Leonhard Schlegel lebte von 1918 bis 2008. Er war sicherlich einer der letzten Zeitzeugen der sehr bewegten Psychiatrie- und Psychotherapieentwicklung und der entsprechend intensiven Forschungstätigkeit in Europa und Amerika. Seine Eltern waren Mitbegründer des Psychologischen Clubs in Zürich, dem damaligen Mittelpunkt der Analytischen Psychologie von C.G. Jung, mit dem sie befreundet waren. Leonhard tauchte bereits als Kind und Jugendlicher fasziniert in diese psychologieorientierte Welt ein. Sein beruflicher Weg war dann eine logische Fortsetzung dieser Prägung.
Als junger Psychiater erlebte er Situationen, welche für heutige, jüngere Fachleute gar nicht mehr persönlich nachvollziehbar sind. So hatte er beispielsweise die «Vollbilder» psychotischer Erkrankungen erlebt, bevor die Neuroleptika flächendeckend angewendet werden konnten. Ich erinnere mich auch sehr gut, wie er anlässlich einer Supervision zu einem komplexen psychiatrischen Störungsbild einer vorgestellten Klientin meinte, wir müssten begeistert sein. Solche Phänomene würde man heutzutage nur noch sehr selten in diesem Ausmass beobachten können. Die falleinbringende Supervisandin war vorerst weniger begeistert, eher besorgt ob ihrer eben dargestellten, schwierigen und bereits eskalierten Situation. Sie vermochte jedoch durch Leonhards Fokus tatsächlich einen hilfreichen Abstand zu ihrer Interventionsnot zu finden, und denkbare Optionen zum weiteren Vorgehen in ihrer Rolle als Lehrerin zu entwickeln.
Leonhard Schlegel faszinierten die im Alltag und in der Praxis zu beobachtenden Prozesse, sowohl aus der naturwissenschaftlichen medizinischen, viel mehr jedoch auf der geistes- humanwissenschaftlichen Ebene. Ganz im Sinne der Berne’schen Metapher des Holzsplitters im Zeh, welcher nach und nach den ganzen Organismus beeinträchtigt, so dass der Arzt kaum mehr die Ursache des Leidens finden könne, es sei denn er entwickle den professionellen Blick und das Gespür für die Genese der Störungsbilder, liebte Leonhard die Arbeit im Einzel- wie auch im Gruppensetting. Ich sehe ihn noch, wie er bis ins hohe Alter zum Teil kniend vor einem Flipchartbogen, mit Leidenschaft und gleichzeitiger, humorvoller Leichtigkeit Modelle erläuterte und anschliessend Selbsterfahrungsübungen anleitete.Er vertrat im Gespräch oft die Ansicht, Medizin und Psychotherapie seien eine Kunst und keine Wissenschaft. Er liebte es leidenschaftlich, durch die Lektüre von Fachliteratur in die Theoriekonstruktion und Modellbildung seiner Berufskollegen und -kolleginnen einzutauchen und dann sowohl wissensbasiert, wie auch intuitiv gesteuert zu analysieren und zu vergleichen.
Fast ehrfürchtig gab ich ihm einmal eine eigene Modellkonstruktion zu den Grundpositionen zum Gegenlesen. Ich wappnete mich innerlich bereits vor ungeschminkter Kritik, welche dann auch prompt kam. Seine Überlegungen stellten jedoch nicht meine Konstrukte an sich in Frage, sondern dienten einem konstruktiven Weiterdenken. Ich sah mich mit ihm auf Augenhöhe in eine spannende, bereichernde Diskussion verwickelt, welche nur Freude und keine Sorgen bereitete. Weil eben die Begeisterung für das Denken und Suchen an sich durch die Diskussion trug.
Sein Buch „Die transaktionale Analyse“ erschien 1979 als Band 5 des Grundrisses der Tiefenpsychologie.
Der Transaktionsanalyse gleich einen ganzen Band zu widmen fusst ursprünglich auf der Wirkung , welche -anfangs der 70er Jahre- das damals nur auf Englisch erhältliche Buch von Eric Berne «What do you say after you say hello» und «Spiele der Erwachsenen» bei ihm auslöste. Im Anschluss an die Lektüre, drängte Leonhard seine Frau, sie möge doch ein Seminar über Transaktionsanalyse bei Bert Hellinger besuchen. Offenbar kam seine Frau beflügelt, und -wie Leonhard feststellte- positiv verwandelt wieder nach Hause. Ab diesem Zeitpunkt waren sie beide überzeugt von diesem theoretischen wie methodischen Ansatz, welcher sich hervorragend im Einzel- wie auch im Gruppensetting für Psychotherapie und Selbsterfahrung zu eignen schien. Sie begannen im Weiteren gegen Ende der 70er Jahre Diskussionskreise zu Themen der Psychotherapie und namentlich zur Transaktionsanalyse zu organisieren.
Leonhard Schlegel kannte ich sehr lange, zuerst als sein Schüler und später als sein Freund. Er verfügte über eine einzigartige, unnachahmliche Wesensart der ungetrübten Begeisterung für psychotherapeutische Themen. Ich brauche nur ein paar Seiten seiner Bücher zu lesen und schon tauchen viele Erinnerungsbilder über seinen permanent offenen Geist auf, mit welchem er unermüdlich bis ins hohe Alter recherchiert hatte. In seinen letzten Lebensjahren klammerte er sich, in vollem Bewusstsein seines zunehmenden körperlichen Zerfalls, buchstäblich an die wenigen Stunden, welche er vor dem Computer und einem Stapel Bücher und Notizen verbringen konnte.
Ich war meinerseits in fachlicher Hinsicht bis zu seinem Tod immer sein Schüler geblieben. Seine altersbedingte Einbusse an Mobilität brachte es mit sich, dass ich immer öfters stundenlang bei ihm zuhause war, um mit ihm ernsthafte Dinge zu diskutieren und auch einfach zu schwatzen.
Leonhard Schlegel dachte und schrieb als langjähriger Praktiker, als begeisterter Beobachter.
Da er bis zu seinem Tod unermüdlich weiter an seinen Manuskripten arbeitete, blickte er auf viele Jahrzehnte aktiver Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche zurück.
Sein Werk ist im wahrsten Wortsinne ein Nachschlagewerk, welches nährt, wenn die Lektüre anderer transaktionsanalytischer Literatur meinen Hunger nicht ganz zu stillen vermag.
Mein Kollege Josef Sachs aus der damaligen TA-Grundausbildungsgruppe 1986 bis 1989 fügt gerne einige Gedanken zu Leonhard und seiner Ausbildungstätigkeit bei, welche das Bild über Leonhard Schlegel als Mensch und Mentor passend abrunden.
Wie bist du auf das Ausbildungsangebot zur dreijährigen Grundausbildung in Transaktionsanalyse, geleitet durch Leonhard Schlegel aufmerksam geworden?
Zur Zeit, als ich die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie begann, musste ich eine psychotherapeutische Methode als Erstausbildung wählen. Die TA war gerade sehr «in». Diese Ausbildung galt als weniger überreglementiert als andere, zum Beispiel in Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Leonhard war für diese Methode offizieller Supervisor in der Klinik, in der ich arbeitete.
Hast du eine Erinnerung an deinen ersten Kontakt mit Leonhard?
Ich habe Leonhard zuerst als Supervisor kennengelernt. Mir fiel sofort auf, dass er sehr genau zuhörte und zum Beispiel auch bei Versprechern nachfragte, was dahintersteckt.
Wie hast du seine Art und Weise, TA-Theorie zu vermitteln und Übungen anzuleiten, sowie auf deine Fragen und Anliegen einzugehen, erlebt?
Er verstand es, einen Tag lang eine überaus heterogene Gruppe so zu unterrichten, dass es einem keine Minute langweilig war. Wie er das schaffte, ist mir heute noch nicht ganz klar. Seine Interventionen waren immer «prêt-à-porter», das heisst sie konnten sofort in die Praxis umgesetzt werden.
Gibt es eine kleine Anekdote, welche dir zu Leonhard einfällt?
Die erste Supervisionsstunde, noch vor Beginn der Ausbildung. Da sass ein im Rentenalter stehender Mann mit schlohweissem Haar und sagte: «Zur Zeit mache ich gerade Transaktionsanalyse. Vielleicht werde ich irgendeinmal zu einer anderen Methode wechseln».