Schwerpunktthema

Demenz - wenn aus einem vertrauten Menschen ein Fremder wird

Gabriela Egeli
CTA-O
DAS Demenz und Lebensgestaltung an
der Fachhochschule Bern, Institut Alter
www.perspektive-demenz.ch
info@perspektive-demenz.ch
Das Erste, was mir bei meinem Onkel auffiel, war, dass er nach dem Einkaufen in einem ihm bestens bekannten Parkhaus versucht hat, in die entgegengesetzte Richtung, durch den Einbahnverkehr, auszuparken. Ich kann mich noch gut an meine Verwirrung und meine Gedanken „was tut er denn da!!!“ erinnern. Auf dem Nachhausweg hat er dann noch beinah eine rote Ampel überfahren. Ich vermute, dass er meine innere Unruhe gespürt hat und seine Aufmerksamkeit dadurch beeinträchtigt war.
Danach ist mir monatelang nichts mehr aufgefallen und der Vorfall war schon beinah vergessen, als er auf einmal Wörter verwechselte: aus der Steckdose wurde eine Lamelle – und das gleich mehrfach, ohne dass er seinen Fehler bemerkt hat.
Als ich meine Tante auf meine Beobachtungen ansprach, wurde rasch klar, dass mein Onkel schon viele Kompetenzen verloren hat und der Beginn einer Demenz vorhanden war.
Ein paar Fakten zur Demenz
Die Demenz ist eine Erkrankung mit vielen Gesichtern. Es gibt über 100 verschiedene Demenztypen, wobei die Alzheimer-Demenz mit gut 50% am häufigsten vorkommt. Die Alzheimer-Demenz wurde 1906 erstmals von Alois Alzheimer, einem deutschen Psychiater, beschrieben. Heute, also mehr als 100 Jahre später, weiss man nach wie vor nicht, was der Auslöser für die Alzheimer-Erkrankung ist. Vieles wurde diskutiert und wieder verworfen. Bis heute gibt es keine wirksame medikamentöse Therapie. Die Erkrankung kann weder gestoppt noch geheilt werden.
Erst Anfangs 2018 hat eine der führenden Pharmafirmen in der Alzheimerforschung die Entwicklung in Bezug auf Alzheimermedikamente eingestellt. Dies stimmt nicht gerade zuversichtlich.
Gemäss der Alzheimervereinigung lebten 2014 in der Schweiz ca. 113'000 Menschen mit Demenz1. Jährlich gibt es 27'000 Neuerkrankungen. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung schätzt man eine Zunahme auf ca. 300'000 Menschen mit Demenz bis ins Jahr 2050. Auch wenn es Menschen gibt, die früh an Demenz erkranken (von Früherkrankten spricht man, wenn die ersten Demenzsymptome vor dem offiziellen Pensionsalter auftreten), ist und bleibt die Demenz die Erkrankung des Alters. Je älter ein Mensch wird, desto höher ist sein Risiko, an einer Demenz zu erkranken.
Die Demenz betriff das ganze Familiensystem wie keine andere Krankheit. Mitanzusehen, wie sich ein geliebter Mensch verändert, ist schwer auszuhalten. Veränderungen im Verhalten führen oft dazu, dass ein vertrauter Mensch seinen Angehörigen zunehmend fremd erscheint. Insbesondere, wenn die Verhaltensweisen nicht mehr gesellschaftskompatibel sind. Die amerikanische Psychologin Pauline Boss spricht in ihrem Buch „Da und doch so fern“ von „ambiguous loss“, also von einem uneindeutigen, unklaren Verlust. Der geliebte Mensch beginnt sich zu verändern, verliert seine Kompetenzen und wird fremd. Sein Umfeld erkennt ihn fast nicht mehr und er erkennt seine Umgebung nicht mehr. Nichtsdestotrotz ist er nach wie vor da. Durch den kontinuierlichen Abbauprozess ziehen sich diese Veränderungen über Jahre hin.
Angehörige gehen unterschiedlich mit der Situation und den immer wieder neuen Verlusten um. Während der Ehemann und der Sohn einer von Demenz betroffenen Frau/Mutter alles verdrängen, kommt die Tochter zu mir in die Beratung und ist bereits in der Phase der Trauer. Ihre Versuche, den Vater und den Bruder von ihrer Sicht der Dinge zu überzeugen scheitern: Ihr wird „Schwarzmalerei“ vorgeworfen. Dies wiederum macht sie wütend und sie merkt, dass sie in ähnlichen Mustern agiert, wie sie das früher in der Familie gemacht hat. Oftmals werden frühere Konflikte reaktiviert, verdrängte Themen schwappen hoch und belasten die Angehörigen zusätzlich.
Vom harmlosen Vergessen zur Bettlägerigkeit
Die Alzheimer-Demenz verläuft in drei Phasen: In der beginnenden Alzheimerdemenz kommt es zu einer zunehmenden Vergesslichkeit: Gegenstände werden verlegt, Termine vergessen usw. Begleitet wird dies von unterschiedlichen Symptomen wie Kommunikationsstörungen, Problemen mit der Orientierung (zeitlich und örtlich) sowie Schwierigkeiten beim Planen und Organisieren. In dieser Phase sind die Betroffenen oft ärgerlich, abweisend, streiten Fehler ab und beharren darauf, im Recht zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Menschen mit Demenz oftmals nicht als krank wahrnehmen. Der Fachbegriff für dieses Phänomen heisst Anosognosie. Dies ist aus meiner Sicht eines der schwierigsten Symptome. Wie soll man einem Menschen, der sich nicht krank fühlt und seine Defizite nicht wahrnehmen kann, erklären, dass er zur Untersuchung zum Hausarzt muss?
Der Verlust der eigenen Körperhygiene ist bezeichnend für die mittlere Krankheitsphase. Das Vergessen der Körperpflege oder das Wechseln der Kleidung sind jetzt Dauerzustand. Nicht selten kommt es jedoch auch zu Situationen, bei denen der Betroffene der Überzeugung ist, sich bereits gewaschen zu haben. So oder so führt die Körperpflege jetzt zu erhöhtem Stress. Hilfsangebote werden vehement abgelehnt, die Mitarbeiterinnen der Spitex wieder fortgeschickt oder beschimpft. Manchmal kommt es auch bei friedfertigen Menschen zu Tätlichkeiten wie Schlagen, Beissen oder Spucken. Angehörige empfinden diese Verhaltensweisen als äusserst belastend und fremd.
In der mittleren Phase der Demenz kommt es gelegentlich auch zum Verlust der autobiographischen Zusammenhänge. Die an Demenz erkrankte, hochbetagte Frau fühlt sich als junge Mutter, die nach Hause gehen muss, um die Kinder zu betreuen. Oft ist auch beobachtbar, dass Menschen mit Demenz in dieser Phase ihre Eltern suchen. Angehörige werden teilweise ganz oder phasenweise nicht mehr als das erkannt, was sie sind. So wird der Ehemann zum Vater oder Bruder. Das Nichterkennen oder die Verwechslung ist für die Angehörigen in der Regel ein Schock.
Sogenannte „herausfordernde Verhaltensweisen“ wie Schreien, körperliche Gewalt, aber auch eine Tag- und Nachtumkehr oder Weglauftendenz führen bei den Angehörigen zu einer massiven Überforderung, Hilflosigkeit und nicht selten auch zu grosser Scham. Oftmals wird dann eine Einweisung in ein Alters- und Pflegeheim unumgänglich.
In der fortgeschrittenen Demenz werden Betroffene zunehmend bettlägerig. Sie sind jetzt in allen Bereichen auf Hilfe angewiesen und brauchen rund um die Uhr Überwachung und Betreuung.


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Fremd in der Familie
Seit rund 10 Jahren begleite und berate ich Angehörige von Menschen mit Demenz. Ehefrauen, Ehemänner, Töchter, Söhne. Manchmal kommen sie einzeln zu mir in die Beratung, immer mehr jedoch auch als Familie.
Die kognitiven Fehlleistungen und das Abstreiten von Fehlern bei der beginnenden Demenz führen zu vermehrten Konflikten. Die Angehörigen verstehen nicht, was passiert, beharren ihrerseits darauf, recht zu haben. Dies führt zu Stress auf beiden Seiten.
Leider finden die Angehörigen den Weg in die Beratung in der Regel erst später, wenn der Leidensdruck ins Unermessliche gestiegen ist und sie in ihrer Not eher eskalierend als deeskalierend agiert haben. Dies hat die Situation weiter verschlechtert.
Zunächst ist mir wichtig, dass die Angehörigen ihre Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen: Frust, Ärger, Ängste, Hilflosigkeit. Die Beratung soll hier einen geschützten Ort bieten, wo alles gesagt werden darf. Dabei wende ich Erlaubnissätze an, bei denen es darum geht, negative Gefühle zulassen zu dürfen und gleichwohl eine gute Ehefrau / Tochter zu sein. Und es geht darum, sich abgrenzen zu dürfen: „Ich darf mir Zeit für mich nehmen und darf meinen Ehemann immer wieder in Obhut von Dritten geben“.
Auch Strokes ist ein Konzept, welches ich von Beginn der Beratung an viel und bewusst einsetze. Dabei verwende ich unbeding postitive Strokes (schön, sind Sie da) sowie bedingt positive (loben, wenn ihnen z.B. die Abgrenzung gelungen ist, ohne schlechtes Gewissen zu entwickeln). Bedingt negative Strokes verwende ich zurückhaltend, in der Regel dann, wenn der Klient neue Wege im Umgang mit dem Erkrankten erlernen will und dies noch nicht so ganz gelingt.
Oftmals schaue ich mit dem Klienten anhand des Konzeptes Strokes an, wie er seinen an Demenz erkrankten Angehörigen stroken kann. Dies fördert beim Kranken die positiven Anteile, stützt sein Selbstwertgefühl und baut Stress ab.
Viele Angehörige berichten, dass das Benennen der Diagnose sehr wichtig für sie war und Erleichterung gebracht hat. Die Gewissheit, dass die Verhaltensveränderung aufgrund einer Demenz stattfindet, bringt Erleichterung.
Einige Angehörige kommen bereits mit viel Fachwissen in die Beratung, sie haben Bücher gelesen oder sich im Internet informiert. Hier braucht es manchmal noch das Verlinken der Theorie mit der Praxis. Wenn die Mutter Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis hat und innerhalb fünf Minuten alles wieder vergisst, soll die Tochter auf Fragen, welche die letzte Zeit betreffen (was hast du gegessen, was hast du gestern gemacht?) verzichten.
In anderen Situationen kommen Klienten ohne jegliches Wissen über die Erkrankung (was geschieht im Gehirn des Betroffenen) in die Beratung. Das Aufzeigen, dass der Vater oder die Mutter, Dinge nicht absichtlich macht, um die Tochter zu ärgern, entlastet und trägt dazu bei, Stress abzubauen.
Ebenfalls arbeite ich mit Angehörigen bereits in dieser Phase darauf hin, in eine Selbsthilfegruppe zu gehen. Diese werden von der Alzheimervereinigung Schweiz in allen grösseren Städten angeboten. Die Gruppen werden von Fachpersonen geleitet und sind in der Regel aufgeteilt (Gruppe für Partner bzw. für Töchter und Söhne). Hier lernen die Teilnehmer sehr viel von den Erfahrungen der anderen Angehörigen.
Häufige drehen sich Beratungsanliegen in späteren Krankheitsphasen um Themen der Körperpflege und um Bewältigungsstrategien für den Alltag:
Wie kann ich die Körperpflege gestalten, dass sie meinen Ehemann oder Vater nicht belasten?
Die Mutter akzeptiert die Spitex / den Mahlzeitendienst nicht, was kann ich tun?
Die Mutter beschuldigt mich, nie zu kommen, dabei bin ich jeden Tag bei ihr – was tun?
Wie lange kann ich meine Frau oder Mutter alleine zu Hause lassen?

Bei der Beratung von Angehörigen, deren Eltern noch alleine zu Hause wohnen, kommen zudem Aspekte der Sicherheit dazu: Welche Gefahren lauern zu Hause? Kochherd, Verbrennungen durch Wasser, Stromschläge, gefährliche Treppenhäuser, können Alarmsysteme wie die Notfalluhr noch sicher bedient werden?
Zudem muss thematisiert werden, ob und wie lange die alleinstehende, an Demenz erkrankte Person noch zu Hause, in dem gewohnten Umfeld bleiben kann.
Insbesondere mit dem Heimeintritt tun sich viele sehr schwer. Fragt man die Menschen mit Demenz selber, ob sie ins Heim wollen, ist die Antwort in aller Regel „Nein“. Sie können sich dies nicht vorstellen, verstehen vielleicht auch die Frage nicht mehr. Die objektive Einschätzung der Menschen mit Demenz fehlt ebenso wie ihre Entscheidungsfähigkeit in Bezug auf diese Frage, da sie die Konsequenzen ihrer Handlung (was es bedeutet alleine zu Hause zu bleiben) nicht mehr richtig einschätzen können. Also liegt diese Entscheidung bei der Bezugsperson. Wenn ihr Eltern-Ich verinnerlicht hat, „Eltern gibt man nicht ins Altersheim“, dann ist dieser Prozess langwierig und erfordert viel Aufklärungs- und Enttrübungsarbeit.
In aller Regel ist dies eine der schwierigsten und emotionalsten Entscheidungen, die Angehörige treffen müssen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen mit einer mittleren Demenz in der Institution stress- und angstfreier leben als alleine zu Hause. Es macht auch Sinn, die Einweisung vorzunehmen, bevor die Angehörigen dekompensieren oder es zu Gewaltausbrüchen aufgrund von Überforderung kommt. Ich thematisiere dies schon früh in der Beratung. Beispielsweise konnten sich Angehörige nicht auf einen Heimeintritt einigen, da eines der Kinder diesen komplett abgelehnt hat. In dieser Pattsituation stürzte die Mutter und musste notfallmässig ins Spital gebracht werden. Nach dem Spitalaufenthalt war die Rückkehr nach Hause nicht mehr denkbar und so kam es schlussendlich doch zum Heimeintritt.
Insbesondere pflegende Angehörige haben ein erhöhtes Risiko, an einem Burnout zu erkranken. In der Beratung habe ich das immer im Hinterkopf und frage gezielt nach Belastungssymptomen wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit, sozialer Rückzug usw. In der Schweiz gibt es zahlreiche Entlastungsangebote für pflegende Angehörige, wie zum Beispiel ein regelmässiger Besuchsdienst, damit die Angehörigen ein paar freie Stunden haben, der Aufenthalt in einer Tagesklinik oder für einige Wochen ein Ferienbett in einem Altersheim etc.
Es gehört zu meinen Aufgaben, diese Möglichkeiten zusammen mit dem Klienten anzuschauen, Vor- und Nachteile zu beleuchten und für die betroffene Person und deren Umfeld eine gute Lösung anzustreben.
Ein stabiles Netzwerk ist eine gute Prophylaxe für die Gesundheit der Angehörigen. Vieles dreht sich daher um die Frage, wer welche Entlastung anbieten kann.
Bei den Themen rund um die Bewältigung der Situation für den Klienten und seine Familie, sind mir die TA–Modelle eine grosse Hilfe. Allen voran möchte ich die Strokes erwähnen. Der fremd gewordene Mensch mit Demenz ist nicht mehr in der Lage, dem Angehörigen für all die Hilfe und Unterstützung zu danken. Dadurch entsteht ein grosser Mangel an Strokes, den ich bewusst auszugleichen versuche. Alleine die Frage „wie geht es Ihnen heute, was beschäftigt sie“ löst bei den Klienten Dankbarkeit aus.

Bei meinem Onkel schreitet die Demenz sehr langsam voran. Er leidet unter der oben beschriebenen Anosognosie, über die Demenz sprechen geht bei ihm nicht. Nach wie vor lebt er mit seiner Ehefrau zusammen zu Hause. Sie erzählt uns, dass der Alltag für sie äusserst herausfordernd sei. So muss sie ihn tagtäglich überreden, sich zu waschen oder zu duschen. Die Organisation und Strukturierung ihres Alltags obliegt ihr alleine. Sie erledigt mittlerweile die ganze Administration wie das Bezahlen der Rechnungen, Terminverwaltung usw. Sie leidet darunter, nicht mehr mit ihm diskutieren zu können. Das Schlimmste für sie sei, kein „Echo“ mehr zu haben, da die meisten Dinge, die sie beschäftigen, ihn nicht mehr interessieren und er stumm bleibe. Sämtliche Entscheidungen, die ihn oder sie als Paar betreffen, muss meine Tante nun alleine treffen. Auch da ist er ihr fremd geworden. Ihr Bezugsrahmen hat sich somit grundlegend verändert. Es war und ist ein grosses Stück Arbeit, den Bezugsrahmen auf die jeweilige Situation anzupassen, den Spielraum auszuloten und den Alltag zu bewältigen.
Was die Zukunft für ihn und sein Umfeld bereithält, wird sich zeigen. Als Angehörige versuche ich offen zu bleiben und auch in herausfordernden Situationen meine ok / ok Haltung beizubehalten.
1. Alzheimervereinigung Schweiz, www.alz.ch (pp. 442-450). Boston: Pearson.
Literaturangaben
Boss, B. (2014). Da und doch so fern. Zürich: rüffer & rub Sachbuchverlag.

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Dem Fremden täglich ausgesetzt – eine Familie reist um die Welt

Tanja Kernland
PTSTA-O, Lic. Oec. Publ.
t.kernland@ebi-zuerich.ch
Die erste Irritation unserer Kinder begann schon beim Packen: „Was?! Ich darf nicht alle meine Stofftiere mitnehmen? Weshalb müssen die Hot-Pants zu Hause bleiben?“ Ein ganzes Jahr würden wir reisen, die Hälfte davon in Südostasien und China. Alles, was wir dazu brauchten, musste in vier Rucksäcke passen. Unsere Töchter – damals acht und fast elf Jahre alt – schwankten hin und her zwischen aufgeregter Vorfreude, Angst davor, in der Schule den Anschluss zu verlieren und einem grundsätzlichen Unverständnis dafür, weshalb die Eltern nicht „normale“ Ferien mit ihnen machen konnten.
Ganz unerwartet reagierten die Mädchen sehr heftig auf das Reisen. Ausgerechnet das erste Zimmer in einem Hostel in Singapur entsprach nicht der Beschreibung und war mit knapp sechs Quadratmetern für uns vier und ohne Fenster äusserst bescheiden. Die Mädchen hatten einen Schock und bekamen Angst, dass wir ein ganzes Jahr nun so leben würden. Sie wollten am liebsten gleich wieder nach Hause. Am nächsten Morgen machten sie beim Frühstück Bekanntschaft mit einer sympathischen, jungen Frau aus Peru, die uns gleich herzlich zu sich nach Hause einlud und den Mädchen mit leuchtenden Augen sagte, wie toll sie das bestimmt fänden, mit ihren Eltern so eine Reise machen zu dürfen. Solche Momente waren in diesem Jahr unterwegs eine einzige grosse Bezugsrahmenerweiterung für die Kinder.
Nach Schlegel (1995) ist der Bezugsrahmen das persönliche Orientierungssystem, d.h. eine innere Landkarte, mit der sich jemand in der Welt zurechtfindet. Einer Bedrohung des Bezugsrahmens wird unterschiedlich begegnet. Um sich zu schützen, versuchten unsere Kinder zunächst, die neue Wirklichkeit abzuwerten oder ganz auszublenden und dies nicht nur im übertragenen Sinn: Unserer Jüngeren setzten in Peking die vielen aufgehängten Enten sehr zu. Um damit umgehen zu können, liess sie sich zu Beginn durch gewisse Gassen in China blind führen, um die Wirklichkeit nicht sehen zu müssen. Die Mädchen versuchten ausserdem so gut es ging, überall ein bisschen Zuhause zu schaffen, indem sie westliches Essen bestellten und ihre Zimmer mit ihren Kleidern und Stofftieren auslegten. Unsere Hypothese ist, dass sie es so schafften, die zunächst überwältigende Menge an unbekannten Eindrücken schrittweise an sich heran zu lassen, um so ihren Bezugsrahmen in verdaubaren Etappen zu erweitern. Durch den Bezugsrahmen wird die psychische Selbstorganisation stabilisiert und funktionstüchtig gehalten. Durch ihr vorübergehendes Beharren auf Bekanntem schützten sie sich vor der drohenden Überforderung.
Im Rückblick fragten wir uns, wann unsere Kinder begannen, sich mehr auf das Neue einzulassen und sich weniger sträubten. War es die Erkenntnis, dass sie in Asien besser fahren würden, wenn sie lokale Küche bestellten anstelle der sehr speziellen Pizza Hawaii, die mit Ketchup und Fruchtsalat serviert wurde? War es ein Sich-daran-Gewöhnen? Ja, bestimmt. Viel dazu beigetragen, sich auf das Fremde einzulassen, haben ausserdem Gespräche, wie zum Beispiel mit der jungen Frau aus Peru, mit Einheimischen oder uns Eltern. Sie führten zu einem zunehmenden Verstehen der Kulturen und Geschichten der Menschen, denen wir begegneten. Betroffen hörten die Mädchen von der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit und konnten dies in der allgegenwärtigen Überwachung in China selbst erleben. Sie wurden immer neugieriger auf das Fremde. Zum Beispiel wollten sie wissen, was denn der Geschäftssinn vieler Chinesen mit Kommunismus zu tun habe und was der Unterschied zur nordkoreanischen Variante sei. Sie wollten wissen, weshalb ein zutiefst buddhistisches Land wie Myanmar seine Minderheiten unterdrücken könne. Und daneben spielten sie mit Kindern im Dschungel von Borneo und lachten über ähnliche Spässe wie zu Hause. Sie alberten mit Mädchen herum, die mit Kopftuch und vollständig bekleidet im Fluss badeten – und verstanden nun auch, weshalb die Hot-Pants zu Hause blieben. Sie sahen ein, dass sie bettelnden Kindern keinen Gefallen taten, wenn sie ihnen Geld gaben. Auf einmal kamen sie sich sehr reich vor: Sie hatten zwar nur gerade einen einzigen Rucksack dabei und doch so unendlich viel mehr Besitz und Möglichkeiten als viele dieser Menschen. Überhaupt: Gegenüber Menschen hatten sie von Beginn an keine Berührungsängste. Im Nachhinein denke ich, dass es genau diese authentischen Begegnungen mit Menschen waren, die am wirksamsten ihren Bezugsrahmen erweiterten. Sie begannen einerseits zu verstehen, dass all diese spannenden Eindrücke und Erkenntnisse nur möglich waren, wenn sie sich darauf einliessen, wenn sie offen und neugierig blieben. Andererseits führte das wiederholte Schwärmen anderer Menschen über unsere Reise dazu, dass sie zunehmend spürten, dass diese etwas ganz Besonderes und Einmaliges war.
Haben wir mit unseren Mädchen je explizit über die OK-OK-Haltung gesprochen? Nein. Wir unterhielten uns jedoch oft über Kulturen und die Lebensbedingungen vor Ort. So ergaben sich täglich von selbst Gelegenheiten, ein „merkwürdiges“ Verhalten oder eine „seltsame“ Kultur zu verstehen und die Menschen dahinter zu entdecken. Ihr Blick auf die Welt wurde immer differenzierter und weniger bedrohlich, während sie sich Tag für Tag mehr auf sie einliessen. Asien war nicht mehr einfach nur Asien, asiatisches Essen nicht gleich asiatisches Essen.
Ein enger Bezugsrahmen kann sich unter anderem auch in gewissen Ängsten ausdrücken. Die schrittweise Bezugsrahmenerweiterung auf der Reise war für die Mädchen tendenziell angstreduzierend. Die vielen Erlebnisse führten zu neuen Erkenntnissen und Erfahrungen und so zu einem sukzessiven Abbau gewisser Ängste, so z.B. von Höhenangst oder Angst vor gewissen Tieren. Heute trauen sie sich viel mehr zu, denn sie wissen, dass sie sich auch ohne lokale Sprachkenntnisse zurecht finden können und dass die Welt voll von freundlichen, hilfsbereiten und interessierten Menschen ist. Wir haben unsere Töchter diesem Lernfeld ausgesetzt, und sie selbst haben gesteuert, wie rasch und intensiv sie die Eindrücke an sich heran liessen. Gerade ihr – aus Elternsicht manchmal anstrengendes – Beharren auf und Festhalten an Bekanntem ermöglichte ihnen ein gesundes Herantasten an neue Einsichten.
Als wir am letzten Tag unserer Asienzeit wieder in Kuala Lumpur durch die Stadt spazierten, wunderte sich unsere jüngere Tochter über sich selbst, dass sie vor sechs Monaten fand, diese Stadt sei schmutzig und habe schlechte Strassen. Über die tiefen Löcher in den Trottoirs hüpfte sie gelassen, den strengen Geruch aus manchen Hinterhöfen, der sie zu Beginn der Reise überfordert hatte, nahm sie nun kaum mehr wahr.
Welche Länder ihnen am besten gefallen haben? Laos und Kambodscha: Weil die Menschen dort so freundlich und anständig sind, das Leben gemütlich und gelassen, die Natur noch schön ist. Es ist keine naive Begeisterung. Sie wissen um die Bomben im Dschungel, die korrupten Regierungen, die Armut vieler Menschen. Sie haben eine zunehmend realistische, neugierige, interessierte und kritische OK-OK-Haltung entwickelt gegenüber dem Fremden.
Übrigens: In unserem letzten Reiseland, den USA, haben sie als erstes von ihrem Taschengeld moderne, ultrakurze Hosen gekauft. Wieder zu Hause haben sie den Anschluss an die Schule locker hingekriegt, und sie planen bereits unsere nächsten Reisen.
© Tanja Kernland | Einheimische stehen in Myanmar Schlange, um Fotos von den blonden Mädchen zu machen