artikelaugust2022

Freiheit und Verbundenheit

// Autor: Sven Golob //
„Am Du werden Wir erst zum Ich.“ – Martin Buber
Das „und“ ist das verbindende Element zwischen Freiheit und Verbundenheit – und doch scheinen sie in einem Widerspruch zu stehen. Welche Freiheit ist aber gemeint? Ist es die Freiheit von oder die Freiheit zu, also die so genannte negative oder positive Freiheit? Als Politikwissenschaftler und Transaktionsanalytiker interessieren mich vor allem die zwischenmenschlichen Dimensionen der beiden Begriffe. Unsere westliche postmoderne, post-industrielle Gesellschaft sieht sich mehreren tiefgreifenden Krisen gegenüber, die jede auf ihre Weise sowohl unsere Freiheit(en) und unsere Verbundenheit(en) beeinträchtigen. Mich beschäftigt jedoch eine sehr spezifische Perspektive auf diese Krisen, oder besser: Katastrophen – die feministische und eman(n)zipatorische nämlich.
Ich möchte die Bedrohungen für unsere Freiheiten und Verbundenheit in Verbindung setzen mit dem Zerfall des patriarchalen Systems. Dieses System wirkt meines Erachtens als Katalysator und Nährboden für die zentrifugalen Kräfte, die unsere Gesellschaften vor eine Zerreißprobe bisher ungeahnten Ausmaßes stellen. Dazu müssen wir allerdings, transaktionsanalytisch informiert, fragen: was ist der Kontext? Worum geht es? Wie ist die Beziehung? Was ist der Vertrag?
FREIHEIT OHNE VERBUNDENHEIT
Das Patriarchat hat keine Adresse und keine Telefonnummer. Das heißt, wir können es nicht befragen. Allerdings hat es, als soziales Phänomen, Symptome, die es sichtbar machen. Gewissermaßen ist das Dilemma der Gender-Identität, dass wir bei näherer, individueller Betrachtung immer unschärfere Konturen sehen. Wir müssen uns dem Patriarchat also aus der Ferne nähern.

Grundsätzlich festzustellen ist die so genannte „Externalisierungstendenz“ bei Männern*(1), also „[die] männliche Tendenz zur Externalisierung, der Abspaltung der eigenen Gefühle“(2). Transaktionsanalytisch gelesen, können wir hier Bezüge zum Skript und zu den Einschärfungen und Antreibern finden.

Der US-amerikanische Psychiater William Pollack hat in seinem Buch „Real Boys“ einen sehr treffenden Rahmen für die Einschärfungen und Antreiber gefunden, die Jungen* beim Heranwachsen internalisieren. Er nennt vier einfache Regeln, den „Boy Code“, die jede für sich beschreibt, wie Traditionelle Männlichkeit (alias toxische Männlichkeit) einen Fokus auf die Freiheit von etwas legt und Verbundenheit verunmöglicht.
1. The sturdy oak
"Männer sollten stoisch, stabil und unabhängig sein. Ein Mann zeigt niemals Schwäche.“(3)

„Sei stark“ wirkt hier als Antreiber sehr direkt, gepaart mit „fühle nicht“ als Einschärfung. Denn die „starke Eiche“ steht stoisch und unverrückbar an ihrem Platz, ist unbewegt (Emotions-los) und lässt sich durch nichts erschüttern. Emotionale Abwesenheit und das Verbot, Schwäche zu zeigen sollen dazu dienen, männliche Dominanz zu sichern. Die Freiheit von jeglicher Gefühlsregung kann natürlich nur durch sozial geduldete Ventile aufrechterhalten werden: Sportstadien, Kreißsäle und Hochzeiten sind einige der wenigen Anlässe, in denen das Patriarchat Schwäche (d.h. Tränen) duldet.
In diesem Zusammenhang erklärt sich auch die in der Corona-Pandemie verstärkt sichtbare Tendenz von Männern*, potentiell gesundheitsschädliches Verhalten zu zeigen. So folgerten gleich drei Studien, die in der Cambridge University Press 2020(4) veröffentlicht wurden, dass das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen (Masken) eher von Männern abgelehnt werde. Als Gründe gaben die Forschenden vor allem eines an: sexistische Grundeinstellungen. Einfache Schutzmaßnahmen wurden demnach insbesondere von Männern* abgelehnt, deren Männlichkeitskonstruktion auf der Abwehr von Schwäche, der Wahrung zur Schau getragener Unverwundbarkeit und der vehementen Wahrung ihrer „persönlichen Freiheit“ fußt.
2. Give ’em Hell
„Dies ist eine […] Haltung basierend auf einem falschen Selbst, aus extremem Wagemut, Draufgängertum und einer Neigung zu Gewalt.“(5)

Männer*, die dieser Anweisung folgen, zeigen sich gerne als Verfolger: jede Gelegenheit zur Überlegenheit wird ohne Rücksicht auf Verluste genutzt, ja, muss genutzt werden. Denn in der Welt der Traditionellen Männlichkeit gilt noch immer Thomas Hobbes’ „Homo homini lupus est“. Fressen oder gefressen werden.
Ein entfesselter Finanzmarktkapitalismus, der permanente Wettbewerb um die Führungsposition und letztlich das kriegstreiberische „wir gegen die anderen“ zeigen deutlich die verheerenden Konsequenzen dieser dualistischen Weltsicht.

Der männliche Körper, seine ganze Kraft und Energie gehen in der Wirtschaft auf, in der Anerkennung durch Leistung permanent erkämpft werden muss. Im Privaten wird dieser Leistungsdruck in der Haltung gespiegelt, der weibliche Körper müsse „erobert“ werden. So werden aus männlichen Heranwachsenden Ritter mit einer stählernen Rüstung, die Liebe zum Schlachtfeld.
Insbesondere die Einschärfung „sei nicht nahe“ sorgt für eine Form der ambivalenten Entfremdung, die auch in der Sehnsucht nach starken Führungspersonen, dem „starken Mann“ an der Spitze erkennbar ist. Die Identifikation mit der übermächtigen Vaterfigur, die allen Einflüssen von außen trotzt, sorgt bei den von den eigenen Gefühlen entfremdeten Männern* für Orientierung, Stabilisierung und Kohärenz. Gleichzeitig ist da immer das dringende Bedürfnis, im eigenen Rahmen selbst der „starke Mann“ zu sein und Felder der Exzellenz zu finden – um zu guter Letzt doch noch die langersehnten Strokes vom Vater zu erhalten. Und sie dann vom (emotional) abwesenden Vater doch nicht zu bekommen.
3. The big wheel
„Dies ist der Zwang, den Männer und Jungen spüren, Status, Überlegenheit und Macht zu erlangen. Oder, anders verstanden, verweist das ‚big wheel‘ (hohe Tier) auf die Art, wie Jungen und Männer beigebracht bekommen, Scham unter allen Umständen zu vermeiden, eine Maske der Coolness zu tragen, so zu tun, als ob alles in Ordnung und unter Kontrolle sei, auch wenn dem nicht so ist.“(6)
Das Aufschneidertum und das „mansplaining“ (Männer*, die Offensichtliches gegenüber, vor allem, weiblich gelesenen Personen ausführlich zu erklären) sind die Merkmale dieser Leitregel der Traditionellen Männlichkeit. Freiheit von allen Beschränkungen, von dem unbefriedigenden Gefühl der Mittelmäßigkeit und ein verallgemeinerter „sei perfekt“-Antreiber und eine darunterlegende „schaff‘ es nicht (ganz)“-Einschärfung treiben Männer* ins Rampenlicht, um dann im besten Fall als einsame Helden zu sterben (quasi als Ikarus) oder als maximal Gescheiterte die einzig mögliche Form der Freiheit von äußeren Einflüssen und den brutalstmöglichen Zugang zu Zuwendung anderer zu wählen: die Selbsttötung. Die überproportional hohe Suizidrate unter Männern, die mit steigendem Alter und von Jahr zu Jahr zunimmt(7), spricht dazu Bände. Einsamkeit ist der Preis, denn viele Männer* als Summe dieser negativen Freiheiten zahlen und mitunter willentlich in Kauf nehmen.

Dabei gilt es, die Autorität über die eigene Lebenserzählung zu erhalten. Zur Aufrechterhaltung des eigenen Bezugsrahmens und zur Vermeidung der Angst vor Versagen, Beschämung und letztlich zur Abwehr der Skriptbotschaft „schaff’ es nicht (ganz)“ ist jedes Mittel recht. Dabei kann auch die offensichtliche Lüge zur „Ehrenrettung“ zulässig sein, wie die zur Staats- und Verfassungskrise ausgereifte Beschämung des vorigen US-amerikanischen Präsidenten und seine, trotz der wiederholten Entlarvung als Lüge, immer wieder vorgebrachten und mittlerweile von anderen Kandidat:innen perpetuierten Verschwörungsmythen einer „gestohlenen Wahl“, bestens zeigen.

Der große Zampano muss die Show um jeden Preis am Laufen halten, denn sein bedingtes „ich bin okay“ ist durch die Selbsterhöhung, die permanente Leistung und die Entfremdung von jeglicher Intimität erkauft. Wie leicht es zusammenbricht, ist der Stoff moderner Mythen von gefallenen Idolen.
4. No sissy stuff
“Die wahrscheinlich am meisten traumatisierende und gefährlichste Einschärfung, die Jungen und Männern eingebläut wird, ist die sprichwörtliche Geschlechts-Zwangsjacke, die es Jungen untersagt, Gefühle oder Dränge auszudrücken, die (fälschlich) als “weiblich” angesehen werden – Abhängigkeit, Wärme, Empathie.”(8)

Das bringt uns zur nächsten Grundregel: die Ablehnung jeglicher Weiblichkeit. Durch die tendenzielle Abwesenheit der männlichen Erziehungspartner* müssen sich junge Männer* vor allem durch Abgrenzung von Frauen* männlich identifizieren. Der Münsteraner Psychotherapeut Björn Süfke spricht hier auch von „Nicht-Nicht-Männern“: Weil die Mutter kein Mann ist, bleibt nur die doppelte Negation als Ausweg zur Männlichkeit, also die Ablehnung des Weiblichen, das als defizitär wahrgenommen wird. Besonders problematisch ist diese Art der negativen Freiheit, der Freiheit von allem Weiblichen, in Kombination mit dem vorhergehenden Gebot der Stärke und Gefühllosigkeit.

Denn was bleibt übrig, wenn ich mich durch Abgrenzung und Ablehnung identifiziere? Woher kommt ein stabiles Selbst-Gefühl, geschweige denn ein stabiles, realistisches „ich bin okay“? Die hier installierte „du bist nicht okay“-Position gegenüber allen weiblich gelesenen Personen zeigt sich auch in der Tendenz zu männlichen Beschämungen, die insbesondere Initiationsriten und das soziale Miteinander unter Jungen* prägen. Die Gefahr, als „Schwuchtel“ zu gelten, die Abwehr aller Weichheit (insbesondere Homosexualität als „Verrat am Nicht-Nicht-Mann“) führt unweigerlich in ein bedingtes „Ich bin okay/du bist nicht okay/sie sind nicht okay“. Damit sind das Format und der Führungs-„Stil“ einer besonders prominenten Gruppe männlich-dominanter Staatenlenker ausreichend beschrieben.

FREIHEIT ZUR VERBUNDENHEIT
Männlichkeit(en) sind nicht, wie oft behauptet, in der Krise. Denn, wie Richard David Precht feststellt, ist eine Krise ein Wendepunkt, der vor allem durch seinen emotionalen Gehalt Haltungs- und Handlungsveränderung bewirkt. Im Moment lässt sich die Männerkatastrophe (Süfke) eher beschreiben als Engpass zwischen den subtilen kulturellen, exteropsychischen Narrativen und daraus resultierenden, selbsterhaltenden Strukturen von Männlichkeit(en), den damit im Widerspruch stehenden Ansprüchen des integrierenden Erwachsenen-Ichs heutiger Männer* in ihren vielfältigen Rollen. Verstärkt wird dieser Engpass durch fixierte, archaeopsychische Inhalte, die der Abwehr der oben beschriebenen Skriptbotschaften dienen.

Auf dem Weg von der negativen zur positiven Freiheit und zur Homonomie, der bezogenen Autonomie, müssen wir das feministische Projekt des „Empowerment“ und von Anerkennung von und in Diversität, Gleichheit und Inklusivität (englisch Diversity, Equity & Inclusion, kurz DEI) fortführen und in die Breite und Tiefe der patriarchal programmierten Gesellschaft tragen.
Dabei gilt es, Transaktions-analytisch (im eigentlichen Sinne) auf allen Ebenen zu intervenieren. Das ist ein Projekt, das sich über alle vier Anwendungsfelder der TA erstreckt. Das Ziel der bezogenen Autonomie, der Freiheit mit und zur Verbundenheit, ist demzufolge aus meiner Sicht ein emanzipatorischer Auftrag, positive Freiheit mit der gelingenden Beziehungsgestaltung zu verknüpfen.

Diese positive Freiheit zur Verbundenheit ist ein idealistisches Ziel. Das Ideal des Patriarchats ist der Resonanz-arme, entfremdete Realismus. Es ist das Diktat des Status quo, der Unveränderbarkeit und der Alternativlosigkeit. Die progressive, integrative und emanzipatorische hin zu Freiheit, verbunden zu sein, braucht hingegen eine Hinwendung zur Verletzlichkeit, Responsivität und des Engagements. Diese Positionen des Gewinner-Dreiecks sind das Zielbild anderer Männlichkeit(en), die nicht exklusiv (negativ), sondern inklusiv (positiv) Freiheit verwirklichen.
FREIHEIT IN VERBUNDENHEIT
Dass eine solche Redefinition von Männlichkeit(en) transaktionsanalytische Kompetenz benötigt, liegt für mich auf der Hand. Wenn wir uns der mehrdimensionalen Einbettung, ja, Verbundenheit des Menschen bewusst werden, können wir seinen Kontext zum Gegenstand unserer Arbeit machen. Diese Sicht auf „horizontale Probleme“ statt rein intrapsychischer „vertikaler Probleme“ nennt James Sedgwick als den Ausgangspunkt der „Contextual Transactional Analysis“(10). Dieser Perspektivwechsel ändert die Grundlage der TA. Von der individualistischen und anthropozentrischen Sicht auf „bezogene Autonomie“ kommen wir hin zu einer systemischeren, im besten Sinne Umwelt-bewussteren Definition dessen, was Autonomie bedeutet.
Ein „ich bin okay/du bist okay/sie sind okay“ schließt dann auch eine planetare Perspektive ein. Denn zwischen der Freiheit und der Verbundenheit steht die Verantwortung. Für uns selbst, für unser Gegenüber und für alles Leben, mit dem wir auf vielfältige Art verbunden sind.

Das Patriarchat ist auch in seinem offensichtlichen Scheitern Teil unseres Skripts als Spezies und bedarf deswegen auch unserer Aufmerksamkeit. Als System unbewusster Botschaften über uns, die anderen und die Welt ist es in unserem sozialen Miteinander fest verankert. Wenn also eine deutsche Außenministerin von „feministischer Außenpolitik“ spricht, ist damit genau diese Freiheit zur Verbundenheit gemeint: das Mitdenken und Mitfühlen der Konsequenzen politischen Wirkens auf jene, die keine ausreichende Repräsentanz im politischen Willensbildungsprozess haben. Insofern sind Freiheit und Verbundenheit für mich als TA-Anwendenden Teil des idealistischen Zielbilds meiner emanzipatorischen Arbeit. Mit diesem Ideal kann ich meinen eigenen Bezugsrahmen konfrontieren und mit meinen Klient:innen ein neues Vokabular (Sedgwick) von der bezogenen Autonomie entwickeln.
FREIHEIT UND VERBUNDENHEIT
Dieses Vokabular lässt sich transaktionsanalytisch mit Hilfe des Modells der „functional fluency“ beschreiben. Susannah Temple hat mit diesem die funktionale Analyse erweitert, bzw. redefiniert und den Blick geschärft auf nützliche Erfahrungen und Verhaltensweisen, die wir in der Reflexion als Ressource zugänglich machen können. (siehe Abb. 2)

Das Functional-Fluency-Modell hilft uns als Männer*, bezogene Autonomie zu stärken. Indem wir die positiven Aspekte unseres Verhaltens reflektieren und in unserer Verhaltensrepertoire aufnehmen, kann eine neue Intimität entstehen. Wir erhalten Zugang zu unseren Ressourcen und können bewusst positive, korrigierende Beziehungserfahrungen machen.

Dadurch können wir den Boy Code als Blaupause für unser männliches Skript umschreiben und kommen in ein „ich bin okay, du bist okay, sie sind okay“-Haltung. Diese Enttrübungsarbeit bringt unser integrierendes Erwachsenen-Ich zur Entfaltung. Im Hier und Jetzt stärken wir unsere Optionen des Denken, Fühlen und Verhaltens und schalten den Autopiloten veralteter Geschlechternormen ab.

Freiheit in diesem Sinne löst sich von der Vorstellung, dass sie als individualistisches Projekt verwirklicht werden kann und muss. Vielmehr wird uns klar, dass der Kern der Freiheit unsere Verbundenheit ist: sie entsteht im Raum zwischen Menschen, erfordert Augenhöhe, Präsenz und emotionale Verfügbarkeit. Freiheit ist ein gemeinschaftliches Projekt, das im Widerspruch steht zur patriarchalen Vorherrschaft, der von ihr verursachten Entfremdung und Resonanzarmut. Ich betrachte es als gesellschaftliche Aufgabe, zu der die TA beitragen kann und sollte. Es gilt, Verbundenheit als Grundeinheit menschlichen Seins zu begreifen und die Voraussetzungen dafür zu stärken. Ziel ist es, bezogene Autonomie als Summe von gemeinschaftlicher Autorität (Sedgwick), Spontaneität und Intimität zu etablieren. Freiheit und Verbundenheit sind damit Kern transaktionsanalytischer, progressiver und emanzipatorischer Arbeit und für mich Leitprinzipien meiner Arbeit mit Männern*.
tyrannisch
fehlersuchend
strafend
-
dominanter Modus
-
überfürsorglicher Modus
verwöhnend
inkonsequent
erstickend
anregend
organisierend
stabilisierend
+
strukturierender Modus
+
nährender Modus
wertschätzend
verständnisvoll
mitfühlend
wachsam
bewusst
erdend
+
klärender Modus
fragend
einordnend
rational
selbstbewusst
rücksichtsvoll
freundlich
+
kooperativer/ widerstandsfähiger Modus
+
spontaner Modus
kreativ
ausdrucksstark
begeistert
ängstlich
rebellisch
unterwürfig
-
überangepasster/ widerspenstiger Modus
-
rücksichtsloser Modus
egozentrisch
leichtsinnig
selbstsüchtig
Abb. 2: Beschreibung der Verhaltensmodi modifiziert nach Temple (2002 nach Kessel et al., 2021, S. 124)
Literaturverzeichnis
Abreu, L., Koebach, A., Díaz, O., Carleial, S., Hoeffler, A., Stojetz, W., Freudenreich, H., Justino, P., & Brück, T. (2021). Life With Corona: Increased Gender Differences in Aggression and Depression Symptoms Due to the COVID-19 Pandemic Burden in Germany. Frontiers in Psychology, 12, 689396.
doi.org/10.3389/fpsyg.2021.689396
Böhnisch, L. (2013). Männliche Sozialisation: Eine Einführung (2., überarb. Aufl.). Beltz Juventa.
Bwire, G. M. (2020). Coronavirus: Why Men are More Vulnerable to Covid-19 Than Women? SN Comprehensive Clinical Medicine, 2(7), 874–876.
doi.org/10.1007/s42399-020-00341-w
Gupta, Alisha Haridasani (2020): How an Aversion to Masks Stems From ‘Toxic Masculinity’. New York Times, 22.10.2020 –
www.nytimes.com/2020/10/22/us/masks-toxic-masculinity-covid-men-gender.html?searchResultPosition=1 [aufgerufen am 20.06.2022].]
Hüther, G. (2016). Männer: Das schwache Geschlecht und sein Gehirn (2., unveränderte Auflage). Vandenhoeck & Ruprecht.
Kessel, B., Raeck, H., & Verres, D. (2021). Ressourcenorientierte Transaktionsanalyse: Impulse für eine inspirierte Coaching- und Beratungspraxis. Vandenhoeck & Ruprecht.
Pollack, W. S. (1999). Real boys: Rescuing our sons from the myths of boyhood (1st Owl Books ed). Henry Holt & Company.
Schmale-Riedel, A. (2016). Der unbewusste Lebensplan: Das Skript in der Transaktionsanalyse ; typische Muster und therapeutische Strategien. Kösel.
Schnack, D., & Neutzling, R. (1994). Die Prinzenrolle: Über die männliche Sexualität (22.-24. Tsd). Rowohlt.
Statistisches Bundesamt (Destatis) (2020), „Todesursachen in Deutschland 2019: Suizide“.
Süfke, B. (2018). Männer: Was es heute heißt, ein Mann zu sein (1. Auflage). Goldmann.
Temple, S. (o. J.). „Functional Fluency“ und die Pädagogen unter den Transaktionsanalytikern. Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 4/2002, 251–269.
Temple, S. (2007). Das Functional-Fluency-Modell in der Pädagogik – der neueste Stand. Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 1, 76–88.
Webb, M.-A. (2019). A reflective guide to gender identity counselling. Jessica Kingsley Publishers.
Fussnoten
1. Ich verwende hier bewusst den Genderstern, da ich mich auf das soziale Geschlecht beziehe. Menschen, die sich männlich identifizieren sind damit gleichermaßen angesprochen.
2. Böhnisch, 2013, S. 34.
3. Pollack, 1999, S. 23; eigene Übersetzung.
4. Vgl. Gupta 2020.
5. Pollack, 1999, S. 24; eigene Übersetzung
6. Ebd.
7. Vgl. Destatis (2020)
8. Ebd.
9. Transactional Analysis Journal, Vol. 20, Nr. 1, S. 40–4
10. Sedgwick, 2021
Sven Golob
Freiberuflicher Berater & Facilitator für gelebte Gleichberechtigung
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artikeloktober2022

Vom Aufhören-Können

// Autorin: Jacqueline Dossenbach-Schuler //
Während dem Lesen des Artikels „vom Anfangen-Können“ von Franz Liechti-Genge kam mir der Gedanke das Thema umzudrehen und mich zu dem, was mich schon länger beschäftigt zu äussern – nämlich – „vom Aufhören-Können“. Dieser Gedanke hängt mit meiner gegenwärtigen Lebenssituation zusammen, in der ich mich mehr und mehr mit dem „Aufhören-Können“ beschäftige.
Franz Liechti-Genge ging der Idee nach, die Menschen von ihrer Geburt her statt von ihrer Sterblichkeit her zu bestimmen. Ich drehe auch das um und setze mein Thema „Aufhören-Können“ wieder mit der Sterblichkeit in Zusammenhang.
Wir hören im Laufe unseres Lebens mit vielem auf. Zum Beispiel hören wir mit Rauchen auf, vielleicht unserer Gesundheit zuliebe. Oder wir hören mit gewählten Freizeit- oder Sportaktivitäten auf, weil wir keinen Spass mehr daran haben oder diese aus physischen Gründen nicht mehr ausführen können. Wir verändern unsere beruflichen Tätigkeiten, weil sich die Abläufe wiederholen und wir etwas Neues anfangen wollen. Das sind gängige „Aufhör-Abläufe“ im Fluss unseres Lebens. Wir hören mit etwas, das zur Genüge gelebt wurde, auf und setzen an dessen Stelle etwas Neues. Ich möchte mich mit diesem Artikel vom „Aufhören-Können“ mit Aufhören im Sinne von endgültigem Aufhören auseinander setzen. Etwas beenden, das wir nicht mit etwas Neuem ersetzen, sei es, weil wir das nicht mehr wollen oder nicht mehr können. An dessen Ende ja unsere Sterblichkeit steht.
Dieses Aufhören-Können braucht sowohl einen Grund als auch Vertrauen. Nicht in dieser heute gängigen Schweizer Redensweise „Es chunt scho guet“, sondern im Wissen, dass diese Form von Aufhören ein Abschiednehmen ist, das schmerzt und Trauer auslöst. Dazu brauche ich Vertrauen in mich selbst, damit ich mich dem Schmerz stellen und die Trauer zulassen kann.
Von Geburt an strebt das menschliche Wesen nach Individualisierung und nach Entwicklung zu einem autonomen Menschen. Eric Berne sagt in seiner Definition von Autonomie: Wer autonom ist und als „Erwachsenenperson“ ungetrübt urteilt, entscheidet und handelt, kann frei über seine Ich-Zustände verfügen und nimmt keine symbiotische Haltung ein. Auf dem Weg zur Autonomie enttrübe ich mich soweit wie möglich und befreie mich von alten, übernommenen Glaubenssätzen. Als autonomer Mensch übernehme ich aber auch Verantwortung für die Entscheidungen, die ich treffe.
Im Buch „Nachruf auf mich selbst – Die Kultur der Aufhörens“ von Harald Welzer lese ich, dass Aufhören das Erreichte sichert, während Weitermachen dieses banalisiert.
Ich konzentriere mich in der Folge auf das Aufhören-Können als Berufsfrau. Da ich freiberuflich tätig bin, habe ich ja den Vorteil, dass ich die Beendigung meiner beruflichen Tätigkeit selbst gestalten kann und nicht am Tag X von einem Arbeitgeber verabschiedet werde. Ich kann die Art und Weise wie ich mich langsam und für mich bekömmlich von meinen beruflichen Tätigkeiten zurückziehe selbst gestalten und den Zeitpunkt des endgültigen Aufhörens selbst festlegen. Das bedeutet aber auch, dass ich selbst verantwortlich bin. Die oben genannte Aussage von Harald Welzer macht für mich Sinn und heisst für mich gleichzeitig, dass ich als autonomer Mensch verantwortlich bin, mein Erreichtes zu sichern und es nicht durch Nicht-Aufhören-Können zu banalisieren. Ich bin verantwortlich für mich zu sorgen. Darauf zu achten, was ich mir physisch und psychisch noch zumuten kann und will. Dazu benötige ich Vertrauen in mich selbst und auch Vertrauen in die Anderen. Zum Beispiel dass sie mir ehrliche Rückmeldungen geben und mich auch konfrontieren, wenn ich dazu neige an Altem, das mittlerweile überholt ist, zu hängen. Bekanntlich neigt der Mensch ja dazu an alten Überzeugungen, an mal Angelerntem zu hängen, weil es ihm vertraut ist und Neues oft mit Angst verbunden ist.
Ich bin selbst verantwortlich, dass ich Rückmeldungen offen zuhöre, ohne mich oder die Anderen abzuwerten. Gleichzeitig tue ich auch gut daran, darauf zu achten, dass ich gut Aufhören kann. Das kann heissen Angefangenes zu Ende zu bringen, das kann aber auch heissen, an NachfolgerInnen zu übergeben was weiter gehen soll. Dazu brauche ich wiederum Vertrauen in mich und in alle meine Persönlichkeitsanteile. Dass ich mit meinem Erwachsenen-Ich realistisch abschätze wann es gut ist aufzuhören und auch dafür sorge etwas rund zu machen und gut abzuschliessen. Dass mein Eltern-Ich meiner Entscheidung vertraut und sie befürworten kann. Dass mein Kind-Ich, sich über meine Entscheidung freut und darauf vertraut, dass es die gewonnene freie Zeit geniessen kann, auch wenn es noch nicht genau weiss, wie.
Während diesen Prozessen ist es hilfreich die Konzepte der „Psychologischen Spiele“ präsent zu haben und die eigenen Spielanfälligkeiten zu kennen. Was als beendet erklärt wurde dabei zu belassen. Auch wenn es zahlreiche Gründe gäbe zu irgendwelchen Hintertürchen „wieder herein zu kommen“. Zum Beispiel mit Spielen mit sich selbst, ob „man nicht doch noch zum Rechten schauen muss“, oder auch verführerischen Strokes, wie „Ihre/deine Beratungen/Schulungen sind doch die Besten und ich kann mir keine andere Person an deiner Stelle vorstellen“ zu erliegen.
Vor allem, wenn wir unseren Beruf engagiert und mit Freude ausüben, identifizieren wir uns mit ihm, und beziehen auch viel Anerkennung und Zuwendung aus unserer Tätigkeit. Eric Berne schreibt, dass positive Zuwendung für jeden Menschen von der Geburt bis zum Tod ein Grundbedürfnis ist.
Wieder ist es in unserer eigenen Verantwortung darüber nachzudenken, wie wir nach dem „Aufhören“ mit ausbleibender Anerkennung und Zuwendung umgehen. Haben wir die „Strokes“, die wir während der Ausübung unseres Berufes bekamen, wirklich angenommen, uns einverleibt und uns damit gesättigt? Sind wir uns bewusst, dass wir auf die Strokes, die wir in beruflichen Zusammenhängen ernten durften in Zukunft verzichten müssen? Können wir dafür zu sorgen, dass wir keinen Mangel leiden?
Von meiner Kindheit und meinem jungen Erwachsenenalter her trage ich ein Bild von Menschen in mir, die pensioniert wurden. Dieses unterscheidet sich von heutigen AHV- und Rentenbezüger. In meiner Umgebung waren die Menschen damals der Arbeit überdrüssig und froh, dass sie sich den Erwartungen und Anforderungen nicht mehr stellen mussten. Sie freuten sich an ihren Enkeln, am Spazierengehen und wenn alles gut ging, erfüllten sie sich noch ein paar Reisewünsche. Diesen, meinen alten, Bezugsrahmen habe ich im Laufe meines Lebens weitgehend ersetzt und/oder ergänzt. Ich erlebte und erlebe immer mehr Menschen, die in der gleichen Situation, die klare Pläne und Projekte haben, die sie noch angehen wollen.

Ich komme darauf zurück, dass ich als frei Schaffende Stück für Stück von meinen beruflichen Verpflichtungen ab- oder weitergeben kann. Dadurch gewinne ich Zeit, die ich entschieden habe nicht mehr mit neuen beruflichen Verpflichtungen zu füllen. Ich habe die Möglichkeit mich mit Dingen zu beschäftigen, die äusserlich nicht mehr so sichtbar sind und mir, wie oben erwähnt, keine Strokes mehr einbringen. Ich kann mich vermehrt den „Fragen des Lebens“ und somit auch meiner Sterblichkeit zuwenden.
Das ist ja die Kunst des Aufhörens. Sich bewusst machen und es tatsächlich realisieren, akzeptieren, dass es vorbei ist. Das ist etwas, das meines Erachtens, Menschen oft sehr schwer fällt. Aufhören müssen wir, wie jede andere Fähigkeit, lernen. Aber nicht nur Aufhören müssen wir lernen, sondern auch die Fähigkeit, nicht jede verfügbare Zeiteinheit unter Nutzenkriterien zu betrachten. Ein Sternenhimmel oder die sich kräuselnden Wellen eines Sees sind ja auch sehr schön, auch wenn man nichts anderes damit machen kann als sie anzusehen und zu geniessen. Es ist durchaus möglich einen sorgsamen und freundlichen Umgang mit der Zeit einzuüben und sie und mich von den Zumutungen des Nützlichen zu befreien.
Die Künstlerin Annemarie von Matt, deren Lebenswerk ich sehr schätze, hat vor ihrem Ableben gesagt, sie sei lebenssatt. Diese Aussage gefällt mir, denn aus meiner Sicht geht es doch darum, auf das längere Stück des bereits gelebten Lebens zurück zu blicken. Zufrieden und dankbar auf das zu schauen, was gelungen ist und sich mit dem zu versöhnen, was nicht gelungen ist. Vielleicht weil wir an einer Wegkreuzung die falsche Abbiegung gewählt haben. Sich auch zuzugestehen, dass wir aus unserem damaligen Wissensstand und Lebenserfahrungen heraus entschieden haben. Vielleicht haben damals noch aktive Skriptglaubenssätze, Antreiber und Einschärfungen bei unserer Entscheidung mitgewirkt. Oder die Angst davor nicht oder nicht mehr geliebt zu werden. Wenn wir fähig sind das gelebte Leben aus diesen Gesichtspunkten anzuschauen, haben wir uns meines Erachtens in einem Gewinnerskript bewegt. Dies bedeutet nicht etwa, dass wir immer gewonnen haben, sondern uns – gemäss Eric Berne – bei unterlaufenen Fehlern damit auseinander gesetzt haben, was wir das nächste Mal anders machen können. Wenn wir, wie am Anfang dieses Absatzes beschrieben, auf unser gelebtes Leben zurückblicken, haben wir uns vermutlich mit Mut und Zuversicht realistische Ziele gesetzt und diese auch erreicht.
Um meinen Sinn des Lebens annehmen zu können, brauche ich Vertrauen und Autonomie. Um mir sagen zu können, „das ist mein Sinn des Lebens, so hat mein Leben Sinn gemacht“, muss meine Individuation stattgefunden haben. Das bedeutet, dass ich nicht länger meinen Antreibern nacheifere und darauf vertraue, dass ich genüge. Mich also mehrheitlich in einem realistischen Ok/ok, ich bin okay so wie ich bin und die anderen sind das auch, bewege. Und dies, auch wenn nicht alles, was ich oder was die anderen getan haben okay war.
Sich nach dem Aufhören der beruflichen Tätigkeiten zu fragen, „was will ich in meiner Lebenszeit noch anfangen, gibt es noch realistische Wünsche, die ich mir noch erfüllen will?“ Gleichzeitig gilt es Wünsche zu begraben, die ich mal gehegt habe. Sodass ich mein Leben abrunden und mich am Ende anstatt lebensmüde lebenssatt fühlen kann.
Zu diesem Artikel inspiriert hat mich auch das bereits erwähnte Buch von Harald Welzer „Nachruf auf mich selbst“. Während ich mich mit diesem befasste, habe ich mich auch wieder erinnert, dass Eric Berne einmal geschrieben hat, dass wir unsere Inschrift auf dem Grabstein schon früh selbst verfassen können. Harald Welzer ändert das ab und regt an, sich zu überlegen, was dereinst im Nachruf stehen soll. Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden, denn solange wir leben, haben wir die Chance unseren Nachruf zu beeinflussen.
Fazit: Feiern wir unser Leben, sodass wir dann mit unserem Tod umgehen können!
Literaturverzeichnis
Berne Eric (1967), Spiele der Erwachsenen, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg
Berne Eric (1975), Was sagen sie nachdem sie guten Tag gesagt haben, Kindler Verlag, München
Berne Eric (1991), Transaktionsanalyse der Intuition, Jungfermann Verlag, Paderborn
Kast Verena (2010), Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben, Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau
Rössler Beate (2017), Autonomie – Ein Versuch über das gelungene Leben, Suhrkamp Verlag, Berlin
Schlegel Leonhard (1988), Transaktionale Analyse, A. Francke Verlag, Tübingen
Schmid Wilhelm (2016), Das Leben verstehen, Suhrkamp Verlag, Berlin
Steiner Claude (1982), Wie man Lebenspläne verändert, Jungfermann Verlag, Paderborn
Von Matt Annemarie (2003), 1905-1967 Einblick in meine Unterwelt, Herausgeb. Baltensperger Marianne, Helbling Regine, Gerster Ulrich und Heini Gut, Benteli Verlag, Bern
Von Matt Annemarie (2008), Dunkelschwestern, Herausgeb. Kurzmeyer Roman und Perret Roger, Scheidegger und Spiess Verlag, Zürich
Welzer Harald (2021), Nachruf auf mich selbst – Die Kultur des Aufhörens, S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main
Jacqueline Dossenbach-Schuler
Lehrende und Supervidierende
Transaktionsanalytikerin im Bereich Beratung
Mal- und Gestaltungstherapeutin IAC
www.transaktionsanalyse-ausbildung.ch
jacqueline@dossenbach.net
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