, dieser Offenheit zu trauen und Anfänge zu sehen und zu setzen, wo ich das bisher nicht gemacht habe. Das heisst nicht, sich einer positivistischen Illusion hinzugeben, alles sei möglich. Das ist ja gerade die Stärke des Ansatzes der Geburtlichkeit, dass ich mir bewusst bin, dass ich nicht alles aus mir heraus machen kann, das Leben ist mir gegeben. Die Frage der Spontaneität ist, was ich daraus mache, was ich damit "anfange".
Ich finde, um ganz die oder der zu werden, die ich bin, ist es gut den Mut und die Entscheidung zu treffen, Spontaneität einzuüben. Spontaneität heisst, sein Leben zu wagen, mit dem Wissen und der Erfahrung, dass das Leben beschränkt ist, dass Zusammenbrüche dazu gehören, dass oft ein kleines "Sterben" auf der Lebensreise unumgänglich ist. Wenn ich mit dem Blick der Geburtlichkeit und der daraus folgenden Möglichkeit der Spontaneität auf mein Leben schaue, werde ich lernen, dass in jedem Abbruch auch ein Anfang sein kann. Ein Leitsatz von Autonomie als Leitziel formuliert Leonhard Schlegel so: "Mut, Entscheidung und Fähigkeit, aus allen, auch aus unangenehmen und schmerzlichen Erfahrungen zu lernen, durch sie zu wachsen und sie nicht zu verdrängen."(23)
Spontaneität kann als Fähigkeit zum Anfangen-Können verstanden werden. Und "die Fähigkeit zum Anfangen-Können erfordert Mut. Denn jeder Anfang birgt Risiken, ist gekennzeichnet durch Entwicklungen und Erfahrungen, die nicht vorhersehbar sind. Zum Anfangen gehört aber auch Vertrauen – zu sich selbst und zu einer Welt, in der man solche Anfänge riskieren muss, der gegenüber man offenbleiben muss und sich auch selbst öffnen, sich zeigen, muss."(24)
Spontan leben heisst also, sich nicht nach den Bannbotschaften des Skripts zu richten, die einen zwingen das Erwartete und Berechenbare zu wiederholen, was zur Ausrottung der Freiheit führt. Muriel James und Dorothy Jongeward schliessen ihr Kapitel zu den Rollenbüchern (wie sie das Skript bezeichnen) mit der Geschichte des Adlers, der bei den Hühnern aufwächst und denkt, dass er ein Huhn ist(25). Erst als jemand in ihm den Adler entdeckt und ihn in die Sonne schauen lässt, schwingt er sich wie ein Adler mit einem Schrei in die Lüfte, ohne zu wissen, was daraus folgt. So stelle ich mir vor, schwingt sich auch der Phönix mit einem lauten Geburtsschrei aus der Asche in die Lüfte der Zukunft.
Wenn die Arbeit mit transaktionsanalytischen Modellen zu diesem Aufschwung beiträgt, ist bereits viel gewonnen. Das ist Einübung ins Anfangen-Können.



Fußnote
1. Arendt (2000), S. 344
2. Hannah Arendt (1906 - 1975) war eine jüdische deutsch-US amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin (Wikipedia, zugegriffen am 23.7.21), die auch philosophische Schriften verfasste
3. Liechti-Genge, Franz (2021): Supervision, Kontingenz und die Neugier – ein Essai und daraus folgend ein paar praktische Ermutigungen; in: Karola Brunner, Matthias Sell (Hrsg.): Transaktionsanalytische Supervision in Theorie und Praxis; Paderborn; Junfermann Verlag
4. Sauer (2019) S. 14f
5. James / (1986), S. 17
6. Berne (1983), S. 78
7. Günter (2003), S. 19
8. Arendt (2002) S. 215
9. In den Übersetzungen von Werken von Hannah Arendt wird "natality" mit dem deutschen Kunstwort "Gebürtlichkeit"übersetzt, mir gefällt der Begriff "Geburtlichkeit" den ihr Schüler Hans Saner benutzt, besser.
10. Saner (1979) S. 29
11. Dieser zentrale Satz im Denken Hanna Arendts ist ein Zitat von Augustin aus "De civitate Dei" ("Vom Gottesstaat) XII, 20; latinisch: (Initium) ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit.
12. Arendt (2020b) S. 66
13. Arendt (2020b) S. 94
14. Beckmann (2005); Beckmann zitiert Immanuel Kant aus: Kritik der reinen Vernunft (KrV A534/B562)
15. Arendt (2020a) S. 216
16. verschiedene Wörterbücher: Duden, Langenscheidt
17. Berne (1967) S. 244
18. Berne (1967) S. 247f
19. So der Titel einer Text- und Briefsammlung von Hannah Arendt
20. Eliade (1957)
21. Im Buch "Was sagen Sie nachdem Sie 'Guten Tag' gesagt haben" nimmt Berne Bezug auf Joseph Campell: Der Heros in tausend Gestalten. Neuere Autoren wenden die "Heldenreise" auch therapeutisch an, z.B. Gilligan / Stephens (2013)
22. Arendt (2020a) S. 317
23. Schlegel (1993) S.211
24. Sauer (2019) S. 28
25. James / Jongeward (1986) S. 124
Literatur
Arendt, Hannah (2000): Wahrheit und Politik, in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, 1. Band, München
Arendt, Hannah (2020a): Vita activa - oder Vom tätigen Leben; München, Piper TB (Original englisch, 1958)
Arendt, Hannah (2020b): Denktagebuch 1950 - 1973; München, Piper TB (Original englisch 2002)
Beckermann, Ansgar (2005): Willensfreiheit - Immanuel Kant;
www.philosophieverstaendlich.de/freiheit/klassiker/kant.html
(zugegriffen am 23.7.21)
Berne, Eric (1967): Spiele der Erwachsenen. Reinbek b.H.: Rowohlt TB (Original englisch 1963)
Berne, Eric (1975): Was sagen Sie, nachdem Sie 'Guten Tag' gesagt haben. Frankfurt a.M. Fischer TB (Original englisch 1970)
Eliade, Mircea (1997): Das Mysterium der Wiedergeburt; Frankfurt a.M.; insel Taschenbuch (Original englisch 1958)
Gilligan, Stephen / Dilts, Robert B. (2013): Die Heldenreise - Auf dem Weg zur Selbstentdeckung; Paderborn; Junfermann Verlag
Günter, Andrea (2003): Weltliebe: Gebürtigkeit, Geschlechterdifferenz und Metaphysik; in: Günter, Andrea (2003): Weltliebe; Königstein; Ulrike Helmer Verlag
James, Muriel / Jongeward, Dorothy (1986): Spontan leben; Reinbek b.h.; Rowohlt TB
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft
Lütkehaus, Ludger: (2006): Natalität - Philosophie der Geburt; Die graue Edition; Kusterdingen
Saner, Hans (1979): Geburt und Phantasie; Lenos, Basel
Sauer, Linda Ana (2019): Politisches Denken - Traditionsbruch und Neubeginn bei Hannah Arendt;
mediatum.ub.tum.de/doc/1478392/1478392.pdf (zugegriffen am 23.7.21)
Schlegel, Leonhard (1993): Handwörterbuch der Transaktionsanalyse; Herder Verlag; Freiburg i.B.




Franz Liechti-Genge
Lehrender und Supervidierender Transaktionsanalytiker im Bereich Bildung und im Bereich Beratung (TSTA-E/C); Supervisor bso; Theologe; Leitungsmitglied Eric Berne Institut Zürich

www.ebi-zuerich.ch
f.liechti-genge@ebi-zuerich.ch
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artikeloktober2021

Vom Ich zum Wir: Beziehung schaffen in der Führung von Menschen

Autorin: Maya Bentele – Führung ist in den letzten Jahren in einem grossen Wandel, der durch die Corona-Zeit noch verstärkt wurde. Der Kontakt und die Gestaltung von Beziehung zu den Mitarbeitenden stehen mehr und mehr im Zentrum. Wenn Ziele erreicht werden sollen, ist der Einbezug aller Beteiligten notwendig. Die Konzepte der Transaktionsanalyse sind dafür sehr hilfreich und unterstützend
Seit vielen Jahren arbeite ich als Coach mit Führungskräften: Mit sehr erfahrenen, mit Personen, die neu eine Führungsaufgabe übernehmen, in ganz unterschiedlichen Branchen. Ausserdem bilde ich ebenfalls schon seit vielen Jahren Führungskräfte aus. Für mich steht da immer, die eigene Persönlichkeit der Führungskraft im Zentrum. Die Auseinandersetzung damit ist der eigentliche Schlüssel in der Führung.
Das hat unter anderem damit zu tun, dass sich seit geraumer Zeit Führung und das Führungsverständnis verändert haben. Eine Führungsperson ist nicht mehr die allwissende Leitfigur, die alles im Griff hat. Durch die Entwicklungen der vergangenen Jahre in Bildung und Wissen, durch den kulturellen Wertewandel sowie die gesellschaftlichen und die technischen Veränderungen hat sich die Komplexität in allen Bereichen des Lebens massiv erhöht. All dies führt dazu, dass sich die Machtverhältnisse in Organisationen gewandelt haben. Führungskräfte haben weniger Macht und weniger direkten Einfluss. Sie sind immer mehr auf aktive, konstruktive Mitarbeitende angewiesen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen.
Damit dies gelingen kann, wird die Person bzw. die Persönlichkeit der Führungskraft immer wichtiger. Mindestens genauso bedeutsam ist die aktive Gestaltung von Beziehungen. Das bedeutet, dass Führungspersonen einerseits gefordert sind, sich vermehrt mit sich selbst und ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen und andererseits auch in der Lage sein müssen, Beziehungen mit ihren Mitarbeitenden herzustellen und bewusst zu gestalten.
Dazu benötigen sie neben der Bewusstheit über die Bedeutung dieser Aspekte und deren Reflektion hilfreiche Landkarten. In der Transaktionsanalyse gibt es dazu geeignete Modelle, die auf der einen Seite helfen, die persönlichen Themen zu reflektieren sowie auf der anderen Seite auch die Beziehungsgestaltung unterstützen können.
Ein Modell, das sehr hilfreich ist, persönliche Muster zu reflektieren, sind die Antreiber(1). Dazu ein Beispiel:
Im Rahmen einer Weiterbildung wurde einem CEO eines mittelständischen Unternehmens bewusst, dass bei ihm der Antreiber «Mach’s anderen recht» jedes Mal aktiviert wurde, wenn er Entscheidungen treffen musste, von denen er wusste, dass nicht alle Beteiligten diese positiv aufnehmen würden. Damit er sich selbst nicht blockierte, suchte er vor solchen Entscheidungen jeweils den Austausch mit seinem Coach, um sich zu reflektieren und zu überlegen, wie er seine Entscheidungen vertreten konnte. Er überlegte, wo und wie er sich gut abgrenzen konnte. Gleichzeitig half ihm sein Einfühlungsvermögen, mit den Enttäuschungen anderer achtsam umzugehen.
Die Arbeit mit dem eigenen Antreiber hilft zu verstehen, was in einer Situation geschieht, die verunsichernd wirkt und dadurch Stress verursacht. Ausserdem entsteht Bewusstheit, welche positiven Qualitäten in einem Antreiber sind und wie sich diese auswirken. Es sind also gleichzeitig Stärken und Schwächen darin enthalten, die gut ausbalanciert werden wollen. Dies ist nur möglich, wenn eine Person den bewussten Zugang dazu hat und weiss, wie sich sein Antreiberverhalten auf die Beziehungsgestaltung auswirkt. Dann kann es auch gelingen, mit diesen inneren Stressoren umzugehen und Stolpersteine zu vermeiden. Im obigen Beispiel wird beschrieben, wie dies durch Austausch entwickelt werden kann.
In der Führung von Organisationen und Menschen ist auch ein anderer Ansatz sehr hilfreich: Das Bonding-Modell von Georg Kohlrieser(2). Es beschreibt eindrücklich den Kreislauf zwischen Bindung und Trennung, der uns Menschen immer und überall begleitet. Dazu gehört auch, dass es einen Prozess der Ablösung oder der Trauer braucht, um sich aus Bindungen zu lösen. Dabei entstehen emotionale Prozesse, die eine angemessene Begleitung benötigen, um einen nächsten Schritt machen zu können. Insbesondere in Veränderungsprozessen ist diese Landkarte sehr hilfreich, damit sich Führungskräfte im Prozess selbst reflektieren können und gleichzeitig in der Lage sind, in der Begleitung ihrer Mitarbeiter/innen bewusst und angemessen die Beziehung zu gestalten.
Ein Beispiel: Seit einiger Zeit begleite ich ein Führungsteam von fünf Personen einer sozialen Institution. Fast alle haben Weiterbildungen besucht, in denen sie sich mit den Konzepten der Transaktionsanalyse auseinandergesetzt haben. Als Coach erlebe ich sie sehr reflektiert. Bei einem Treffen taucht ein Thema auf, von dem sich zeigt, dass dies alle gleichermassen beschäftigt und betrifft. Immer wieder erleben sie, dass Trennungen von langjährigen Mitarbeitenden ungut verlaufen. Entweder gehen diese, weil sich ein Konflikt nicht lösen lässt oder nach der Kündigung entstehen Unstimmigkeiten über die Austrittsmodalitäten, die sich nicht auflösen lassen. In der Reflektion von verschiedenen derartigen Situationen verdeutlicht sich ein Muster: In Konfliktsituationen wird oft lange zugewartet, bis von der Führung klar Stellung bezogen wird. Die daraus entstehenden Konflikte auf beiden Seiten eskalieren dann so, dass es zu einer unguten Trennung kommt.
Auch hier zeigt sich wohl der Antreiber «Mach’s allen recht». Mit diesem kann erklärt werden, warum Konfrontation schwierig ist – wie oben beschrieben. Ein anderer Erklärungsansatz ist die Theorie von Nähe und Bindung sowie deren Ablösung, die George Kohlrieser im Bonding-Kreislauf beschreibt. Bindung oder Beziehung ist ein grundlegendes Bedürfnis von Menschen und die Grundlage für erfolgreiches gemeinsames Arbeiten und Gestalten von Menschen und Organisationen.
Bondingkreislauf nach Kohlrieser

Das oben beschriebene Führungsteam und die Organisation zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr gut darin sind, Beziehungen zu gestalten und Nähe herzustellen. Das macht die Organisation erfolgreich und führt auch dazu, dass es viele langjährige Mitarbeitende in der Organisation hat.
Etwas weniger geübt sind sie im Umgang mit Störungen. Wenn es Enttäuschungen, Ablehnungen oder Misserfolge gibt, dann stossen sie an eine Grenze und versuchen oft etwas aufrecht zu erhalten oder zu retten, wo es eigentlich Veränderung braucht. Das Team versteht durch die Reflektion, wie wichtig die Akzeptanz ist, dass Bindungen auch zu Ende gehen können. Die dann entstehenden Trauerreaktionen von allen Beteiligten sind wichtig wahrzunehmen und entsprechend einzuordnen. Es braucht eine Aufarbeitung dieser emotionalen Reaktionen, um sich weiterentwickeln zu können, als Menschen und als Organisation. Eine hilfreiche Orientierung gibt der Trauerprozess(3), wie er zum Beispiel von Elisabeth Kübler-Ross beschrieben wird.
Auf dieser Basis entwickelt das Führungsteam gemeinsame Strategien, um eine angemessene Begleitung des Ablösungsprozesses zu etablieren. Dazu gehört unter anderem, bewusster und aktiver die entstehenden Konflikte anzugehen. Sie überlegen, wie sie sich gegenseitig unterstützen können, wenn solche Situationen entstehen. Dabei zeigt es sich, dass es für sie wichtig ist, gemeinsame Ziele zu haben. Diese beinhalten unter anderem wie sie die Zukunft der Organisation gestalten wollen und was die Anforderungen sind, die sie an künftige Mitarbeitende haben. Ausserdem einigen sie sich darauf, dass sie festlegen, wie sie künftig damit umgehen, wenn Trennungen von Mitarbeitenden anstehen. Damit sie eine einheitliche und klare Haltung einnehmen können.
In dieser Arbeit wird nochmals sehr deutlich, wo die Ressourcen und Qualitäten der einzelnen Mitglieder des Führungsteams sind. Auch zeigt sich, wer sich wie gegenseitig unterstützen kann.
Es gelingt ein beispielhaftes Bonding innerhalb des Führungsteams zu entwickeln für die Bewältigung dieser Herausforderung. Dies ist möglich durch grosse Offenheit über persönliche Stärken und Schwächen. Ausserdem sind die Diskussionen geprägt durch eine +/+-Haltung(4), die eine der wichtigsten Grundlagen für gelingende Bindung ist. Damit gelingt es vorbildhaft einen Prozess in Gang zu setzen, der in die Organisation wirken kann.
Dies ist ein eindrückliches Beispiel wie Führungskräfte an ihren eigenen Themen arbeiten und selbst als Personen wachsen können. Das ist für mich die Zukunft der Führung!
Die Beispiele zeigen deutlich, wie wichtig die Selbstreflektion von Führungspersonen ist. Je besser sie sich selbst kennen, desto authentischer und klarer sind sie in der Gestaltung ihrer Führungsrolle. Und das wirkt sich unmittelbar auf die Beziehungsgestaltung und den Führungsalltag aus. Zusammenfassend heisst dies: Die Erforschung des eigenen Ichs erlaubt einen guten Zugang zum Wir, zu den gemeinsamen Themen und den Anforderungen an gelingende Beziehung und Bindung.

Fußnoten
1. Antreiber:
Mit diesem Modell wird beschrieben, wie Erwachsene elterliche Botschaften umsetzen, teilweise sind diese unterstützend, teilweise einschränkend und behindernd. Die Antreiber lassen sich über beobachtbares Verhalten erschliessen. Sie zeigen sich in einer typischen Kombination von Äusserungsformen, wie Wortwahl, Sprechweise, Gesten, Körperhaltung und Gesichtsausdruck. Antreiber sind verinnerlichte Anweisungen, denen vor allem in belastenden und schwierigen Situationen unbewusst gefolgt wird. Dies geschieht in der Hoffnung, dass es dies problemlösend ist. Leider zeigt sich zumeist, dass sich die Situation nicht löst, sondern eher verschlimmert, der Druck noch zunimmt. Es werden fünf Antreiber definiert:
Sei perfekt / Mach keine Fehler
Mach schnell / Beeil dich
Streng dich an
Mach es allen recht / Sei liebenswürdig
Sei stark / Zeig keine Gefühle
2. Bonding-Modell:
Der Bonding-Kreislauf hilft uns zu verstehen, was uns motiviert, wie wir Bindungen eingehen und wieder auflösen, wie wir mit Trennung, Enttäuschung, Ablehnung und Misserfolg umgehen. Ausserdem unterstützt er dabei, uns Trauer bewusst zu werden und diese angemessen auszudrücken, um danach frei zu werden wieder erneut Bindungen einzugehen.
Dabei lassen sich verschiedene Phasen beschreiben: Zu Beginn einer Beziehung wird Nähe hergestellt, verspüren wir ein Wohlbefinden, das sich mit der Qualität des
«Verliebens» vergleichen lässt. In der Bindung ist emotionaler Austausch möglich, der uns viel Energie gibt und von echtem Interesse begleitet wird. In der Ablösung wird der Bindungsprozess unterbrochen, entweder als Ergebnis einer natürlichen Weiterentwicklung oder durch einen inneren oder äusseren Konflikt. Der Trauerprozess beginnt damit und ist die natürliche Reaktion auf den Verlust von Bindung, es sind Phasen von Abschied und Loslassen notwendig, um gesunde Entwicklung zu ermöglichen.
3. Trauerprozess:
Elisabeth Kübler-Ross beschreibt 5 Trauerphasen:
Verleugnen / Nicht-Wahrhaben-Wollen
Wut
Verhandeln / Feilschen
Schmerz / Depressione / Trauer
Akzeptanz / Blick aufs Neue

Wichtig ist es, diese Phasen jeweils zu durchlaufen und nicht in der einen oder anderen steckenzubleiben. Den Schmerz und die Trauer zu durchleben ist notwendig, um danach wieder neue Bindungen aufbauen zu können.
4. +/+-Haltung:
Eric Berne beschreibt Grundhaltungen oder Grundpositionen, in denen Menschen früh Überzeugungen über sich selbst und ihre Umgebung
entwickeln. Wahrscheinlich behalten Menschen diese Überzeugungen ein Leben lang. Sie lassen sich folgendermassen zusammenfassen:
«Mit mir ist alles in Ordnung oder mit mir stimmt etwas nicht; Mit dir hat es schon seine Richtigkeit oder mit dir ist etwas nicht in Ordnung.»
Daraus ergeben sich verschiedene Kombinationen und Stellungnahmen von Menschen zu sich selbst und anderen:
1. Mit mir hat es seine Richtigkeit, und du bist mir recht, so wie du bist (+/+);
2. Mit mir stimmt etwas nicht, du bist in Ordnung (-/+);
3. Ich bin in Ordnung, aber mit dir stimmt etwas nicht (+/-);
4. Mit mir stimmt etwas nicht, und mit dir ist auch etwas nicht in Ordnung (-/-).
Diese vier Ansichten sind bekannt als Grundhaltungen. Sie stellen die grundlegende Haltung dar, die jemand einnimmt, wenn es um den wahren Wert geht, der er sich und anderen zuschreibt. Diese Haltungen werden benutzt, um Entscheidungen oder Verhalten zu rechtfertigen.



Literatur
Bentele M. (2019): Halt und Haltung in der Führung: Der reflektierte Umgang mit sich selbst. In: Scheurenbrand (Hrsg.): Halt und Haltung – Reader zum 39. Fachkongress der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse, 10.- 12. Mai 2019, Lindau. Lengerich: Pabst Science Publishers. (Seite 179 – 183).
Bentele M. & Weber M. (2015): Macht und Komplexität – Führung verändert sich. DSGTA info eins 15, S. 28 – 31.
Hüther G. (2015): Etwas mehr Hirn bitte – Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht
Kaduk S., Osmetz D., Wüthrich H. & Hammer D. (2013): Musterbrecher – Die Kunst das Spiel zu drehen. Hamburg: Murmann Publisher.
Kübler-Ross E., (1970): On Death and Dying. London: Tavistock.
Kohlrieser G., (2008): Gefangen am runden Tisch – Klarheit schaffen - Entschlossen verhandeln – Leistung freisetzen. Weinheim: WILEY-VCH
Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zu Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Franz Vahlen
Senge P. (1996): Die fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart: Klett-Cotta.
Weber M. (2017): Die Welt im Umbruch – Folgerungen für das Management von Organisationen. DSGTA info eins 17, S. 17 – 21.
Wüthrich H. (2018): Führen als Profession. Referat anlässlich des DSGTA Kongresses 2018 in Luzern.
Zeuch A. (2015): Alle Macht für Niemand – Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Hamburg: Murmann Publishers.

Maya Bentele
dipl. Psychologin FH/SBAP, Lehrende und Supervidierende Transaktionsanalytikerin TSTA in den Bereichen Organisation und Beratung.
Dolderstrasse 24, CH-8032 Zürich,
www.bentele.ch, maya@bentele.ch
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