Schwerpunktthema
Dem Fremden täglich ausgesetzt – eine Familie reist um die Welt
Die erste Irritation unserer Kinder begann schon beim Packen: „Was?! Ich darf nicht alle meine Stofftiere mitnehmen? Weshalb müssen die Hot-Pants zu Hause bleiben?“ Ein ganzes Jahr würden wir reisen, die Hälfte davon in Südostasien und China. Alles, was wir dazu brauchten, musste in vier Rucksäcke passen. Unsere Töchter – damals acht und fast elf Jahre alt – schwankten hin und her zwischen aufgeregter Vorfreude, Angst davor, in der Schule den Anschluss zu verlieren und einem grundsätzlichen Unverständnis dafür, weshalb die Eltern nicht „normale“ Ferien mit ihnen machen konnten.
Ganz unerwartet reagierten die Mädchen sehr heftig auf das Reisen. Ausgerechnet das erste Zimmer in einem Hostel in Singapur entsprach nicht der Beschreibung und war mit knapp sechs Quadratmetern für uns vier und ohne Fenster äusserst bescheiden. Die Mädchen hatten einen Schock und bekamen Angst, dass wir ein ganzes Jahr nun so leben würden. Sie wollten am liebsten gleich wieder nach Hause. Am nächsten Morgen machten sie beim Frühstück Bekanntschaft mit einer sympathischen, jungen Frau aus Peru, die uns gleich herzlich zu sich nach Hause einlud und den Mädchen mit leuchtenden Augen sagte, wie toll sie das bestimmt fänden, mit ihren Eltern so eine Reise machen zu dürfen. Solche Momente waren in diesem Jahr unterwegs eine einzige grosse Bezugsrahmenerweiterung für die Kinder.
Nach Schlegel (1995) ist der Bezugsrahmen das persönliche Orientierungssystem, d.h. eine innere Landkarte, mit der sich jemand in der Welt zurechtfindet. Einer Bedrohung des Bezugsrahmens wird unterschiedlich begegnet. Um sich zu schützen, versuchten unsere Kinder zunächst, die neue Wirklichkeit abzuwerten oder ganz auszublenden und dies nicht nur im übertragenen Sinn: Unserer Jüngeren setzten in Peking die vielen aufgehängten Enten sehr zu. Um damit umgehen zu können, liess sie sich zu Beginn durch gewisse Gassen in China blind führen, um die Wirklichkeit nicht sehen zu müssen. Die Mädchen versuchten ausserdem so gut es ging, überall ein bisschen Zuhause zu schaffen, indem sie westliches Essen bestellten und ihre Zimmer mit ihren Kleidern und Stofftieren auslegten. Unsere Hypothese ist, dass sie es so schafften, die zunächst überwältigende Menge an unbekannten Eindrücken schrittweise an sich heran zu lassen, um so ihren Bezugsrahmen in verdaubaren Etappen zu erweitern. Durch den Bezugsrahmen wird die psychische Selbstorganisation stabilisiert und funktionstüchtig gehalten. Durch ihr vorübergehendes Beharren auf Bekanntem schützten sie sich vor der drohenden Überforderung.
Im Rückblick fragten wir uns, wann unsere Kinder begannen, sich mehr auf das Neue einzulassen und sich weniger sträubten. War es die Erkenntnis, dass sie in Asien besser fahren würden, wenn sie lokale Küche bestellten anstelle der sehr speziellen Pizza Hawaii, die mit Ketchup und Fruchtsalat serviert wurde? War es ein Sich-daran-Gewöhnen? Ja, bestimmt. Viel dazu beigetragen, sich auf das Fremde einzulassen, haben ausserdem Gespräche, wie zum Beispiel mit der jungen Frau aus Peru, mit Einheimischen oder uns Eltern. Sie führten zu einem zunehmenden Verstehen der Kulturen und Geschichten der Menschen, denen wir begegneten. Betroffen hörten die Mädchen von der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit und konnten dies in der allgegenwärtigen Überwachung in China selbst erleben. Sie wurden immer neugieriger auf das Fremde. Zum Beispiel wollten sie wissen, was denn der Geschäftssinn vieler Chinesen mit Kommunismus zu tun habe und was der Unterschied zur nordkoreanischen Variante sei. Sie wollten wissen, weshalb ein zutiefst buddhistisches Land wie Myanmar seine Minderheiten unterdrücken könne. Und daneben spielten sie mit Kindern im Dschungel von Borneo und lachten über ähnliche Spässe wie zu Hause. Sie alberten mit Mädchen herum, die mit Kopftuch und vollständig bekleidet im Fluss badeten – und verstanden nun auch, weshalb die Hot-Pants zu Hause blieben. Sie sahen ein, dass sie bettelnden Kindern keinen Gefallen taten, wenn sie ihnen Geld gaben. Auf einmal kamen sie sich sehr reich vor: Sie hatten zwar nur gerade einen einzigen Rucksack dabei und doch so unendlich viel mehr Besitz und Möglichkeiten als viele dieser Menschen. Überhaupt: Gegenüber Menschen hatten sie von Beginn an keine Berührungsängste. Im Nachhinein denke ich, dass es genau diese authentischen Begegnungen mit Menschen waren, die am wirksamsten ihren Bezugsrahmen erweiterten. Sie begannen einerseits zu verstehen, dass all diese spannenden Eindrücke und Erkenntnisse nur möglich waren, wenn sie sich darauf einliessen, wenn sie offen und neugierig blieben. Andererseits führte das wiederholte Schwärmen anderer Menschen über unsere Reise dazu, dass sie zunehmend spürten, dass diese etwas ganz Besonderes und Einmaliges war.
Haben wir mit unseren Mädchen je explizit über die OK-OK-Haltung gesprochen? Nein. Wir unterhielten uns jedoch oft über Kulturen und die Lebensbedingungen vor Ort. So ergaben sich täglich von selbst Gelegenheiten, ein „merkwürdiges“ Verhalten oder eine „seltsame“ Kultur zu verstehen und die Menschen dahinter zu entdecken. Ihr Blick auf die Welt wurde immer differenzierter und weniger bedrohlich, während sie sich Tag für Tag mehr auf sie einliessen. Asien war nicht mehr einfach nur Asien, asiatisches Essen nicht gleich asiatisches Essen.
Ein enger Bezugsrahmen kann sich unter anderem auch in gewissen Ängsten ausdrücken. Die schrittweise Bezugsrahmenerweiterung auf der Reise war für die Mädchen tendenziell angstreduzierend. Die vielen Erlebnisse führten zu neuen Erkenntnissen und Erfahrungen und so zu einem sukzessiven Abbau gewisser Ängste, so z.B. von Höhenangst oder Angst vor gewissen Tieren. Heute trauen sie sich viel mehr zu, denn sie wissen, dass sie sich auch ohne lokale Sprachkenntnisse zurecht finden können und dass die Welt voll von freundlichen, hilfsbereiten und interessierten Menschen ist. Wir haben unsere Töchter diesem Lernfeld ausgesetzt, und sie selbst haben gesteuert, wie rasch und intensiv sie die Eindrücke an sich heran liessen. Gerade ihr – aus Elternsicht manchmal anstrengendes – Beharren auf und Festhalten an Bekanntem ermöglichte ihnen ein gesundes Herantasten an neue Einsichten.
Als wir am letzten Tag unserer Asienzeit wieder in Kuala Lumpur durch die Stadt spazierten, wunderte sich unsere jüngere Tochter über sich selbst, dass sie vor sechs Monaten fand, diese Stadt sei schmutzig und habe schlechte Strassen. Über die tiefen Löcher in den Trottoirs hüpfte sie gelassen, den strengen Geruch aus manchen Hinterhöfen, der sie zu Beginn der Reise überfordert hatte, nahm sie nun kaum mehr wahr.
Welche Länder ihnen am besten gefallen haben? Laos und Kambodscha: Weil die Menschen dort so freundlich und anständig sind, das Leben gemütlich und gelassen, die Natur noch schön ist. Es ist keine naive Begeisterung. Sie wissen um die Bomben im Dschungel, die korrupten Regierungen, die Armut vieler Menschen. Sie haben eine zunehmend realistische, neugierige, interessierte und kritische OK-OK-Haltung entwickelt gegenüber dem Fremden.
Übrigens: In unserem letzten Reiseland, den USA, haben sie als erstes von ihrem Taschengeld moderne, ultrakurze Hosen gekauft. Wieder zu Hause haben sie den Anschluss an die Schule locker hingekriegt, und sie planen bereits unsere nächsten Reisen.
Ganz unerwartet reagierten die Mädchen sehr heftig auf das Reisen. Ausgerechnet das erste Zimmer in einem Hostel in Singapur entsprach nicht der Beschreibung und war mit knapp sechs Quadratmetern für uns vier und ohne Fenster äusserst bescheiden. Die Mädchen hatten einen Schock und bekamen Angst, dass wir ein ganzes Jahr nun so leben würden. Sie wollten am liebsten gleich wieder nach Hause. Am nächsten Morgen machten sie beim Frühstück Bekanntschaft mit einer sympathischen, jungen Frau aus Peru, die uns gleich herzlich zu sich nach Hause einlud und den Mädchen mit leuchtenden Augen sagte, wie toll sie das bestimmt fänden, mit ihren Eltern so eine Reise machen zu dürfen. Solche Momente waren in diesem Jahr unterwegs eine einzige grosse Bezugsrahmenerweiterung für die Kinder.
Nach Schlegel (1995) ist der Bezugsrahmen das persönliche Orientierungssystem, d.h. eine innere Landkarte, mit der sich jemand in der Welt zurechtfindet. Einer Bedrohung des Bezugsrahmens wird unterschiedlich begegnet. Um sich zu schützen, versuchten unsere Kinder zunächst, die neue Wirklichkeit abzuwerten oder ganz auszublenden und dies nicht nur im übertragenen Sinn: Unserer Jüngeren setzten in Peking die vielen aufgehängten Enten sehr zu. Um damit umgehen zu können, liess sie sich zu Beginn durch gewisse Gassen in China blind führen, um die Wirklichkeit nicht sehen zu müssen. Die Mädchen versuchten ausserdem so gut es ging, überall ein bisschen Zuhause zu schaffen, indem sie westliches Essen bestellten und ihre Zimmer mit ihren Kleidern und Stofftieren auslegten. Unsere Hypothese ist, dass sie es so schafften, die zunächst überwältigende Menge an unbekannten Eindrücken schrittweise an sich heran zu lassen, um so ihren Bezugsrahmen in verdaubaren Etappen zu erweitern. Durch den Bezugsrahmen wird die psychische Selbstorganisation stabilisiert und funktionstüchtig gehalten. Durch ihr vorübergehendes Beharren auf Bekanntem schützten sie sich vor der drohenden Überforderung.
Im Rückblick fragten wir uns, wann unsere Kinder begannen, sich mehr auf das Neue einzulassen und sich weniger sträubten. War es die Erkenntnis, dass sie in Asien besser fahren würden, wenn sie lokale Küche bestellten anstelle der sehr speziellen Pizza Hawaii, die mit Ketchup und Fruchtsalat serviert wurde? War es ein Sich-daran-Gewöhnen? Ja, bestimmt. Viel dazu beigetragen, sich auf das Fremde einzulassen, haben ausserdem Gespräche, wie zum Beispiel mit der jungen Frau aus Peru, mit Einheimischen oder uns Eltern. Sie führten zu einem zunehmenden Verstehen der Kulturen und Geschichten der Menschen, denen wir begegneten. Betroffen hörten die Mädchen von der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit und konnten dies in der allgegenwärtigen Überwachung in China selbst erleben. Sie wurden immer neugieriger auf das Fremde. Zum Beispiel wollten sie wissen, was denn der Geschäftssinn vieler Chinesen mit Kommunismus zu tun habe und was der Unterschied zur nordkoreanischen Variante sei. Sie wollten wissen, weshalb ein zutiefst buddhistisches Land wie Myanmar seine Minderheiten unterdrücken könne. Und daneben spielten sie mit Kindern im Dschungel von Borneo und lachten über ähnliche Spässe wie zu Hause. Sie alberten mit Mädchen herum, die mit Kopftuch und vollständig bekleidet im Fluss badeten – und verstanden nun auch, weshalb die Hot-Pants zu Hause blieben. Sie sahen ein, dass sie bettelnden Kindern keinen Gefallen taten, wenn sie ihnen Geld gaben. Auf einmal kamen sie sich sehr reich vor: Sie hatten zwar nur gerade einen einzigen Rucksack dabei und doch so unendlich viel mehr Besitz und Möglichkeiten als viele dieser Menschen. Überhaupt: Gegenüber Menschen hatten sie von Beginn an keine Berührungsängste. Im Nachhinein denke ich, dass es genau diese authentischen Begegnungen mit Menschen waren, die am wirksamsten ihren Bezugsrahmen erweiterten. Sie begannen einerseits zu verstehen, dass all diese spannenden Eindrücke und Erkenntnisse nur möglich waren, wenn sie sich darauf einliessen, wenn sie offen und neugierig blieben. Andererseits führte das wiederholte Schwärmen anderer Menschen über unsere Reise dazu, dass sie zunehmend spürten, dass diese etwas ganz Besonderes und Einmaliges war.
Haben wir mit unseren Mädchen je explizit über die OK-OK-Haltung gesprochen? Nein. Wir unterhielten uns jedoch oft über Kulturen und die Lebensbedingungen vor Ort. So ergaben sich täglich von selbst Gelegenheiten, ein „merkwürdiges“ Verhalten oder eine „seltsame“ Kultur zu verstehen und die Menschen dahinter zu entdecken. Ihr Blick auf die Welt wurde immer differenzierter und weniger bedrohlich, während sie sich Tag für Tag mehr auf sie einliessen. Asien war nicht mehr einfach nur Asien, asiatisches Essen nicht gleich asiatisches Essen.
Ein enger Bezugsrahmen kann sich unter anderem auch in gewissen Ängsten ausdrücken. Die schrittweise Bezugsrahmenerweiterung auf der Reise war für die Mädchen tendenziell angstreduzierend. Die vielen Erlebnisse führten zu neuen Erkenntnissen und Erfahrungen und so zu einem sukzessiven Abbau gewisser Ängste, so z.B. von Höhenangst oder Angst vor gewissen Tieren. Heute trauen sie sich viel mehr zu, denn sie wissen, dass sie sich auch ohne lokale Sprachkenntnisse zurecht finden können und dass die Welt voll von freundlichen, hilfsbereiten und interessierten Menschen ist. Wir haben unsere Töchter diesem Lernfeld ausgesetzt, und sie selbst haben gesteuert, wie rasch und intensiv sie die Eindrücke an sich heran liessen. Gerade ihr – aus Elternsicht manchmal anstrengendes – Beharren auf und Festhalten an Bekanntem ermöglichte ihnen ein gesundes Herantasten an neue Einsichten.
Als wir am letzten Tag unserer Asienzeit wieder in Kuala Lumpur durch die Stadt spazierten, wunderte sich unsere jüngere Tochter über sich selbst, dass sie vor sechs Monaten fand, diese Stadt sei schmutzig und habe schlechte Strassen. Über die tiefen Löcher in den Trottoirs hüpfte sie gelassen, den strengen Geruch aus manchen Hinterhöfen, der sie zu Beginn der Reise überfordert hatte, nahm sie nun kaum mehr wahr.
Welche Länder ihnen am besten gefallen haben? Laos und Kambodscha: Weil die Menschen dort so freundlich und anständig sind, das Leben gemütlich und gelassen, die Natur noch schön ist. Es ist keine naive Begeisterung. Sie wissen um die Bomben im Dschungel, die korrupten Regierungen, die Armut vieler Menschen. Sie haben eine zunehmend realistische, neugierige, interessierte und kritische OK-OK-Haltung entwickelt gegenüber dem Fremden.
Übrigens: In unserem letzten Reiseland, den USA, haben sie als erstes von ihrem Taschengeld moderne, ultrakurze Hosen gekauft. Wieder zu Hause haben sie den Anschluss an die Schule locker hingekriegt, und sie planen bereits unsere nächsten Reisen.
© Tanja Kernland | Einheimische stehen in Myanmar Schlange, um Fotos von den blonden Mädchen zu machen