Schwerpunktthema

Sichtlich getrübt – das Fremde

Silvia Schnorf, lic. phil. I
Englischlehrerin/
Erwachsenenbildung
In fortgeschrittener Ausbildung
in Transaktionsanalyse
s.schnorf@bluewin.ch
Was wir als fremd empfinden, halten wir uns erst mal vom Leibe und produzieren gerade dadurch Fremdheit. Dazu reicht ein Blick des Befremdens, die Reaktion darauf entspricht der Blockierung einer gekreuzten Transaktion. Auf dieser visuellen Ebene hatten wir die Möglichkeit, parallel zu interagieren (‘transagieren’) aus dem wortwörtlich geteilten Augenblick heraus. Das Fremde trat uns entgegen und statt es in seiner Unbekanntheit anzunehmen, reagierten wir befremdet, verschreckt vielleicht und abwehrend. Unter diesem Fremdeln können wir ein Schutzbedürfnis aus dem Kind-Ich sehen, eine warnende Stimme aus dem Eltern-Ich hören oder gar eine urmenschliche Instinktreaktion vermuten, auf alle Fälle fehlt eine bewusste und integrierende Antwort aus dem Erwachsenen-Ich, die der Situation und den Umständen Rechnung trägt. Das Fremde ist ein Skript-Trigger, Begegnungen mit Fremden oft geradezu eine Miniskript-Achterbahn. Kein Wunder, wehren wir Fremdes, wo immer möglich, mit bekannter Vehemenz ab - oder suchen es, ganz im Gegenteil, als etwas Ideales. Dabei geht vergessen, dass das Fremde bezeichnenderweise ja unbekannt ist, sich also die Frage stellt, was denn abgewehrt, bzw. angestrebt wird. Weil es ja so blanko fremd ist, bietet sich das Fremde in seiner Leere als Projektionsfläche an. Wir kennen die Trübungen von Exotik (positive Projektionen, Illusion, Wunschdenken) und jene von Xenophobie und Rassismus (Vorurteile, negative Projektionen, Hass). Natürlich handelt es sich hier um Abwertungen (Discounts). Zu verhindern sind diese Vor-Urteile und anfänglichen Verzerrungen in ihren milderen Formen bei niemandem, sie dienen uns zu einer groben Orientierung. Doch Bewusstheit über diese Prozesse und die Bereitschaft zu reflektieren können vermeiden helfen, dass gleich aufs Dramadreieckskarussell aufgesprungen wird und man persönlich und politisch manipulierbar oder selbst manipulativ wird.
Das Befremden auf der einen Seite charakterisiert das Fremdsein auf der anderen. Ich denke, es ist viel Autonomie nötig, mit den (meist unausgesprochenen) Annahmen über einen selbst als Fremden umzugehen. Es kostet Kraft, sich nicht über sie definieren zu lassen und ist in gewissen Fällen unmöglich. Eine immer wieder zu erbringende Integrationsleistung von Migrierten ist es, zu beweisen, dass sie nicht ‘so’ sind, nicht sind, wie sie in den Köpfen spuken. Nationalitätenklischees halten sich oft hartnäckig, die wahren Identitäten fallen Discounting zum Opfer. Wer hätte, bis zu jenem Notfall, wo sie in Aktion trat, vermutet, dass die Dame hinter dem Tresen eine albanische Ärztin war, die sofort auch erklärte, dass sie hier nicht praktizieren darf. Das Fremde in Schranken zu halten, bedeutet es fremd zu halten. Fremdsein bedeutet nicht gesehen zu werden, sich nicht einbringen zu dürfen.
Im Fremden wehren wir unbewusst die Möglichkeit eigenen Fremdseins ab, denn Fremdsein ist bedrohlich und mit Schmerz verbunden. Ausserhalb stehen zu müssen löst Gefühle des Nicht-OK-Seins (-/+) oder die Abwertung vonseiten der Zugehörigen (+/-) aus. Wir sind auf Anerkennung angewiesen. Über den Austausch von Strokes vergewissern wir uns unserer sozialen Existenz. Was bei Ausgrenzung hirnphysiologisch abläuft, erklärt z.B. Joachim Bauer schlüssig und unter Verweis auf eine Fülle von sozialen und historischen Beispielen.1
Soziale Zugehörigkeit und Bindungen bedeuten Sicherheit. Im Fremdsein fallen diese weitgehend weg. Wenn ich selbst über Beziehungen verfüge und Zugehörigkeit erfahre, habe ich es weniger nötig, Fremde als Eindringlinge auszugrenzen. Dort jedoch, wo sie fehlen, werden Fremde unweigerlich als Konkurrenten empfunden – wie will ich sie integrieren, wenn ich es selbst nicht bin? Das würde die Empfindlichkeit gegenüber Fremden in strukturell schwachen Gegenden erklären. Menschen in bedrängter (oder so empfundener) Lage wechseln gegenüber Schwächeren auch mal aus der Opfer- in die Verfolgerposition. Das ist kein problemlösendes oder ethisches Verhalten. Die knappen Ressourcen (auch die psychischen) mit völlig Fremden zu teilen und damit den Eigenen vorzuenthalten, wird im gegebenen Kontext meist auch keine Option sein. Es ist folglich weniger eine Frage der Kultur, sondern eher der Begegnungsrahmen, der eine Annäherung und Überwindung der Fremdheit verunmöglichen kann. Es sind hier nicht kulturelle Differenzen, sondern mangelnde Ressourcen, die Animositäten auslösen und den Blick auf Gemeinsamkeiten versperren.
Über Fremdes definieren wir Eigenes, setzen Grenzen, erleben innerhalb Zugehörigkeit. Wenn die eigene Identität nicht stabil ist oder unter Druck gerät, provoziert das Fremde leicht nachvollziehbar Reaktionen aus dem Skript. Es irritiert z.B., indem es unser Selbstbild in Frage stellt, was es nicht sympathischer macht. Wir verteidigen unsere Grenzen vehementer mit starrem Bezugsrahmen, merken vielleicht nicht mehr, wo wir diskriminierend ausgrenzen, statt uns selbstbewusst und fair abzugrenzen. Wir lassen eine sehr wohl mögliche Verbindung zu diesen anderen Menschen nicht, oder nur bedingt zu. Statt uns mit dem Fremden vertraut zu machen, um es evtl. schrittweise als nun Vertrautgewordenes zu integrieren, betreiben wir ‘Othering’. Othering ist ein Begriff aus dem postkolonialen Diskurs, der treffend darauf hinweist, dass Andersartigkeit auch konstruiert wird. Indem ich Andere zu solchen erkläre, grenze ich sie aus und werte sie ab – mit TA gesprochen handelt es sich um Grandiosität aus einer Abwehrposition. Mit dieser Abwertung kann ich das Fremde nun für mich legitim abwehren und muss mich nicht mit ihm auseinandersetzen.
Unser Blick bleibt in diesem Fall an Differenz haften und versperrt jenen auf Gemeinsamkeiten. Das kann dazu führen, dass wir uns in Verstrickungen und Abhängigkeiten in Form von Symbiosen begeben. Othering ist diskriminierend. Es finden Machtspiele statt. Mechanismen wie Opferabwertung und die Verkehrung von Opfern in Täter dienen ihrer Rechtfertigung. Daher lohnt es sich, mit offenem Blick hinzusehen. Wir alle kennen genug soziale und politische Beispiele dieser Dynamiken. Vielleicht geben wir uns mit Rettermentalität Mühe, den ‘armen Menschen’ zu helfen, während wir ihnen gleichzeitig ihre Ressourcen aberkennen, sie aus verdeckten (unbewussten?) Motiven in der Opferposition halten, für die wir (nun als Verfolger) sie dann auch noch verantwortlich machen.
Wie anders sähe ein gleichwertiger Umgang aus! Zumindest könnten wir OK-OK realistisch (Fanita English) anstreben und im Dialog über Vertragsarbeit – in Anerkennung beiderseitiger Interessen und unter Respektierung bleibender Unterschiede – zu kooperativen Lösungen finden. Dass der Umgang mit kulturell Fremden komplexer ist als der mit dem altbekannten Nachbarn, versteht sich von selbst. Wenn wir aber bedenken, was wir sonst alles zu lernen bereit sind, dann ist es erstaunlich, dass wir unsere kulturellen Prägungen (und die der anderen) generell für so absolut halten, zumal wir genügend Beispiele haben für gelungene soziale Integration und sicher im eigenen Leben auf Erfahrungen zurückgreifen können, wo wir gelernt haben, mit disparaten Elementen unserer eigenen Kultur und Herkunft konstruktiv umzugehen – vielleicht gerade über TA und Skriptarbeit.
Das Fremde in den Köpfen hält sich neben kollektiven Stereotypen vor allem in Form einiger einflussreicher Trübungen, die auch damit zu tun haben, dass Kultur und Identität als Konzepte fast ebenso schlecht fassbar sind wie das Fremde selbst.
© Silvia Schnorf
Da ist einmal die statische Auffassung von Kultur, mithilfe derer wir, wie schon erwähnt, unsere Lernfähigkeit in Bezug auf Kultur ausblenden. Die TA postuliert, dass jeder Mensch denken und sich verändern kann – auch kulturell möchte ich hinzufügen. Kulturen wandeln sich mit gelebter Praxis und wir uns mit ihnen. Der Prozess der Digitalisierung führt uns das deutlich vor Augen. Mir gefällt als Illustration auch das Beispiel der Historizität von Emotionen2. Unsere Kultur und Lebenswelt bestimmt uns bis in unsere Gefühle – und zwar dynamisch. Wir ändern uns persönlich und kulturell, auch im Kontakt mit anderen Kulturen.
Die Idee singulärer Zugehörigkeit schürt Konflikte und lässt Konfrontationen eskalieren. Unsere Zugehörigkeit zu einer Gruppe bedingt notwendigerweise die Abgrenzung von anderen Gruppen. Problematisch wird es dort, wo dies nicht (selbst-)bewusst geschieht, sondern mittels destruktiver Spiele gegen Andere agitiert wird. Hierher gehört dann das Hochspielen einer singulären Zugehörigkeit, oft benutzt zur hysterischen Überhöhung einer Exklusivität, die so nicht existiert. Amartya Sen weist darauf hin, dass auf diese Weise Feindbilder mit katastrophalen Folgen stilisiert werden, während ausgeblendet wird, dass jeder Mensch im realen Leben vielfältigen Gruppierungen angehört und über verschiedene Teilidentitäten und entsprechende Beziehungen verfügt3. Plötzlich zählt nur noch ein einziges Identitätskriterium – meist Ethnie oder Religion - und es ist egal, ob die Trennlinie sogar durch Familien verläuft. Fremd ist dann ganz klar Feind, und es reicht, den falschen Namen zu haben, um verfolgt zu werden. Wie viele tragen solch traumatische Erfahrungen in ihrem kulturellen Skript und reagieren auf Fremde mit grossem Misstrauen.
Die Annahme kultureller Homogenität steht im Zusammenhang mit dem oben Genannten. Wir leben in einer globalisierten Welt und einer Einwanderungsgesellschaft: In allen Lebenssphären empfangen wir Impulse aus anderen Kulturen und schaffen gemeinsam Neues - ob Lösungen oder Probleme. Der Mythos kultureller Homogenität hält sich als grobe Simplifizierung jedoch hartnäckig (meist in Form von Nationalismus) und will etwas bewahren, das längst aufgegeben worden ist zugunsten einer, auch problematischen, Offenheit in der gegenwärtig so vernetzten Welt. In einer plurikulturellen Gesellschaft unter Veränderungsdruck soll dieser Mythos Überfremdungsgefühle erklären und produziert sie dabei gleich selbst.
Das Ausblenden von Gemeinsamkeiten ist die Folge der oben genannten Trübungen. Im Banne des Differenz- und Diversitätsgedankens übersehen wir, was wir teilen – seien dies gemeinsame Interessen und Ziele, eine Berufsidentität oder Familienrolle, ganz zu schweigen von universellen menschlichen Bedürfnissen. Mit Gemeinsamkeiten im Blick würden wir viel eher Schritte zu Bekanntschaft und Beziehung in die Wege leiten und damit Fremdheit und das mit ihr verbundene Unbehagen reduzieren.
Ein zentraler Punkt in der Begegnung mit Fremden schliesslich betrifft die Vernachlässigung des Kontexts. Die Lage eines Menschen bestimmt sein Verhalten und seine Möglichkeiten oft mehr als seine kulturelle Identität. Dies wird ausgeblendet, wo seine Fremdheit im Fokus ist. Dazu ein Gedankenexperiment: man stelle sich Personen identischer Herkunft als ‘Expats’ oder Asylsuchende vor, als Nachbarn oder Geschäftspartner. Der Kontext bestimmt, welches Bild wir von diesen Menschen gewinnen und wie wir ihnen begegnen.

All diese Trübungen suggerieren im Fremden etwas Absolutes und Unüberwindbares. Sie stellen kognitive Barrieren dar, die wir abwehrend errichtet haben. Wo wir Differenz suchen, werden wir sie auch immer finden, Gemeinsamkeiten jedoch übersehen. Hier können wir mit TA ansetzen in Anerkennung menschlicher Grundbedürfnisse und durch Anstreben einer OK-OK-Haltung. Die TA handhaben wir generell als universell anwendbare Kommunikationsmethode. Sie bietet in ihren Modellen auch einigen Spielraum für den Ausdruck kulturell unterschiedlicher Ausprägungen menschlicher Erfahrungen und Werte. Sie liefert ebenso das Instrumentarium für einen Austausch darüber und wird mittlerweile quer über den Globus praktiziert. TA nimmt Menschen in ihrem Kontext wahr und begleitet sie hin zu grösserer Autonomie. Ein schönes Beispiel dafür liefert Karen Pratt in einem Beitrag über ihre Arbeit in Südafrika4.
TA fördert Selbst- und Sozialkompetenz und trägt damit zur Verständigung und Verringerung von gefühlter Fremdheit bei. Wir können sie einsetzen zur Förderung von Fremdheitskompetenz: Nach innen zur Förderung des Bewusstseins für eigene Reaktionen auf Fremdes und Fremde, sowie zur Reflexion eigener Erfahrungen des Fremdseins; nach aussen zu einer achtsamen Verständigung auf OK-OK-Basis, die dem fremden Gegenüber die gleiche Menschlichkeit zugesteht wie den Eigenen. Die Kombination der Innen- und Aussenperspektive schliesslich verhilft den sich Fremden in der Begegnung zu mehr Autonomie: Wir wahren einen flexiblen Bezugsrahmen, der dem Lernen über Andere und über uns selbst zugänglich ist und uns immer wieder neu Orientierung verschafft (Bewusstheit); wir können Beziehungen herstellen und freier gestalten, die uns Skriptreaktionen (auch kollektive) bis dahin verunmöglichten (Intimität); über kooperatives Vorgehen können wir unsere Ressourcen komplementär einbringen und gemeinsam nutzen (Spontaneität). Studien und Versuchsanlagen im Zuge der Desegration in den USA zeigten, dass Begegnungen mit einzelnen Vertretern einer kulturell fremden Gruppe zumeist keine Vorurteile entkräfteten, sondern sie im Gegenteil noch verstärkten, da solche Einzelpersonen offenbar gemeinhin als die Regel bestätigende Ausnahmen gesehen werden. Erfolgreichere Arrangements gestalteten mit dem «jigsaw classroom» ein kooperatives Lernsetting, innerhalb dessen beide, bzw. alle Seiten gleichberechtigt waren, gemeinsame Ziele anzustreben hatten und aufeinander angewiesen waren5. Diese drei Kriterien finden wir auch in den meisten erwachsenenbildnerischen Kontexten. Wir können einen solch ko-kreativen Rahmen ideal mit TA begleiten, um mehr soziale Kohärenz anzustreben. (Als TA-ler haben wir ja die Wirksamkeit solcher Gruppenarrangements in der Ausbildung auch selbst erlebt.) Positive Lernerfahrungen in einer kulturell gemischten Gruppe, in der mit jeder Lektion mehr Gemeinsamkeiten und auch grösseres Verständnis für Unterschiede entstehen, dienen konkret der Enttrübung und Bezugsrahmenerweiterung und liefern damit ein Gegenmittel zu den Negativschlagzeilen, die unser Bild vom Fremden stärker zu prägen scheinen als die weit häufigeren problemlosen, damit aber unauffälligen, Begegnungen.
Mit TA können wir ergründen, welche Umstände und inneren Faktoren unser Verhältnis zum Fremden bestimmen. Mir scheint ein selbst- und sozialkompetenter Umgang mit dem Fremden vielversprechender als interkulturelle Verhaltenstrainings für einzelne Kulturen. Wo wir es schaffen, Lernen situativ und in geschütztem Rahmen (Permission, Protection, Potency!) im konstruktivistischen Sinn anzuleiten, entsteht Neugier und Entdeckerlust, die Kommunikation wird klarer, die eigene Identität gewinnt in Auseinandersetzung mit dem Fremden an Kontur. Anstelle von Fremdeln tritt Vertrauen in Selbst und Andere. Und nicht zuletzt erlangt in solchen Dialogen auch ‘das Fremde’ eine Stimme mit Resonanz, die einer nachhaltigen Verständigung dienen wird und das Eigene bereichern kann.


1. Bauer, J. (2011). Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München: K. Blessing.
2. Siehe: History of Emotions: www.ted.com/talks/tiffany_watt_smith_the_history_of_human_emotions und www.mpib-berlin.mpg.de/en/research/history-of-emotions
3. Sen, Amartya. (2006). Identity & Violence, The Illusion of Destiny. London: Penguin.
4. Pratt, Karen. (2016). Building Community. In: G. Barrow & T. Newton (Eds.) Educational Transactional Analysis. (pp. 251-264). London: Routledge.
5. Aronson, E. et al. (2016). Reducing Prejudice. In: Social psychology. (pp. 442-450). Boston: Pearson.

Schwerpunktthema

Demenz - wenn aus einem vertrauten Menschen ein Fremder wird

Gabriela Egeli
CTA-O
DAS Demenz und Lebensgestaltung an
der Fachhochschule Bern, Institut Alter
www.perspektive-demenz.ch
info@perspektive-demenz.ch
Das Erste, was mir bei meinem Onkel auffiel, war, dass er nach dem Einkaufen in einem ihm bestens bekannten Parkhaus versucht hat, in die entgegengesetzte Richtung, durch den Einbahnverkehr, auszuparken. Ich kann mich noch gut an meine Verwirrung und meine Gedanken „was tut er denn da!!!“ erinnern. Auf dem Nachhausweg hat er dann noch beinah eine rote Ampel überfahren. Ich vermute, dass er meine innere Unruhe gespürt hat und seine Aufmerksamkeit dadurch beeinträchtigt war.
Danach ist mir monatelang nichts mehr aufgefallen und der Vorfall war schon beinah vergessen, als er auf einmal Wörter verwechselte: aus der Steckdose wurde eine Lamelle – und das gleich mehrfach, ohne dass er seinen Fehler bemerkt hat.
Als ich meine Tante auf meine Beobachtungen ansprach, wurde rasch klar, dass mein Onkel schon viele Kompetenzen verloren hat und der Beginn einer Demenz vorhanden war.
Ein paar Fakten zur Demenz
Die Demenz ist eine Erkrankung mit vielen Gesichtern. Es gibt über 100 verschiedene Demenztypen, wobei die Alzheimer-Demenz mit gut 50% am häufigsten vorkommt. Die Alzheimer-Demenz wurde 1906 erstmals von Alois Alzheimer, einem deutschen Psychiater, beschrieben. Heute, also mehr als 100 Jahre später, weiss man nach wie vor nicht, was der Auslöser für die Alzheimer-Erkrankung ist. Vieles wurde diskutiert und wieder verworfen. Bis heute gibt es keine wirksame medikamentöse Therapie. Die Erkrankung kann weder gestoppt noch geheilt werden.
Erst Anfangs 2018 hat eine der führenden Pharmafirmen in der Alzheimerforschung die Entwicklung in Bezug auf Alzheimermedikamente eingestellt. Dies stimmt nicht gerade zuversichtlich.
Gemäss der Alzheimervereinigung lebten 2014 in der Schweiz ca. 113'000 Menschen mit Demenz1. Jährlich gibt es 27'000 Neuerkrankungen. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung schätzt man eine Zunahme auf ca. 300'000 Menschen mit Demenz bis ins Jahr 2050. Auch wenn es Menschen gibt, die früh an Demenz erkranken (von Früherkrankten spricht man, wenn die ersten Demenzsymptome vor dem offiziellen Pensionsalter auftreten), ist und bleibt die Demenz die Erkrankung des Alters. Je älter ein Mensch wird, desto höher ist sein Risiko, an einer Demenz zu erkranken.
Die Demenz betriff das ganze Familiensystem wie keine andere Krankheit. Mitanzusehen, wie sich ein geliebter Mensch verändert, ist schwer auszuhalten. Veränderungen im Verhalten führen oft dazu, dass ein vertrauter Mensch seinen Angehörigen zunehmend fremd erscheint. Insbesondere, wenn die Verhaltensweisen nicht mehr gesellschaftskompatibel sind. Die amerikanische Psychologin Pauline Boss spricht in ihrem Buch „Da und doch so fern“ von „ambiguous loss“, also von einem uneindeutigen, unklaren Verlust. Der geliebte Mensch beginnt sich zu verändern, verliert seine Kompetenzen und wird fremd. Sein Umfeld erkennt ihn fast nicht mehr und er erkennt seine Umgebung nicht mehr. Nichtsdestotrotz ist er nach wie vor da. Durch den kontinuierlichen Abbauprozess ziehen sich diese Veränderungen über Jahre hin.
Angehörige gehen unterschiedlich mit der Situation und den immer wieder neuen Verlusten um. Während der Ehemann und der Sohn einer von Demenz betroffenen Frau/Mutter alles verdrängen, kommt die Tochter zu mir in die Beratung und ist bereits in der Phase der Trauer. Ihre Versuche, den Vater und den Bruder von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen scheitern: Ihr wird „Schwarzmalerei“ vorgeworfen. Dies wiederum macht sie wütend und sie merkt, dass sie in ähnlichen Mustern agiert, wie sie das früher in der Familie gemacht hat. Oftmals werden frühere Konflikte reaktiviert, verdrängte Themen schwappen hoch und belasten die Angehörigen zusätzlich.
Vom harmlosen Vergessen zur Bettlägerigkeit
Die Alzheimer-Demenz verläuft in drei Phasen: In der beginnenden Alzheimerdemenz kommt es zu einer zunehmenden Vergesslichkeit: Gegenstände werden verlegt, Termine vergessen usw. Begleitet wird dies von unterschiedlichen Symptomen wie Kommunikationsstörungen, Problemen mit der Orientierung (zeitlich und örtlich) sowie Schwierigkeiten beim Planen und Organisieren. In dieser Phase sind die Betroffenen oft ärgerlich, abweisend, streiten Fehler ab und beharren darauf, im Recht zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Menschen mit Demenz oftmals nicht als krank wahrnehmen. Der Fachbegriff für dieses Phänomen heisst Anosognosie. Dies ist aus meiner Sicht eines der schwierigsten Symptome. Wie soll man einem Menschen, der sich nicht krank fühlt und seine Defizite nicht wahrnehmen kann, erklären, dass er zur Untersuchung zum Hausarzt muss?
Der Verlust der eigenen Körperhygiene ist bezeichnend für die mittlere Krankheitsphase. Das Vergessen der Körperpflege oder das Wechseln der Kleidung sind jetzt Dauerzustand. Nicht selten kommt es jedoch auch zu Situationen, bei denen der Betroffene der Überzeugung ist, sich bereits gewaschen zu haben. So oder so führt die Körperpflege jetzt zu erhöhtem Stress. Hilfsangebote werden vehement abgelehnt, die Mitarbeiterinnen der Spitex wieder fortgeschickt oder beschimpft. Manchmal kommt es auch bei friedfertigen Menschen zu Tätlichkeiten wie Schlagen, Beissen oder Spucken. Angehörige empfinden diese Verhaltensweisen als äusserst belastend und fremd.
In der mittleren Phase der Demenz kommt es gelegentlich auch zum Verlust der autobiographischen Zusammenhänge. Die an Demenz erkrankte, hochbetagte Frau fühlt sich als junge Mutter, die nach Hause gehen muss, um die Kinder zu betreuen. Oft ist auch beobachtbar, dass Menschen mit Demenz in dieser Phase ihre Eltern suchen. Angehörige werden teilweise ganz oder phasenweise nicht mehr als das erkannt, was sie sind. So wird der Ehemann zum Vater oder Bruder. Das Nichterkennen oder die Verwechslung ist für die Angehörigen in der Regel ein Schock.
Sogenannte „herausfordernde Verhaltensweisen“ wie Schreien, körperliche Gewalt, aber auch eine Tag- und Nachtumkehr oder Weglauftendenz führen bei den Angehörigen zu einer massiven Überforderung, Hilflosigkeit und nicht selten auch zu grosser Scham. Oftmals wird dann eine Einweisung in ein Alters- und Pflegeheim unumgänglich.
In der fortgeschrittenen Demenz werden Betroffene zunehmend bettlägerig. Sie sind jetzt in allen Bereichen auf Hilfe angewiesen und brauchen rund um die Uhr Überwachung und Betreuung.


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Fremd in der Familie
Seit rund 10 Jahren begleite und berate ich Angehörige von Menschen mit Demenz. Ehefrauen, Ehemänner, Töchter, Söhne. Manchmal kommen sie einzeln zu mir in die Beratung, immer mehr jedoch auch als Familie.
Die kognitiven Fehlleistungen und das Abstreiten von Fehlern bei der beginnenden Demenz führen zu vermehrten Konflikten. Die Angehörigen verstehen nicht, was passiert, beharren ihrerseits darauf, recht zu haben. Dies führt zu Stress auf beiden Seiten.
Leider finden die Angehörigen den Weg in die Beratung in der Regel erst später, wenn der Leidensdruck ins Unermessliche gestiegen ist und sie in ihrer Not eher eskalierend als deeskalierend agiert haben. Dies hat die Situation weiter verschlechtert.
Zunächst ist mir wichtig, dass die Angehörigen ihre Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen: Frust, Ärger, Ängste, Hilflosigkeit. Die Beratung soll hier einen geschützten Ort bieten, wo alles gesagt werden darf. Dabei wende ich Erlaubnissätze an, bei denen es darum geht, negative Gefühle zulassen zu dürfen und gleichwohl eine gute Ehefrau / Tochter zu sein. Und es geht darum, sich abgrenzen zu dürfen: „Ich darf mir Zeit für mich nehmen und darf meinen Ehemann immer wieder in Obhut von Dritten geben“.
Auch Strokes ist ein Konzept, welches ich von Beginn der Beratung an viel und bewusst einsetze. Dabei verwende ich unbeding postitive Strokes (schön, sind Sie da) sowie bedingt positive (loben, wenn ihnen z.B. die Abgrenzung gelungen ist, ohne schlechtes Gewissen zu entwickeln). Bedingt negative Strokes verwende ich zurückhaltend, in der Regel dann, wenn der Klient neue Wege im Umgang mit dem Erkrankten erlernen will und dies noch nicht so ganz gelingt.
Oftmals schaue ich mit dem Klienten anhand des Konzeptes Strokes an, wie er seinen an Demenz erkrankten Angehörigen stroken kann. Dies fördert beim Kranken die positiven Anteile, stützt sein Selbstwertgefühl und baut Stress ab.
Viele Angehörige berichten, dass das Benennen der Diagnose sehr wichtig für sie war und Erleichterung gebracht hat. Die Gewissheit, dass die Verhaltensveränderung aufgrund einer Demenz stattfindet, bringt Erleichterung.
Einige Angehörige kommen bereits mit viel Fachwissen in die Beratung, sie haben Bücher gelesen oder sich im Internet informiert. Hier braucht es manchmal noch das Verlinken der Theorie mit der Praxis. Wenn die Mutter Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis hat und innerhalb fünf Minuten alles wieder vergisst, soll die Tochter auf Fragen, welche die letzte Zeit betreffen (was hast du gegessen, was hast du gestern gemacht?) verzichten.
In anderen Situationen kommen Klienten ohne jegliches Wissen über die Erkrankung (was geschieht im Gehirn des Betroffenen) in die Beratung. Das Aufzeigen, dass der Vater oder die Mutter, Dinge nicht absichtlich macht, um die Tochter zu ärgern, entlastet und trägt dazu bei, Stress abzubauen.
Ebenfalls arbeite ich mit Angehörigen bereits in dieser Phase darauf hin, in eine Selbsthilfegruppe zu gehen. Diese werden von der Alzheimervereinigung Schweiz in allen grösseren Städten angeboten. Die Gruppen werden von Fachpersonen geleitet und sind in der Regel aufgeteilt (Gruppe für Partner bzw. für Töchter und Söhne). Hier lernen die Teilnehmer sehr viel von den Erfahrungen der anderen Angehörigen.
Häufige drehen sich Beratungsanliegen in späteren Krankheitsphasen um Themen der Körperpflege und um Bewältigungsstrategien für den Alltag:
Wie kann ich die Körperpflege gestalten, dass sie meinen Ehemann oder Vater nicht belasten?
Die Mutter akzeptiert die Spitex / den Mahlzeitendienst nicht, was kann ich tun?
Die Mutter beschuldigt mich, nie zu kommen, dabei bin ich jeden Tag bei ihr – was tun?
Wie lange kann ich meine Frau oder Mutter alleine zu Hause lassen?

Bei der Beratung von Angehörigen, deren Eltern noch alleine zu Hause wohnen, kommen zudem Aspekte der Sicherheit dazu: Welche Gefahren lauern zu Hause? Kochherd, Verbrennungen durch Wasser, Stromschläge, gefährliche Treppenhäuser, können Alarmsysteme wie die Notfalluhr noch sicher bedient werden?
Zudem muss thematisiert werden, ob und wie lange die alleinstehende, an Demenz erkrankte Person noch zu Hause, in dem gewohnten Umfeld bleiben kann.
Insbesondere mit dem Heimeintritt tun sich viele sehr schwer. Fragt man die Menschen mit Demenz selber, ob sie ins Heim wollen, ist die Antwort in aller Regel „Nein“. Sie können sich dies nicht vorstellen, verstehen vielleicht auch die Frage nicht mehr. Die objektive Einschätzung der Menschen mit Demenz fehlt ebenso wie ihre Entscheidungsfähigkeit in Bezug auf diese Frage, da sie die Konsequenzen ihrer Handlung (was es bedeutet alleine zu Hause zu bleiben) nicht mehr richtig einschätzen können. Also liegt diese Entscheidung bei der Bezugsperson. Wenn ihr Eltern-Ich verinnerlicht hat, „Eltern gibt man nicht ins Altersheim“, dann ist dieser Prozess langwierig und erfordert viel Aufklärungs- und Enttrübungsarbeit.
In aller Regel ist dies eine der schwierigsten und emotionalsten Entscheidungen, die Angehörige treffen müssen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen mit einer mittleren Demenz in der Institution stress- und angstfreier leben als alleine zu Hause. Es macht auch Sinn, die Einweisung vorzunehmen, bevor die Angehörigen dekompensieren oder es zu Gewaltausbrüchen aufgrund von Überforderung kommt. Ich thematisiere dies schon früh in der Beratung. Beispielsweise konnten sich Angehörige nicht auf einen Heimeintritt einigen, da eines der Kinder diesen komplett abgelehnt hat. In dieser Pattsituation stürzte die Mutter und musste notfallmässig ins Spital gebracht werden. Nach dem Spitalaufenthalt war die Rückkehr nach Hause nicht mehr denkbar und so kam es schlussendlich doch zum Heimeintritt.
Insbesondere pflegende Angehörige haben ein erhöhtes Risiko, an einem Burnout zu erkranken. In der Beratung habe ich das immer im Hinterkopf und frage gezielt nach Belastungssymptomen wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit, sozialer Rückzug usw. In der Schweiz gibt es zahlreiche Entlastungsangebote für pflegende Angehörige, wie zum Beispiel ein regelmässiger Besuchsdienst, damit die Angehörigen ein paar freie Stunden haben, der Aufenthalt in einer Tagesklinik oder für einige Wochen ein Ferienbett in einem Altersheim etc.
Es gehört zu meinen Aufgaben, diese Möglichkeiten zusammen mit dem Klienten anzuschauen, Vor- und Nachteile zu beleuchten und für die betroffene Person und deren Umfeld eine gute Lösung anzustreben.
Ein stabiles Netzwerk ist eine gute Prophylaxe für die Gesundheit der Angehörigen. Vieles dreht sich daher um die Frage, wer welche Entlastung anbieten kann.
Bei den Themen rund um die Bewältigung der Situation für den Klienten und seine Familie, sind mir die TA–Modelle eine grosse Hilfe. Allen voran möchte ich die Strokes erwähnen. Der fremd gewordene Mensch mit Demenz ist nicht mehr in der Lage, dem Angehörigen für all die Hilfe und Unterstützung zu danken. Dadurch entsteht ein grosser Mangel an Strokes, den ich bewusst auszugleichen versuche. Alleine die Frage „wie geht es Ihnen heute, was beschäftigt sie“ löst bei den Klienten Dankbarkeit aus.

Bei meinem Onkel schreitet die Demenz sehr langsam voran. Er leidet unter der oben beschriebenen Anosognosie, über die Demenz sprechen geht bei ihm nicht. Nach wie vor lebt er mit seiner Ehefrau zusammen zu Hause. Sie erzählt uns, dass der Alltag für sie äusserst herausfordernd sei. So muss sie ihn tagtäglich überreden, sich zu waschen oder zu duschen. Die Organisation und Strukturierung ihres Alltags obliegt ihr alleine. Sie erledigt mittlerweile die ganze Administration wie das Bezahlen der Rechnungen, Terminverwaltung usw. Sie leidet darunter, nicht mehr mit ihm diskutieren zu können. Das Schlimmste für sie sei, kein „Echo“ mehr zu haben, da die meisten Dinge, die sie beschäftigen, ihn nicht mehr interessieren und er stumm bleibe. Sämtliche Entscheidungen, die ihn oder sie als Paar betreffen, muss meine Tante nun alleine treffen. Auch da ist er ihr fremd geworden. Ihr Bezugsrahmen hat sich somit grundlegend verändert. Es war und ist ein grosses Stück Arbeit, den Bezugsrahmen auf die jeweilige Situation anzupassen, den Spielraum auszuloten und den Alltag zu bewältigen.
Was die Zukunft für ihn und sein Umfeld bereithält, wird sich zeigen. Als Angehörige versuche ich offen zu bleiben und auch in herausfordernden Situationen meine ok / ok Haltung beizubehalten.
1. Alzheimervereinigung Schweiz, www.alz.ch (pp. 442-450). Boston: Pearson.
Literaturangaben
Boss, B. (2014). Da und doch so fern. Zürich: rüffer & rub Sachbuchverlag.