Schwerpunktthema

Die Zukunft des Zusammenwirkens der Menschen

Günther Mohr
Dipl. Psychologe, lehrender Transaktionsanalytiker TSTA-O, dipl. Volkswirt
www.mohr-coaching.de
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Zurzeit sieht sie etwas düster aus, die Zukunft. Der Kitsch ist dabei, die Macht zu übernehmen, wie es der Innsbrucker Professor Anton Pelinka formuliert (Pelinka, 2010). Was Kitsch in der Kunst ist, das Vereinfachte, Simplifizierte, einen oberflächlichen Alltagsgeschmack Befriedigende, stellt der Populismus in Gesellschaft und Politik dar. Die Komplexität der Welt, sowohl die emotionale aber auch die kognitive, wollen viele Menschen einfach nicht mehr realisieren. ‹Postfaktisch› wird die Sichtweise, man hat ‹alternative Fakten›.
Psychologisch gilt: Es gibt nur Gegenwart. Auch die Vergangenheit ist das, was man in der Gegenwart daraus macht, wie man sie heute sieht. Der Erfinder der Transaktionsanalyse, Eric Berne, hat einige pro­gnostische Theorien entwickelt, die man auf die politischen Bewegungen des Populismus anwenden kann. Bei psychologischen Spielen, den destruktiven Beziehungs- und Kommunikationsmustern, läuft alles auf ein vorhersehbares, schlechtes Ende, im Zweifelsfalle für alle Beteiligten, hinaus. Spiele beginnen mit Abwertungen, das heisst Ausblendungen von Aspekten der Realität. Die Abwertung wird wieder populär. Sie passt zum Populismus. Der eine hat es geschafft die Begriffe Flüchtling und Terrorist fast deckungsgleich zu verwenden, wie es der Schauspieler Richard Gere ausdrückte. Dabei ist er selbst mit einer Migrantin verheiratet und seine Familie stammt aus einem damals sehr armen Landstrich Deutschlands. Ein anderer möchte in einem europäischen Land mit sehr liberaler Tradition eine ganze Religion vertreiben. Selbst das Land von Liberté, Egalité und Fraternité steht am Scheideweg.
Bei genauem Hinschauen ist die Unzufriedenheit mit dem so genannten Establishment gar nicht so unverständlich. Haben nicht die Eliten aus Wirtschaft und Politik 2008 den Karren der Weltwirtschaft an die Wand gefahren? Länder wie Grossbritannien, Spanien, Portugal und Griechenland haben sich bis heute nicht von dieser Wirtschaftskrise erholt.
Es wurde übrigens niemals Abbitte geleistet, es gab keine Entschuldigung. Zur Glaubwürdigkeit hat das nicht beigetragen. Auf diesem Hintergrund kann man das Misstrauen, das viele Menschen gegenüber dem ‹komplexen System› entwickelt haben, nachvollziehen.
Zeigen sich Alternativen?
Auf der Makroebene sind schon seit einiger Zeit Ansätze zur Gemeinwohlökonomie zu beobachten (z.B. Felber, 2010). Dabei geht es um eine Umgestaltung von Unternehmen, ihren Lieferanten und den Konkurrenzbeziehungen hin zu einem deutlich kooperativeren und menschengerechten Umgehen miteinander. Man könnte sagen: Weg vom aus militärischen Traditionen stammenden Gegeneinander und hin zum transparenten und fairen Umgang. Im TA-Sinne wird hier eine ‹abwertungsfreie Zone› geschaffen. Auch das bedingungslose Grundeinkommen ist ein makroökonomischer Versuch das o.k.-Sein des Menschen praktisch zu verankern. In der Schweiz wurde das Volksbegehren zu 1’500 Franken Grundeinkommen zwar abgelehnt, realistischere Grös­senordnungen haben hier vielleicht mehr Chancen.
Organisationsentwicklerisch sind die Gedanken jetzt insbesondere von dem Belgier Frederik Laloux weitergedacht worden (Laloux, 2015, 2016). TA-Gedanken sind dabei an vielen Stellen erkennbar, weil sowohl Erwachsenen-Ich-Beziehungen (‹auf einer Augenhöhe›) als auch das Autonomieziel zentral sind. Laloux geht von der Grundthese einer Unzufriedenheit der Menschen mit den bestehenden Organisationsformen aus. Die jährliche Gallup-Studie ergibt mit grosser Konstanz, dass lediglich 13 bis 17 Prozent der Mitarbeiter hoch engagiert sind. Laloux beobachtete, dass vor allem die engagierten und an ganzheitlichem Sich-Einbringen in den Beruf interessierte Leute die Organisationen verlassen.
Komplexität und Hierarchie
Der Hauptpunkt, dass das Alte nicht mehr funktioniere, liege in der Unfähigkeit der Hierarchie Komplexität zu bewältigen. ‹Kein komplexes System funktioniert mit Hierarchie›, sagt er und führt als Beispiel das menschliche Gehirn an. Andere Beispiele für komplexe, selbststeuernde Systeme seien Zellen, Pflanzen, Bäume, der ganze Wald. Alle würden sich durch Selbst­organisation steuern. Für niedrige Komplexität könnten hierarchische Lösungen funktionieren, aber nicht für hohe Komplexität. Warum soll das für Organisationen nicht gelten?
Die These, dass Hierarchie nicht in der Lage ist, hohe Komplexität zu bewältigen, bestätigt sich in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte: etwa bei VW und Deutsche Bank. Die Hierarchen waren so rigide: ‹Ihr habt gefälligst genau die von uns vorgegebenen Ziele zu erreichen.› Und mehr oder weniger unausgesprochenen: ‹Aber wir wollen nicht wissen, wie ihr das tut!› Zusammen mit lockenden Boni war damit abwertenden bis illegalen Praktiken der Weg bereitet. Die beiden Unternehmen kämpfen mittlerweile mit Milliarden hohen Strafzahlungen und letztlich um ihre Existenz.
Praxisbeispiele
Das Paradebeispiel der neuen Organisationsform ist für Laloux Buurtzorg. Die holländische Krankenpflegeorganisation für ambulante Dienste hat sich von der in dieser Branche weit verbreiteten tayloristisch organisierten Organisation, die die Krankenpflege im Minutentakt vollzieht, verabschiedet. Hierarchien sind sowohl im Inneren der Organisation, als auch nach aussen, den Patienten gegenüber, abgeschafft. Das hat die Pflege-Landschaft in den Niederlanden revolutioniert. Bei Buurtzorg setzt man sich zunächst mit dem Patienten zusammen und trinkt eine Tasse Kaffee. Der Krankenpfleger bespricht mit dem Patienten, wie dieser sozial eingebunden ist, wo vielleicht Unterstützungs- und Beziehungssysteme zur Verfügung stehen. Angeblich soll dadurch der Betreuungsaufwand und der Zeitdruck erheblich reduziert worden sein, so eine Untersuchung von E&Y. Es existiert ein System von Verbesserungsvorschlägen, das vom internen Netz und nicht von den Chefs beurteilt wird.
Auch der nordfranzösische Autozulieferer FAVI wurde von seinem Geschäftsführer umgestaltet, nachdem dieser mit der bisherigen, alten Form unzufrieden war. Auch in diesem Industriebetrieb versucht man sich von dem Hierarchiegedanken zu verabschieden. Mittlerweile legt FAVI mit einer Daumenregel fest, wie viel Prozent der Einnahmen für Materialkosten, wie viel für Bezahlung, wie viel für Investitionen und wie viel für Profit genommen werden. Und bei FAVI kann ‹ein Arbeiter eine Maschine kaufen›. Die Maxime ist dann, dass er in einen Beratungsprozess eintreten muss. Er muss die Beteiligten und die Experten in einen Konsultationsprozess einbeziehen. Je grösser die Entscheidung, umso mehr Leute sind einzubeziehen. Aber er behält das Heft in der Hand, nicht irgendeine weiter weg liegende Planungsabteilung oder ein über allem stehender Chef. An dieser Stelle wird auch die Verantwortung klar, die das neue System mit sich bringt. Entscheidungsprozesse und Beratungsprozesse werden in neuer Form gestaltet und verknüpft. Gerade bei Entscheidungen sei wesentlich, sich in den partizipativen Prozessen nicht vom Konsensprinzip bestimmen zu lassen. Es braucht effiziente Entscheidungsmuster.
Eine weitere Musterorganisation, Holacracy, hat dazu einen umfangreichen, um nicht zu sagen sehr detaillierten Kodex der Rollenbeschreibungen und des Vorgehens beschrieben. ‹Tensions› (Spannungen) nehmen dabei einen grösseren Raum ein. Offensichtlich rechnet man mit dem Menschen noch so, wie er ist (Robertson, 2016).
Das leidige Geld
Wie läuft es mit der Bezahlung, wenn keine Hierarchie da ist? Kaum zu glauben, auch diese werden von den Betroffenen mit Hilfe eines Rankingsystems selbst bestimmt. Letztlich entscheidet ein gewähltes Komitee. Dies führt auch dazu, dass jemand einmal mehr bekommt, als er erbeten hat. Dabei geht man von einem anderen Menschenbild aus: Faule Mitarbeiter sind eher die Folge einer bestimmten Einstellung im Unternehmen, nicht eine Eigenschaft der Mitarbeiter. Die ‹Möhren›-Ideologie, Leute leisten nur etwas, wenn man ihnen ‹Möhren› (Boni, variable Gehaltsbestandteile) in Aussicht stellt, ist passée. Eher gilt die intrinsische Motivation nach Deci: ‹Ich mache etwas engagiert, weil es mir Freude macht›.
Gerade bei Unternehmen, die an der Spitze des technischen Fortschritts stehen (Apple, Google, Microsoft und Facebook) kann man die neue Organisation beobachten. Sie haben ein Thema: Innovationsdruck. Sie müssen laufend und schnell mit Innovationen auf den Markt kommen. Da ist Hierarchie hinderlich. Hier müssen auch Menschen integriert werden, die an der eigenen ganzheitlichen Entwicklung interessiert sind.
Hierarchie als kulturelles Skript
Das Problem ist, dass Hierarchie in unserem kulturellen Skript enthalten ist. Wir denken in Hierarchien. Er formt seit Menschengedenken den Bezugsrahmen. Fast alle gesellschaftlichen Bereiche wie Politik, Staat, Wirtschaft, Krankenhaus, Religion, Kirche sind hierarchisch aufgebaut. Fast überall in der Welt werden Kinder in der Schule hierarchisch zur Anpassung gebracht.
Deutsche Unternehmen sind interessanterweise historisch bedingt etwas weniger hierarchieorientiert als die in vielen anderen Ländern. Die französische Unternehmenskultur ist schon merkbar autoritärer, patriarchalischer und hierarchischer. Erst recht sind autoritär-hierarchische Strukturen in nahöstlichen und fernöstlichen Kulturen verbreitet. Allenfalls die niederländischen und die skandinavischen Unternehmenskulturen sind weniger hierarchisch.
Aber lässt sich Hierarchie wirklich vermeiden? Die Antwort heisst, theoretisch nicht ganz, aber praktisch deutlich. Holacracy zeigt, wie kleinteilig man dann Rollen, Kontrakte und ‹Tension›-Bewältigung durchdenken muss (Robertson, 2016). Die Herrschaft der Hierarchie-Traditionalisten (‹hat es doch immer gegeben›) ist in den mentalen Modellen der Menschen allerdings sehr stark verankert. Hierarchie scheint seit Jahrtausenden das gewohnte mentale Modell der Menschen.
Schlussfolgerung: Was ist neu an den neuen Ansätzen?
Die Antwort ist: ‹im Prinzip nichts›. Alles wurde schon mal angedacht. Aber der Kontext und die Zeit sind anders. Der Personal- und Arbeitsmarkt (VUCA-World) ist durch die relative Knappheit des Fachkräfteangebotes und das Auftreten einer neu orientierten Generation (Generation Y) anders geworden. Die Chance wäre da, aber die Köpfe (Bezugsrahmen, kulturelles Skript) müssen frei werden und dieses Gegenmodell zum Populismus muss mit aktiver Verantwortung getragen werden.
Literatur
Felber, C. (2010): Die Gemeinwohlökonomie, Wien: Deutike.
Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Gebundene Ausgabe, München: Vahlen.
Laloux, F. (2016): Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Taschenbuch. München: Vahlen
Mohr, G. (2006): Systemische Organisationsanalyse, Grundlagen und Dynamiken der Organisationsentwicklung, Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie.
Mohr, G. (2009): Wirtschaftskrise – Von Angst und Gier zu Substanz und Anerkennung, Berlin: ProBusiness.
Mohr, G. (2015): Systemische Wirtschaftsanalyse Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie.
Pelinka, A. (2010): Populismus ist Kitsch ist Kunst ist Demokratie? Beitrag zur Installation der ‹Betrachterfigur› in Mals, 2010.
Robertson, B. (2016): Holacray: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt, München: Vahlen.

Schwerpunktthema

Interview zum Thema Zukunft mit Dr. Jakub Samochowiec

Autor der Studie ‹Digital Ageing – Unterwegs in die alterslose Gesellschaft›
Dr. Jakub Samochowiec
Sozialpsychologe und Zukunftsforscher am Gottlieb Duttweiler Institut
Rüschlikon
jakub.samochowiec@gdi.ch
Barbara Heimgartner: Der Titel Ihrer Studie: ‹Digital Ageing – Unterwegs in die alterslose Zukunft›, löst in mir die Frage aus: Müssen wir das Alter abschaffen? Oder was heisst das, eine alterslose Zukunft?
Dr. Jakub Samochowiec: Nein, aber die klaren Verhaltensregeln und Rollenverständnisse fallen weg. Das kann man einerseits als Emanzipation älterer Menschen wahrnehmen, gleichzeitig natürlich als Druck. Es ist eine Freiheit, aber mit jeder Freiheit ist natürlich auch eine Verantwortung assoziiert.
Dann ist da der Begriff von der Weisheit. Früher war die Weisheit mit dem Alter gekoppelt. Innere Gelassenheit setzt häufig ein höheres Alter voraus mit positiv verarbeiteten Erfahrungen und einer gewissen Demut. Sind das in Zukunft noch gefragte Ziele?
Wir unterscheiden zwischen Wachstums- und Bewahrungsorientierung. Wachs­tumsorientierung muss nicht immer etwas Positives sein, oder Bewahrung immer nur negativ. Man kann sagen, dass Bewahrung durchaus einen gesellschaftlichen Wert von einer Stabilität hat. Und der auch ein Boden für Wachstumsbestrebungen ist, auf dem Wachstum entstehen kann.
Wie geht der Mensch mit der Flut an Informationen in Zukunft um?

Man entwickelt die Fähigkeit, Informationen herauszufiltern. Ich glaube, dass der Mensch sehr gut darin ist.
Plattformen wie Twitter oder Facebook sind aber auch dafür gemacht, dass sie die Informationen heraussuchen, die uns interessieren sollen. Das passiert einerseits individuell, andererseits ist es so, dass diese Informationskanäle, die wir konsumieren, darauf aus sind, es uns möglichst angenehm zu machen.
Das ist ein bisschen Überwachung. Es ist bekannt, was mir gefällt, was ich einkaufe, was ich bevorzuge. Wird das in Zukunft zunehmen?
Es ist sicher so, dass immer mehr Daten über uns gesammelt werden, ohne dass wir das überhaupt merken, von denen wir aber auch einen Nutzen haben. Was Überwachung ist und was nicht, muss man je nach Situation anschauen. Wenn Google Maps mir Staumeldungen angibt, weil sie sehen, dass sich viele Smartphones auf einer bestimmten Strecke langsam bewegen, dann kann das für mich nützlich sein.
Es gibt eine andere Form von Überwachung, die meiner Meinung nach problematischer ist; Stichwort Krankenkasse, Gesundheitsdaten. Krankenkassen haben immer mehr Interesse daran, Daten von uns zu bekommen. Es gibt jetzt eine Krankenkasse, bei der man sich ein Schrittzähler-App auf dem Handy installiert und dafür eine Verbilligung bei der Prämie hat, wenn man eine gewisse Anzahl Schritte macht. Das wird als Bonus verkauft. Es könnte auch umgekehrt eine Strafe darstellen für die Leute, die ihre Daten nicht freigeben. Das würde natürlich marketingtechnisch nicht so gut funktionieren. Je mehr man misst und Daten sammelt, desto mehr unterwandert man das Solidaritätsprinzip der Krankenkassen. Wieso soll ich gleich viel bezahlen wie der andere. Ich habe vielleicht ein kleineres Risiko für irgendwelche Krankheiten aufgrund von meinem Verhalten, auf Grund von meiner Genetik usw.
Aber es gibt sicher auch viele Leute, die finden, obwohl man die Daten sammeln kann, sollten wir nicht am Solidaritätsprinzip der Krankenkasse rütteln.
Eine andere Frage zum Thema soziale Medien. Wir müssen uns nicht mehr besuchen und sehen. Welchen Stellenwert hat in Zukunft noch der persönliche Kontakt?
Auch dort ist es nicht unbedingt so, dass Leute, die viele Freunde auf Facebook haben oder oft WhatsApp gebrauchen, sich weniger mit anderen Menschen treffen. Sicher gibt es einige, die es weniger gut im Griff haben und sich im Digitalen verlieren, doch, glaube ich, ist das eine Minderheit.
Was macht das mit den Menschen?
Es gibt verschiedene Phänomene. Das eine ist, dass man durch eine solche Vernetzung auch viel mehr Kontakte und Möglichkeiten hat, in andere Kulturen hineinzublicken. Das würde man sonst ja nicht machen, mit jemandem, sagen wir aus Brasilien zu schwatzen, einfach aufgrund einer Vernetzung.
Wer mitmacht, kann mit Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt treten. Es gibt zum Beispiel ein ganz spannendes Projekt mit Virtual Reality, wo einem syrischen Mädchen, das in einem Flüchtlingslager lebt, eine 360°-Kameramütze angezogen wird. Man kann die Welt gleichsam durch ihre Augen sehen. Das ist eine enorme Chance, Empathie für Leute aufzubauen, mit denen man sonst vielleicht nicht in Kontakt kommen würde, die eben durch eine solche Vernetzung ermöglicht wird. Vielleicht lerne ich dann jemanden kennen, weil er die gleiche Musik gut findet wie ich. Und ich kenne aber meinen Nachbarn nicht, weil der einen andern Musikstil gut findet. Ob ich meinen Nachbarn aber ohne Internet kennen würde?
Aber natürlich leben wir alle in Filter Bubbles, in unterschiedlichen Realitäten, weil unsere News-Aggregatoren, unsere Facebook-Feeds etc., nur das anzeigen, was uns persönlich am meisten interessiert. Und wir finden das interessant, was unsere Meinung bestätigt.
Ich habe zwei Kollegen. Der eine postet Artikel über, sagen wir, Donald Trump, der andere postet über Hillary Clinton. (Interviews kurz vor den US-Wahlen aufgenommen. Anm. d. Red.) Angenommen ich bin eher der Hillary-Clinton-Typ, dann ist die Chance, dass ich den Hillary-Clinton-Artikel like und share vermutlich grösser, als dass ich den andern Artikel von Trump like, share usw. Und irgendwann bekomme ich von Facebook nur noch Hillary-Clinton-Artikel, weil ich darauf anspreche. Und das führt zur Polarisierung einer Gesellschaft. Das führt dann eben zu Phänomenen wie Trump oder AfD in Deutschland, die mit dem Ausdruck Lügenpresse kommen. Wieso? Weil in ihrem Facebook-Feed eine andere Realität gezeichnet ist.
Das heisst, dass diese Schere sich immer weiter öffnet?
Eine Einstellungs-Geschmacks-Meinungsnähe wird wichtiger als die geographische Nähe. Es ist aber auch so, dass Leute dort wohnen, wo andere sind, die ihren Wertvorstellungen eher entsprechen.
Es kann einen gewissen problematischen Punkt erreichen, wenn Leute keine gemeinsame Realität mehr haben. Ein guter Teil hängt mit den sozialen Medien zusammen, wenn sich Leute zu wenig bemühen, aktiv nach Widersprüchen zu suchen. Einer wie Trump kann diese Polarisierung für sich nutzen. Ich glaube, das ist ein wichtiges Phänomen, das durch die Vernetzung und die extreme Informationsflut entsteht. Wir müssen als Gesellschaft auch erst lernen, mit diesen neuen Tools umzugehen.
Was passiert mit Leuten, die sich verweigern? Solche, die durch die Löcher fallen und sich nicht mehr anpassen können oder wollen? Nimmt das zu?
Grundsätzlich ist unsere Gesellschaft sehr unterschiedlichen Lebensformen gegenüber tolerant. Diversität ist heute viel einfacher als je zuvor, nicht zuletzt aufgrund technischen Fortschrittes. Psychische Krankheiten nehmen aber auch zu. Sicher sind das zum Teil banale Gründe, dass man mehr diagnostiziert. Andererseits muss man mit den Freiheiten auch umgehen können. Und auch mit Ungewissheiten, welche aus dem hohen Tempo heraus entstehen, in dem sich unsere Gesellschaft verändert. Da kommt nicht jeder mit.
Die Technologie verändert sich schneller als unsere Wertvorstellungen. Ein interessantes Beispiel habe ich im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen gehört. Über Fünfzigjährige, die arbeitslos sind, neigen beispielsweise sehr oft zu Depressionen. In dem Moment, wo sie pensioniert werden, hören bei einigen die Depressionen auf. Ab dann brauchen sie nichts mehr zu machen im Sinn von gesellschaftlich anerkannten, statusbezogenen Leistungen.
Ja, keinen Job mehr zu finden, kann eine gewisse Ächtung sein.
Genau, geächtet. Ich habe schon von älteren Menschen gehört, die finden, unter der Woche rausgehen ist peinlich. Das heisst ja, man macht nichts ‹Rechtes›. Aber ich glaube, dass sich die Wertvorstellungen ändern und sich langsam anpassen. Leistung muss z.B. nicht mehr nur mit Geld verdienen einhergehen. Das bedingungslose Grundeinkommen, was man davon auch immer hält, wäre etwas, das extrem dafür sprechen würde. Man kann die stattfindende Veränderung angehen, ohne Angst zu haben, dass man zu den Verlierern gehört. Die Leute haben dann auch nicht mehr Angst, dass Roboter ihnen langweilige Jobs wegnehmen.
Vor hundert Jahren dachten die Leute, dass die Roboter für uns arbeiten würden. Das heisst, man hatte sich darauf gefreut, und jetzt macht es plötzlich Angst. Und der Grund dafür ist, dass unsere Wertvorstellungen, unser politisches System nicht dieses Tempo hat wie die Technologie. Und diese Diskrepanz hat unter anderem mit der Zunahme der psychischen Erkrankungen zu tun. Dass es mehr Erkrankungen gibt, weil wir in den Köpfen immer noch in der industriellen Zeit feststecken, während wir schon in der postindustriellen Zeit leben. Ich glaube, dass die Wachstumsorientierung Freiheiten, aber auch Verantwortung mit sich bringt. Immer noch ist es so, dass die meisten Menschen eine Ausbildung machen, und dann arbeiten sie. Die Gesellschaft hat immer noch die Einstellung, man hat einen Job, und der bleibt bis zur Pensionierung.
Und das bedeutet, dass, wenn dieser plötzlich wegfällt, man nicht in der Lage ist, für sich selber zu entscheiden, was man will und was einen interessiert. Das ist etwas, was eine gesellschaftliche Entwicklung sein muss.
Vielleicht nehmen in dem Moment psychische Erkrankungen ab, wo die Leute mehr dazu angeregt werden, sich zu entscheiden: ‹Was will ich überhaupt? ›
Noch eine letzte Frage: Wie kommt ein Zukunftsforscher zu seinen Aussagen?
Einer der grössten Treiber für die Veränderung sind unter anderem die Technologie, gesellschaftliche Veränderungen, vielleicht auch Wertvorstellungen. Wir reden mit Forschern.
Und wir extrapolieren gewisse Trends. Wir gehen davon aus, dass die Wachstums-Bewahrungsorientierung etwas ist, das es schon seit Jahrtausenden gegeben hat und vermutlich auch weiterhin geben wird. Wenn man den technologischen Wandel anschaut, kann man sich überlegen, was können diese Entwicklungen für die Motive von Wachstum und Bewahrung in diesem Beispiel bedeuten. Und das heisst, dass wir auf die Literatur zurückgreifen, auf psychologische Forschung. Durchaus auch sozialwissenschaftlich, vielleicht auch ökonomische. Und schlussendlich ist es immer ein bisschen Spekulation. Weshalb man dann auch gerne verschiedene Szenarien aufstellt. Was wir nicht machen können ist eine Prognose, wie es wird. Wir können eher einen Möglichkeitsraum aufspannen, in der Hoffnung, dass wir vielleicht auch Leute aus ihren Alltagsgeschäften rausholen, um sich zu überlegen: Was wäre sonst noch möglich. Was kann man machen, das anders ist und nicht nur darauf warten, was passiert.
Das würde wieder dafür sprechen, dass wir lernen flexibel zu sein, auch in Bezug auf unser eigenes Leben.
Genau. Weil man dadurch die Zukunft erschafft. Jeder trägt ein kleines Teilchen dazu bei.
Danke vielmals für das Gespräch.
Barbara Heimgartner