Schwerpunktthema
Wenn das Heimische fremd wird …
Kafkas Protagonisten und Chaplins Filmfiguren erleben, was ungezählten Menschen widerfährt, unbemerkt leise oder laut; sie sind tragisch oder komisch, weil ihnen das Heimische fremd wurde, das Vertraute verdächtig.
René Isenschmid
Selbstständiger Case Manager CAS
herzbewegend.ch/stellensuche
Praxiskompetenz Transaktionsanalyse
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Ich berichte von fremdartigen, merkwürdigen Erfahrungen eines alten Menschen. Noch vor Jahresfrist war dieser Mann nicht wirklich alt. Seine Pensionierung lag wenige Monate zurück, die uniformierten Kollegen der Kantonspolizei feierten seinen Abschied mit Geschenken, das Kader mit hohlen Reden; er allerdings fühlte sich vom Himmel fallen wie ein unreifer Stern. Dieser Mann ist mein Vater.
Die Geschichte startet in der Nacht – wie alle guten Geschichten. Mein Vater erwacht regelmässig um Mitternacht. Sein Bett steht als einziges im geräumigen, karg möblierten Krankenzimmer, das auch nachts der Dunkelheit trotzt. Monumentale Fenster widerspiegeln den nie erlöschenden Lichterteppich der Stadt, die zurückliegenden Erlebnisse schleichen sich in das Herz des Kranken wie alte Vertraute, die man missbilligen, aber nicht abweisen kann. Für gesunde Menschen nicht nachvollziehbare Impulse drängen den Mann aufzustehen, er rudert sich mit Armen und Beinen aus dem Bett, als hätte er in Tonnen von Sägespänen geschlafen, er zelebriert das Ritual in der Absicht, sich einmal mehr mit seiner Situation zu versöhnen. Mein Vater liebt das Bild der nie zur Ruhe kommenden Windmühlen, ihren Rädern bleibt die freie Bahn verwehrt und fremde, unbekannte Kräfte bestimmen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er liebt die ohnmächtige und widersprüchliche Figur des Don Quijote, sie ist fatal und ihm sehr vertraut. Vaters Ohnmacht ist die mündliche Sprachlosigkeit, die Operation seiner Zunge liegt wenige Wochen zurück und macht ihn für immer stumm. Und jede Nacht hegt er den Verdacht: Dieser Verlust ist eine Parabel über mein rechtschaffenes Leben als Beamter auf dem Dorf! Eigentlich wollte er sich nie dem bürgerlichen Klischee entgegenstellen, er wollte sich anpassen, dazugehören, seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen und seiner farbenreichen Stimmmelodie einen unverwechselbaren Charakter.
Der Polizeikorporal, der längst zum Wachtmeister befördert sein sollte, strandet während den Sommerferien mit seiner Familie im kleinen Dorfkern der sich weit ausdehnenden Rottal-Gemeinde. Der Zügeltermin ist durch das Polizeikommando bestimmt. Um einer allfälligen dörflichen Kumpanei zuvor zu kommen, wechseln die Ortspolizisten regelmässig nach sechs Jahren ihre Posten. Wurzeln schlagen macht korrupt! Die Zentrale reflektiert die Auswirkungen auf ihre uniformierten Angestellten und auf die mehr oder weniger kinderreichen Familien nicht, selbst die Wohnungsgrösse bleibt marginal. Das Kader negiert die Frage, ob der neue Polizist sich in diese bäuerliche, in möglichst vielen Facetten abschottende Gemeinschaft integrieren und seinen Dienst ordnungsgemäss leisten kann. Mit dieser Frage aber hat alles angefangen.
Über dem Dorf thront die landesweit bekannte Barockkirche wie der Pfarrherr über den Köpfen. Der katholische Männerturnverein und die katholischen Bäuerinnen treffen sich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Lokalen und Dorfbeizen. Die konfessionellen Attribute werden mit der Geschichte gerechtfertigt; irgendwie spürt der Neuankömmling hier die letzten Atemzüge des verlorenen Sonderbundkrieges. Dieses Trauma erklärt ausser dem religiösen auch das politische und gesellschaftliche Klima in der Dorfgemeinschaft. Die Kinder der sehr wenigen evangelischen Mitbürger haben während des Religionsunterrichts schulfrei, die kaum zählbaren Wähler von politischen Parteien ohne das «C» im Akronym pendeln in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen naiven Irregeleiteten und Brunnenvergiftern, in diesem Dorf sind weder schwule noch im Konkubinat lebende Menschen bekannt. Farbige Menschen gibt es keine - für sie ein Glücksfall.
Tiefschwarz ist das Auto des ankommenden Ortspolizisten. Mein Vater erwarb den alten, motorisierten Koloss für wenig Geld in einer Zeit des billigen Benzins. Seine Frau schämte sich für ihn, sie schaffte es kaum, die Markenbezeichnung «Chevrolet» in den Mund zu nehmen, das Wort klebte ihr auf der Zunge wie Zeltli am Papier. Die Zeit, in der die Landpolizei in einheitlichen, bunt gestreiften Fahrzeugen mit Alarmsirenen auf dem Dach über die Strassen fegt, ist noch nicht angebrochen. Die aus den Mafiafilmen bekannte Limousine mit ihrem runden, in das abfallende Heck eingebauten Fenster, erzielte eine den heutigen Streifenwagen ebenbürtige Aufmerksamkeit. Mehr ungewollte Provokation zum Dienstantritt ging nicht. Wenige Wochen später wurde das Auto verkauft, es liess sich keine Garage finden, in die man es ohne fahrerische Höchstleistung im Millimeterbereich einparken konnte.
Die Kette der Missverständnisse riss nicht ab. Für die Mitglieder des Gemeinderates und für zahlreiche Mandatsträger war das Verhalten des Polizisten anmassend und dreist. Sein alltäglicher Auftritt in den Strassen des überschaubaren Dorfes wirkte ungewohnt, fremd. Ausser der auf beiden Seiten mit einem feinen Streifen versehenen Hose verwies nichts auf die Amtsperson, der dunkelblaue oder graue Kittel wirkte immer etwas zu knapp, die steife Uniformmütze fehlte vollends. Was den Behörden missfiel, schätzten die Menschen. Sie mochten ihn, sie suchten seinen Rat und die Gespräche gestalteten sich zusehends offener und unbefangener. Das Abbild des steifnackigen Dorfgendarmen verblasste, die neue Autorität benötigte zu ihrer Wahrung weder die Kopfbedeckung in den Staatsfarben noch die mit goldenen Blechknöpfen verzierte Uniformjacke, dessen Ledergürtel einzig dazu diente, die Pistole sichtbar zu tragen. Bis heute bleibt ungeklärt, wann und wo und welche Behörde beschlossen hat, drastische Massnahmen gegen den Ortspolizisten zu ergreifen, den sie als verkappten Sozialarbeiter verunglimpften. Das Polizeikommando, die seit mehr als zwanzig Jahren vorgesetzte Stelle, begnügte sich mit mündlichen Ermahnungen an ihren Mann vor Ort, wieder einmal die Verordnungen und Weisungen zu lesen. Die Führungscrew hatte längst akzeptiert, dass der Korporal aus dem Rottal zu den monatlichen Rapporten beim Amtswachtmeister regelmässig die kleinste Anzahl an Strafanzeigen mitbrachte, dass er ein miserabler Schütze und gleichzeitig ein hervorragender Polizist war, dem die Menschen vertrauten. Die Gemeindevertreter fanden im Kommando nicht die erhoffte Unterstützung, sie hatten dennoch das Ziel, diesen Querulanten in Uniform disziplinieren zu können.
Die Geschichte startet in der Nacht – wie alle guten Geschichten. Mein Vater erwacht regelmässig um Mitternacht. Sein Bett steht als einziges im geräumigen, karg möblierten Krankenzimmer, das auch nachts der Dunkelheit trotzt. Monumentale Fenster widerspiegeln den nie erlöschenden Lichterteppich der Stadt, die zurückliegenden Erlebnisse schleichen sich in das Herz des Kranken wie alte Vertraute, die man missbilligen, aber nicht abweisen kann. Für gesunde Menschen nicht nachvollziehbare Impulse drängen den Mann aufzustehen, er rudert sich mit Armen und Beinen aus dem Bett, als hätte er in Tonnen von Sägespänen geschlafen, er zelebriert das Ritual in der Absicht, sich einmal mehr mit seiner Situation zu versöhnen. Mein Vater liebt das Bild der nie zur Ruhe kommenden Windmühlen, ihren Rädern bleibt die freie Bahn verwehrt und fremde, unbekannte Kräfte bestimmen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er liebt die ohnmächtige und widersprüchliche Figur des Don Quijote, sie ist fatal und ihm sehr vertraut. Vaters Ohnmacht ist die mündliche Sprachlosigkeit, die Operation seiner Zunge liegt wenige Wochen zurück und macht ihn für immer stumm. Und jede Nacht hegt er den Verdacht: Dieser Verlust ist eine Parabel über mein rechtschaffenes Leben als Beamter auf dem Dorf! Eigentlich wollte er sich nie dem bürgerlichen Klischee entgegenstellen, er wollte sich anpassen, dazugehören, seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen und seiner farbenreichen Stimmmelodie einen unverwechselbaren Charakter.
Der Polizeikorporal, der längst zum Wachtmeister befördert sein sollte, strandet während den Sommerferien mit seiner Familie im kleinen Dorfkern der sich weit ausdehnenden Rottal-Gemeinde. Der Zügeltermin ist durch das Polizeikommando bestimmt. Um einer allfälligen dörflichen Kumpanei zuvor zu kommen, wechseln die Ortspolizisten regelmässig nach sechs Jahren ihre Posten. Wurzeln schlagen macht korrupt! Die Zentrale reflektiert die Auswirkungen auf ihre uniformierten Angestellten und auf die mehr oder weniger kinderreichen Familien nicht, selbst die Wohnungsgrösse bleibt marginal. Das Kader negiert die Frage, ob der neue Polizist sich in diese bäuerliche, in möglichst vielen Facetten abschottende Gemeinschaft integrieren und seinen Dienst ordnungsgemäss leisten kann. Mit dieser Frage aber hat alles angefangen.
Über dem Dorf thront die landesweit bekannte Barockkirche wie der Pfarrherr über den Köpfen. Der katholische Männerturnverein und die katholischen Bäuerinnen treffen sich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Lokalen und Dorfbeizen. Die konfessionellen Attribute werden mit der Geschichte gerechtfertigt; irgendwie spürt der Neuankömmling hier die letzten Atemzüge des verlorenen Sonderbundkrieges. Dieses Trauma erklärt ausser dem religiösen auch das politische und gesellschaftliche Klima in der Dorfgemeinschaft. Die Kinder der sehr wenigen evangelischen Mitbürger haben während des Religionsunterrichts schulfrei, die kaum zählbaren Wähler von politischen Parteien ohne das «C» im Akronym pendeln in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen naiven Irregeleiteten und Brunnenvergiftern, in diesem Dorf sind weder schwule noch im Konkubinat lebende Menschen bekannt. Farbige Menschen gibt es keine - für sie ein Glücksfall.
Tiefschwarz ist das Auto des ankommenden Ortspolizisten. Mein Vater erwarb den alten, motorisierten Koloss für wenig Geld in einer Zeit des billigen Benzins. Seine Frau schämte sich für ihn, sie schaffte es kaum, die Markenbezeichnung «Chevrolet» in den Mund zu nehmen, das Wort klebte ihr auf der Zunge wie Zeltli am Papier. Die Zeit, in der die Landpolizei in einheitlichen, bunt gestreiften Fahrzeugen mit Alarmsirenen auf dem Dach über die Strassen fegt, ist noch nicht angebrochen. Die aus den Mafiafilmen bekannte Limousine mit ihrem runden, in das abfallende Heck eingebauten Fenster, erzielte eine den heutigen Streifenwagen ebenbürtige Aufmerksamkeit. Mehr ungewollte Provokation zum Dienstantritt ging nicht. Wenige Wochen später wurde das Auto verkauft, es liess sich keine Garage finden, in die man es ohne fahrerische Höchstleistung im Millimeterbereich einparken konnte.
Die Kette der Missverständnisse riss nicht ab. Für die Mitglieder des Gemeinderates und für zahlreiche Mandatsträger war das Verhalten des Polizisten anmassend und dreist. Sein alltäglicher Auftritt in den Strassen des überschaubaren Dorfes wirkte ungewohnt, fremd. Ausser der auf beiden Seiten mit einem feinen Streifen versehenen Hose verwies nichts auf die Amtsperson, der dunkelblaue oder graue Kittel wirkte immer etwas zu knapp, die steife Uniformmütze fehlte vollends. Was den Behörden missfiel, schätzten die Menschen. Sie mochten ihn, sie suchten seinen Rat und die Gespräche gestalteten sich zusehends offener und unbefangener. Das Abbild des steifnackigen Dorfgendarmen verblasste, die neue Autorität benötigte zu ihrer Wahrung weder die Kopfbedeckung in den Staatsfarben noch die mit goldenen Blechknöpfen verzierte Uniformjacke, dessen Ledergürtel einzig dazu diente, die Pistole sichtbar zu tragen. Bis heute bleibt ungeklärt, wann und wo und welche Behörde beschlossen hat, drastische Massnahmen gegen den Ortspolizisten zu ergreifen, den sie als verkappten Sozialarbeiter verunglimpften. Das Polizeikommando, die seit mehr als zwanzig Jahren vorgesetzte Stelle, begnügte sich mit mündlichen Ermahnungen an ihren Mann vor Ort, wieder einmal die Verordnungen und Weisungen zu lesen. Die Führungscrew hatte längst akzeptiert, dass der Korporal aus dem Rottal zu den monatlichen Rapporten beim Amtswachtmeister regelmässig die kleinste Anzahl an Strafanzeigen mitbrachte, dass er ein miserabler Schütze und gleichzeitig ein hervorragender Polizist war, dem die Menschen vertrauten. Die Gemeindevertreter fanden im Kommando nicht die erhoffte Unterstützung, sie hatten dennoch das Ziel, diesen Querulanten in Uniform disziplinieren zu können.
© Pixabay
Merkwürdige Vorkommnisse waren die Folge. Da war beispielsweise dieser prächtige Maitag, Licht und Wärme durchfluteten das Tal wie auch die Gartenwirtschaft des Landgasthofes «Eintracht», der wenige Kilometer abseits des Dorfkerns zahlreiche Menschen zum Verweilen und Geniessen einlud. Selbst Polizeibeamte spüren den Frühling und sind auch mal durstig. Mein Vater liebte den sauren Most, den dieses Restaurant exklusiv von einer Grossmosterei aus dem Thurgau bezog und der in wulstigen, braunen Bügelflaschen ausgeschenkt wurde. Bier verschmähte er zeitlebens. Der kurze Ausflug in den Frühling endete eher drollig als tragisch. Bei seiner Rückkehr in dem inzwischen auf einen Occasions-Renault geschrumpften Auto standen zwei Uniformierte vor seiner Wohnung und baten ihren Kollegen, sie in die Kantonshauptstadt zu begleiten und einer Blutentnahme zur Bestimmung des Alkoholpegels zuzustimmen. Das Ergebnis war negativ, der Denunziant aus dem Wirtshausgarten blieb anonym. Zeitgleich wurde ein weiterer Wohnungswechsel innerhalb der Gemeinde geplant. Der Mietvertrag für den Polizeiposten und die dazugehörige Wohnung wurde innert weniger Jahre dreimal gekündigt und die Familie zum Umzug gezwungen, ohne Mitsprache oder Anhörung. Mit in die neuen Unterkünfte zogen Ohnmacht und Enttäuschung. «Dreimal umgezogen ist so gut wie einmal abgebrannt!» Das Zitat Benjamin Franklins leuchtete von den neu bezogenen Wänden, obwohl es dort nicht geschrieben stand. In der Regel sind Buchweisheiten lähmend, oft aber vermögen sie verdeckte Wahrheiten und nicht gestellte Fragen unverblümt aufzuzeigen. Wurzeln schlagen war längst keine Option mehr, das genuine Gefühl «Hier bin ich zu Hause» erstickte in willkürlichen Verwaltungsakten und Sachzwängen. Selbst unserer siamesischen Katze «Thea» ging dieser Instinkt verloren. Nach den ersten beiden Revierwechseln orientierte sie sich entgegen ihrem natürlichen Wesen nicht an den ihr vertrauten Orten, sondern an den Menschen, die sie fütterten. Wenige Wochen nach dem Bezug der dritten Wohnung blieb sie für immer weg. Die ausgedehnte Suche nach dem rassenreinen Tier, die einzige Siamkatze in der Gemeinde, blieb erfolglos. Sie hat die bäuerliche Wildnis der Lust auf weitere Domizilwechsel vorgezogen - dachten wir.
Was schmerzt mehr, die getarnte Kleinigkeit oder die offene Fehde? Selbst die Landwirte streiten sich, ob die wenigen Krähen oder die vielen Spatzen ihre Ernten schmälern. Die Vorstellung, dass eine dörfliche Autoritätsperson mit wirkmächtigen, gesetzlichen Kompetenzen sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlt, irritiert nur auf den ersten Blick. Hier prallten lebenslang Welten aufeinander: Ein übersicheres Muss und ein untersicheres Sein, ein angepasster Untergebener und eine autonome Persönlichkeit, ein der Familie verpflichteter Mensch und ein rebellischer Charakter. Das Auseinanderklaffen dieser Welten blieb den Dörflern nicht verborgen. Immer mehr von ihnen hörten vom konfliktscheuen Polizisten, der sich lieber inmitten seiner ungezählten Bücher aufhält als kontrollierend über Parkplätze schlurft, der lieber Albert Camus liest als Strafanzeigen tippt. Die Gemeindebehörden schäumten geräuschlos. Mein Vater wusste, er findet weder in Rousseaus Gesellschaftsvertrag noch in Platons Staat Lösungen für seine schwierige Situation, die guten Freunde seiner Parallelwelt entspannten und trösteten ihn, helfen konnten sie nicht. Eine wirkliche Unterstützung war nirgends in Sicht. Die grossen Psychologen der Weltliteratur wie Nietzsche und Dostojewski wurden zu Begleitern auf dem Rückzug. Die Auseinandersetzung mit ihren Ideen und Sichtweisen ersetzten viele menschliche Kontakte, verwischten die einsamen Gefühle des Fremdseins und der Ohnmacht. Kluge Analysen über die Auswirkungen permanenter Ohnmachtsgefühle füllen heute die Bücherregale, in der Bibliothek meines Vaters existierten keine Publikationen dieser Provenienz.
Mein Vater hatte keine Berufsausbildung, die wirtschaftliche Not der Dreissigerjahre nötigte ihn, als Hilfsschreiner in der Möbelfabrik zu arbeiten und seine Eltern und die jüngeren Geschwister finanziell zu unterstützen. Der elterliche Hof, der in der Waldlichtung an einem steilen Hügel klebte und aus fünf Ziegen und einem grossen Garten bestand, ernährte keine Familie, für eine Ausbildung der Kinder fehlte das Geld. Der junge Mann fand in der Fabrik gelangweilte, aber auch politisch interessierte Kollegen und gute Freunde. Sie erörterten mit ihm gesellschaftliche, aber auch Fragen der Gerechtigkeit und der ökonomischen Missverhältnisse. Die Gewerkschaften luden sonntags ein zu Lesegruppen für Arbeiter, die jungen Menschen hörten zum ersten Mal die Namen von Proudhon und Lassalle, Bebel und Marx. Ideale Welten blühten auf, neue Impulse erleichterten wohl die harte Arbeit in der Fabrik und auf dem Heimetli, nicht aber die persönlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Chance, diese hinter sich zu lassen, kam kurz vor dem zweiten Weltkrieg, mein Vater bewarb sich erfolgreich als Polizeianwärter, zusammen mit mehr als 600 weiteren Kandidaten. Was bedeutete dieser Erfolg? Das grosse Glück oder der Tod grosser Träume? Er absolvierte die Ausbildung für den Polizeidienst, startete ein bürgerliches Beamtenleben, heiratete und versorgte seine Familie vorzüglich. Und doch vermochten die stabilen finanziellen Verhältnisse zeitlebens die Zweifel nicht zu bändigen, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Die wirtschaftliche Not von damals prägte seinen Charakter weit mehr, als er zuzugeben bereit war. Sich als Akteur erleben, sich als Subjekt seiner Kräfte empfinden und diesen Kräften nicht entfremdet sein, keine fremden Masken aufsetzen müssen und keinen zu irgendwelchen Götzen erhobenen Institutionen folgen - ein verpflichtendes Lebensmotto. Der gute Polizist ist, bei aller inneren Zerrissenheit, vor allem ein Mensch. Er lebt zufrieden als eine auf die Mitmenschen bezogene Persönlichkeit und akzeptiert, dass einmal sein angepasstes, ein andermal sein rebellisches Ich sich dem normativen widersetzen. Die Seins-Orientierung zeichnet ihn aus, die Aversion gegen Uniformen und Pistolengürtel bleibt ein ulkiges Fragment.
Inzwischen liegt das Spitalzimmer im Licht der Morgensonne. Der pensionierte Polizist erholt sich in seinem Bett, das Gefühl, in Sägespänen zu liegen, lässt ihn nicht los. Frühstücken tut er seit langem nicht mehr, der ihm täglich mehrfach verabreichte, zähflüssige Brei ist ihm zuwider. Er wird über eine Magensonde mit Stöpsel ernährt, die routinierte Vorgehensweise der Pflegehilfskräfte erinnert ihn daran, wie er vor Jahren seine amerikanische Grosslimousine tankte. Der einst zu leichtem Übergewicht neigende Mann wiegt noch knapp fünfzig Kilogramm, seine schon längst schütteren Haare sind noch karger geworden, einzig die blauen Augen haben nichts von ihrem Glanz verloren. Die Tage verbringt er grösstenteils im Stuhl, der in der Ecke neben dem Fenster steht. Dieser hat eine hohe Lehne, ist gut gefüttert, mit blauem Plastik überzogen und wird an guten Tagen mit einer Decke wärmer und weicher hergerichtet. Die guten Tage werden durch das Pflegepersonal verordnet und zeichnen sich zusätzlich zur Decke dadurch aus, dass der Patient über seine mitgebrachte Schiefertafel mit Kreide verfügen darf, um Bedürfnisse oder Wünsche aufzuschreiben, vielleicht auch mal seinem subtilen Zynismus zu frönen. Welche Ausdrucksweise bleibt einem Menschen, der zu jeder Zeit klar im Kopf und warm im Herzen ist, der differenziert denkt und feinsinnig fühlt und gleichzeitig stumm dem Tod entgegen segelt? Seine Spottlust hilft ihm zu leben, selbst wenn der Himmel einstürzt, sind noch nicht alle Spatzen tot!
Kurz und bestimmt klopft es an der Tür und nach wenigen Momenten tritt ein älterer, gepflegter Herr unaufgefordert in das Zimmer. Er bleibt in der Raummitte unruhig stehen, schaut sich suchend um, sein Blick findet das leere Bett, er dreht sich wieder zur Tür und - blickt in die Augen meines Vaters in seinem blauen Stuhl. Der Herr Gemeindeammann wirkt nervös, seine Hände nesteln am mitgebrachten Päckchen und er entschuldigt sich bei dem abgezehrten Mann für die Störung. Er suche den ehemaligen Polizisten seines Dorfes und vielleicht könne er ihm die Zimmernummer verraten? Der Mann im Stuhl bleibt stumm, der Gast lässt es sich deutlich anmerken, wie unhöflich und dreist er ihn aufgrund der verweigerten Antwort einstuft und verlässt die kleine, letzte Welt meines Vaters, bevor dieser ihm seine Identität eröffnen kann. Die Katze «Thea», diese schöne und stolze Siamesin, wurde wenige Tage später gefunden. Der Bauunternehmer, der seinen Lagerplatz gegenüber dem Polizeiposten räumte, fand ihren mumifizierten Kadaver unter einem Holzstapel, eingerollt, den Brustkorb durchbohrt mit der Kugel aus einem kleinkalibrigen Gewehr. Mein Vater starb 1982.
Was schmerzt mehr, die getarnte Kleinigkeit oder die offene Fehde? Selbst die Landwirte streiten sich, ob die wenigen Krähen oder die vielen Spatzen ihre Ernten schmälern. Die Vorstellung, dass eine dörfliche Autoritätsperson mit wirkmächtigen, gesetzlichen Kompetenzen sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlt, irritiert nur auf den ersten Blick. Hier prallten lebenslang Welten aufeinander: Ein übersicheres Muss und ein untersicheres Sein, ein angepasster Untergebener und eine autonome Persönlichkeit, ein der Familie verpflichteter Mensch und ein rebellischer Charakter. Das Auseinanderklaffen dieser Welten blieb den Dörflern nicht verborgen. Immer mehr von ihnen hörten vom konfliktscheuen Polizisten, der sich lieber inmitten seiner ungezählten Bücher aufhält als kontrollierend über Parkplätze schlurft, der lieber Albert Camus liest als Strafanzeigen tippt. Die Gemeindebehörden schäumten geräuschlos. Mein Vater wusste, er findet weder in Rousseaus Gesellschaftsvertrag noch in Platons Staat Lösungen für seine schwierige Situation, die guten Freunde seiner Parallelwelt entspannten und trösteten ihn, helfen konnten sie nicht. Eine wirkliche Unterstützung war nirgends in Sicht. Die grossen Psychologen der Weltliteratur wie Nietzsche und Dostojewski wurden zu Begleitern auf dem Rückzug. Die Auseinandersetzung mit ihren Ideen und Sichtweisen ersetzten viele menschliche Kontakte, verwischten die einsamen Gefühle des Fremdseins und der Ohnmacht. Kluge Analysen über die Auswirkungen permanenter Ohnmachtsgefühle füllen heute die Bücherregale, in der Bibliothek meines Vaters existierten keine Publikationen dieser Provenienz.
Mein Vater hatte keine Berufsausbildung, die wirtschaftliche Not der Dreissigerjahre nötigte ihn, als Hilfsschreiner in der Möbelfabrik zu arbeiten und seine Eltern und die jüngeren Geschwister finanziell zu unterstützen. Der elterliche Hof, der in der Waldlichtung an einem steilen Hügel klebte und aus fünf Ziegen und einem grossen Garten bestand, ernährte keine Familie, für eine Ausbildung der Kinder fehlte das Geld. Der junge Mann fand in der Fabrik gelangweilte, aber auch politisch interessierte Kollegen und gute Freunde. Sie erörterten mit ihm gesellschaftliche, aber auch Fragen der Gerechtigkeit und der ökonomischen Missverhältnisse. Die Gewerkschaften luden sonntags ein zu Lesegruppen für Arbeiter, die jungen Menschen hörten zum ersten Mal die Namen von Proudhon und Lassalle, Bebel und Marx. Ideale Welten blühten auf, neue Impulse erleichterten wohl die harte Arbeit in der Fabrik und auf dem Heimetli, nicht aber die persönlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Chance, diese hinter sich zu lassen, kam kurz vor dem zweiten Weltkrieg, mein Vater bewarb sich erfolgreich als Polizeianwärter, zusammen mit mehr als 600 weiteren Kandidaten. Was bedeutete dieser Erfolg? Das grosse Glück oder der Tod grosser Träume? Er absolvierte die Ausbildung für den Polizeidienst, startete ein bürgerliches Beamtenleben, heiratete und versorgte seine Familie vorzüglich. Und doch vermochten die stabilen finanziellen Verhältnisse zeitlebens die Zweifel nicht zu bändigen, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Die wirtschaftliche Not von damals prägte seinen Charakter weit mehr, als er zuzugeben bereit war. Sich als Akteur erleben, sich als Subjekt seiner Kräfte empfinden und diesen Kräften nicht entfremdet sein, keine fremden Masken aufsetzen müssen und keinen zu irgendwelchen Götzen erhobenen Institutionen folgen - ein verpflichtendes Lebensmotto. Der gute Polizist ist, bei aller inneren Zerrissenheit, vor allem ein Mensch. Er lebt zufrieden als eine auf die Mitmenschen bezogene Persönlichkeit und akzeptiert, dass einmal sein angepasstes, ein andermal sein rebellisches Ich sich dem normativen widersetzen. Die Seins-Orientierung zeichnet ihn aus, die Aversion gegen Uniformen und Pistolengürtel bleibt ein ulkiges Fragment.
Inzwischen liegt das Spitalzimmer im Licht der Morgensonne. Der pensionierte Polizist erholt sich in seinem Bett, das Gefühl, in Sägespänen zu liegen, lässt ihn nicht los. Frühstücken tut er seit langem nicht mehr, der ihm täglich mehrfach verabreichte, zähflüssige Brei ist ihm zuwider. Er wird über eine Magensonde mit Stöpsel ernährt, die routinierte Vorgehensweise der Pflegehilfskräfte erinnert ihn daran, wie er vor Jahren seine amerikanische Grosslimousine tankte. Der einst zu leichtem Übergewicht neigende Mann wiegt noch knapp fünfzig Kilogramm, seine schon längst schütteren Haare sind noch karger geworden, einzig die blauen Augen haben nichts von ihrem Glanz verloren. Die Tage verbringt er grösstenteils im Stuhl, der in der Ecke neben dem Fenster steht. Dieser hat eine hohe Lehne, ist gut gefüttert, mit blauem Plastik überzogen und wird an guten Tagen mit einer Decke wärmer und weicher hergerichtet. Die guten Tage werden durch das Pflegepersonal verordnet und zeichnen sich zusätzlich zur Decke dadurch aus, dass der Patient über seine mitgebrachte Schiefertafel mit Kreide verfügen darf, um Bedürfnisse oder Wünsche aufzuschreiben, vielleicht auch mal seinem subtilen Zynismus zu frönen. Welche Ausdrucksweise bleibt einem Menschen, der zu jeder Zeit klar im Kopf und warm im Herzen ist, der differenziert denkt und feinsinnig fühlt und gleichzeitig stumm dem Tod entgegen segelt? Seine Spottlust hilft ihm zu leben, selbst wenn der Himmel einstürzt, sind noch nicht alle Spatzen tot!
Kurz und bestimmt klopft es an der Tür und nach wenigen Momenten tritt ein älterer, gepflegter Herr unaufgefordert in das Zimmer. Er bleibt in der Raummitte unruhig stehen, schaut sich suchend um, sein Blick findet das leere Bett, er dreht sich wieder zur Tür und - blickt in die Augen meines Vaters in seinem blauen Stuhl. Der Herr Gemeindeammann wirkt nervös, seine Hände nesteln am mitgebrachten Päckchen und er entschuldigt sich bei dem abgezehrten Mann für die Störung. Er suche den ehemaligen Polizisten seines Dorfes und vielleicht könne er ihm die Zimmernummer verraten? Der Mann im Stuhl bleibt stumm, der Gast lässt es sich deutlich anmerken, wie unhöflich und dreist er ihn aufgrund der verweigerten Antwort einstuft und verlässt die kleine, letzte Welt meines Vaters, bevor dieser ihm seine Identität eröffnen kann. Die Katze «Thea», diese schöne und stolze Siamesin, wurde wenige Tage später gefunden. Der Bauunternehmer, der seinen Lagerplatz gegenüber dem Polizeiposten räumte, fand ihren mumifizierten Kadaver unter einem Holzstapel, eingerollt, den Brustkorb durchbohrt mit der Kugel aus einem kleinkalibrigen Gewehr. Mein Vater starb 1982.