artikeljuni2022

Intuitive Transaktionsanalyse

// Autorin: Rebecca Petersen //
Mit dem Resilience Economy Model (REM) zurückfinden zur ursprünglichen Fähigkeit, unbedingt sich selbst zu sein - und dadurch Freiheit in Verbundenheit neu erleben und die Resilienz und das Vertrauen in die eigenen intuitiven Fähigkeiten stärken.
Unsere intuitiven Fähigkeiten sind bereits im Kindesalter vorhanden. Mit dem Schuleintritt und im Laufe des Erwachsenwerdens wird primär eine denkend-analytische Arbeitsweise vertieft und gefördert. Die intuitiven Fähigkeiten geraten dabei in Vergessenheit. Mit zunehmender Komplexität in Beruf und Privatleben fühlen sich viele Menschen vor grosse Herausforderungen gestellt. Es kann mit der Zeit ermüdend sein, allen Anforderungen gerecht werden zu wollen. Unsere Fähigkeit zur „gesunden“ Abgrenzung und Entscheidungsfindung wird getrübt und wir verlieren dabei das kindliche Empfinden der Leichtigkeit und Freiheit im „Unbedingt-sich-selbst-Sein“. Je nach Situation und Skriptmuster fällt es uns zudem schwer, auf unsere Bedürfnisse zu achten und der eigenen Gesundheit und unserem Wohlbefinden Sorge zu tragen. Es scheint schier unmöglich, aus dem Hamsterrad auszubrechen. Speziell in solchen Situationen können die eigenen intuitiven Fähigkeiten eine hilfreiche Ressource darstellen.

Henning und Pelz beschreiben drei Arten der Intuition. Die kindliche Intuition, welche nach Berne der Funktion im Kind-Ich dem „kleinen Professor (ER1)“ zugeordnet werden kann, die skriptgebundene Intuition als Folge der kindlichen Überlebens-Entscheidungen im Rahmen der Skriptbildung und die geschulte Intuition, auch Expertenintuition genannt. Diese ist eine Weiterentwicklung der kindlichen Fähigkeit durch Integration des Fachwissens und der Erfahrung1.

Berne selbst hat dem Thema Intuition (2005) ein ganzes Buch gewidmet. Er stellte sich die Frage, aufgrund welcher Daten Menschen ihre Urteile über die Wirklichkeit bilden und machte dazu selbst im Jahr 1945 klinische Untersuchungen. Er beobachte seine Patienten, traf intuitive Annahmen, zog Schlüsse daraus und verifizierte diese mit Befragungen.2 Er nahm eine interessierte, beobachtende Haltung ein, die geprägt war von Neugier und einem Bewusstsein für das unfassbare, grössere Ganze, das an das „marsische Denken“ erinnert.3 Hier scheint mir zudem der Bezug zum integrierenden Erwachsenen-Ich (ER2), und wie bereits erwähnt, dem kleinen Professor (ER1), naheliegend. Berne beschreibt in Bezug auf das integrierende ER-Ich (ER2) drei Wesenszüge, welche eine Person aufweisen sollte: persönliche Anziehungskraft und Aufgeschlossenheit, die Fähigkeit zu objektiver Informationsverarbeitung und ethisches Verantwortungsbewusstsein.4 Cornell et. al. beschreiben im Artikel über die Ich-Zustände das Erwachsenen-Ich (ER2) im Strukturmodell 2. Ordnung und den kleinen Professor (ER1). Dieser verbirgt Strategien, welche das Kind für die Lösung von Problemen befähigt: die Intuition und das prälogische Denken.5 Dabei integriert der Erwachsene im Strukturmodell 2. Ordnung (ER2) einen signifikanten Teil des intuitiven Verständnisses (vom ER1, dem kleinen Professor). Das integrierende ER-Ich (ER2) ist dabei nach Berne das Ideal, da es wertvolle Anteile des Eltern- und Kind-Ichs zur Verfügung stellt und ermöglicht, dass wir mit dem, was sich im Hier und Jetzt zeigt, sinnvoll umgehen können.

Berne definiert in seinem Buch (2005) Intuition als Wissen, das auf Erfahrung beruht und durch direkten Kontakt mit dem Wahrgenommenen entsteht, ohne dass der Wahrnehmende sich oder anderen genau erklären kann, wie er zu der Schlussfolgerung gekommen ist. Er verweist dabei auf präverbale, unbewusste und vorbewusste Funktionen und hebt hervor, dass ein Individuum manchmal nicht einmal genau sagen kann, was es weiss, aber es handelt oder reagiert in einer bestimmten Art und Weise, so als ob sein Verhalten oder seine Reaktion auf etwas beruhte, das es wusste.7 Er hebt auch hervor, dass zielgerichtete Beteiligung des wahrnehmenden Ichs die Intuition beeinträchtigt. Berne beschreibt, dass es einem schwer fällt, willentlich intuitiv zu werden, es aber möglich ist, in die intuitive Stimmung zu kommen.8 Hennig und Pelz fassen Berne’s Erkenntnisse klärend unter „Bedingungen für intuitive Erkenntnisse“ zusammen. Sie beschreiben, dass ein Zustand der Wachsamkeit und Empfänglichkeit mit intensiver Konzentration im Unterschied zu passiver Aufmerksamkeit die intuitive Erkenntnis fördert, die denkend-analytische Arbeitsweise und willentliche Bewertung diese aber eher behindert. Die innere Haltung des Beobachters sei ausschlaggebend. Die äussere Situation trage wenig zur Verbesserung bei.9

In der Fachliteratur gibt es unterschiedliche Ansichten bezüglich des Ursprungs der Intuition. Es scheint unklar, ob diese eine angeborene oder erlernte Fähigkeit ist. Berne merkt an, dass Intuition mit Übung zu tun hat und nach einem Urlaub (als Psychiater) „einrosten“ kann.10 Ausserdem hebt er hervor, dass es - um die Intuition zu verstehen - notwendig zu sein scheint, von der Überzeugung zu lassen, dass eine Person, um etwas zu wissen, in Worte fassen können muss, was sie weiss und wie sie es weiss. Wahres Wissen heisst eher, zu wissen, wie man handelt, als Worte zu kennen.11 Dies ist aus meiner Sicht ein sehr starkes und wichtiges Statement von Berne, da es in gewisser Weise dem menschlichen Wesen widerspricht, welches von Natur aus alles ergründen, erklären und fassbar machen möchte. Ich habe die Hypothese, dass ein Teil unserer intuitiven Fähigkeiten angeboren ist und aus einer spirituellen Betrachtungsweise heraus sogar in Verbindung mit dem „Göttlichen“, „dem grossen Ganzen“ gesehen werden kann. Ich teile die Auffassung von Henning und Pelz (2002), dass mit zunehmender Erfahrung die Expertenintuition geschult werden kann. Dies habe ich selbst als Beraterin im Rahmen meiner Ausbildung in Transaktionsanalyse und mit zunehmender Professionalisierung erlebt und schätzen gelernt. Gleichzeitig kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass die eigene Intuition ein hilfreicher und wichtiger Wegbegleiter ist, um sowohl im beruflichen als auch privaten Alltag unterwegs zu sein und sinnvolle Entscheidungen zu treffen und mit zunehmendem Bewusstsein und Erfahrungsschatz an Wirkkraft gewinnt. Wir können lernen, auf unsere Intuition zu hören und diese bewusster wahrzunehmen. Dadurch wird dieses innere „GPS“ umso kraftvoller und vertrauenswürdiger.

Um die eigene Intuition zu schulen, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Da es bei der Intuition kein Richtig oder Falsch gibt, sondern nur ein „Wissen“, ist die Entdeckungsreise umso spannender. Im Nachhinein kann im Sinne der Reflexion eine Überprüfung und sinnvolle Einordnung vorgenommen werden. Ich habe für mich zudem festgestellt, dass mit zunehmendem Vertrauen in meine Intuition das ständige Gedankenkreisen abnimmt und meine Resilienz und mein Wohlbefinden sich nachhaltig verbessert haben. Um diesen Explorationsprozess der eigenen Intuition fassbarer zu gestalten, habe ich mich im Prozess immer wieder genau beobachtet, reflektiert und meine Erkenntnisse für mich sinnvoll eingeordnet. Ich wollte genauer herausfinden, wodurch ich mich von meiner intuitiven Wahrnehmung entfernte. Dabei bemerkte ich, dass immer ein bestimmter Gedanke wie z.B. ein Wunsch, wie es (ich, andere, die Welt) anders sein sollte oder eine konkrete Vorstellung oder Erwartung an das Aussen vorhanden war. Mit der Zeit bemerkte ich, dass ich viel schneller wieder in das gute Gefühl meiner intuitiven Wahrnehmung eintauchen konnte, wenn es mir gelang, diese Gedanken zu erkennen (für mich sinnvoll einzuordnen) und im Sinne der Wiedererkennung loszulassen. Daraus habe ich das Resilience Economy Model (REM) entwickelt.

Das REM erfasst sowohl unterschiedliche Gedanken und Konzepte, die Gründe dafür sein können, dass die Verbindung zu unserer intuitiven Wahrnehmung nicht mehr spürbar ist, als auch die unterschiedlichen Rollen, in denen wir unterwegs sind. Ich hatte mit der Zeit bemerkt, dass meine intuitiven Fähigkeiten in unterschiedlichen Rollen, im Kontakt mit unterschiedlichen Personen oder bei unterschiedlichen Themen oder Situationen unterschiedlich gut ausgebildet waren bzw. das ich nicht geübt war, diese in meine Wahrnehmung zu integrieren. Das REM half mir, diese Entwicklungsbereiche zu lokalisieren und mein Bewusstsein dahingehend zu vertiefen, so dass meine intuitiven Fähigkeiten mit der Zeit immer ausgeprägter und gezielt abrufbar wurden.

Die Arbeit mit dem REM soll als Entwicklungsprozess gesehen werden, bei dem das Modell als Instrument für eine Standortbestimmung und die Stärkung der bewussten Wahrnehmung der eigenen Intuition dienen kann. Die Herangehensweise kann unterschiedlich gewählt werden. Es können z.B. zuerst einengende Aspekte gesammelt werden, oder der Fokus kann zuerst auf eine bestimmte Rolle oder Situation gelegt werden, in der man sich schon «sicher» fühlt und seiner Intuition deshalb Vertrauen schenkt. Das Modell kann beliebig erweitert und mit Rollen und Aspekten ergänzt und individuell angepasst werden. Dies ist für die Anwendung wichtig, da es gerade beim Wahrnehmen der eigenen Intuition um die eigenen Erkenntnisse und das Finden von (Selbst-) Sicherheit im persönlichen Wahrnehmen, Fühlen und „Sich-von-innen-heraus-leiten-Lassen“ geht.
Resilience Economy Model (REM) - Rebecca Petersen
Bewerte deine aktuelle Zufriedenheit in Bezug auf dein Freiheitsempfinden und der Wahrnehmung deiner eigenen Intuition im jeweiligen Bereich!

Hinweise:
Die Zeile „Intuitives Selbst“ meint unser ursprüngliches Selbst noch vor der Skriptbildung. Ich werde im Anschluss noch genauer auf diesen kindlichen Zustand eingehen. Die Bewertung ist darauf gerichtet, ob der entsprechende Aspekt im Alltag stark Einfluss nimmt oder eher im Hintergrund, (noch) unbewusst, wirkt.
Nicht jeder der angegebenen Aspekte muss auf jede Person in irgendeiner Weise zutreffen. Dies sind lediglich Vorschläge aus meinen Beobachtungen.
Die Spalte „Intuition“ meint die Bewusstheit der intuitiven Fähigkeiten. Die Bewertung ist dort darauf gerichtet, ob die eigenen intuitiven Fähigkeiten in der entsprechenden Rolle bereits stark oder eher im Hintergrund, unbewusst, genutzt werden.
Ich höre immer wieder, dass es Menschen gibt, für die das „Mit-sich-allein-Sein“ eine grosse Herausforderung ist. Andere berichten, dass es ihnen gerade im „Alleinsein“ besser gelingt, auf ihre intuitive Wahrnehmung zu achten. Aus diesem Grund habe ich diese „Rolle“ explizit ins REM integriert, um hier eine individuelle Bewusstheit zu schaffen.
Eine Standortbestimmung in diesem Sinne heisst nicht, dass jemand in einem bestimmten Level feststeckt oder „einfach so ist & bleiben muss“. Aus meiner Erfahrung ist es möglich, sich durch und mit den intuitiven Fähigkeiten, steigender Wahrnehmung und Bewusstheit zu verändern, was zu einer kraftvollen Zunahme der Autonomie und Sinnhaftigkeit führen kann.

Folgende Fragen können für die eigene Exploration, aber auch in der Arbeit mit Klienten, hilfreich sein:
- In welchen Rollen gelingt es mir, meine Intuition wahrzunehmen und einzubeziehen?
- Bei welchen Aufgaben und Tätigkeiten gelingt es mir, meine Intuition wahrzunehmen und einzubeziehen?
- Im Zusammensein mit welchen Personen gelingt es mir, meine Intuition wahrzunehmen und einzubeziehen?
- In welcher Umgebung/Situation gelingt es mir, mein analytisches Denken loszulassen und intuitiv ganz bei mir zu sein?
- Was stört meine intuitive Wahrnehmung? Wodurch erlebe ich einen Bruch in der Verbindung zum Freiheitsgefühl des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“?
- Wann gelingt es mir, dieses Freiheitsgefühl des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ bewusst zuzulassen? Wie gelingt es mir, länger in diesem Bewusstsein und dem guten Gefühl zu verweilen?
- Welche Empfindungen habe ich in diesen Momenten des „Bewussten Wahrnehmens“ und dabei „ganz bei mir zu sein“? Wo spüre ich diese in meinem Körper?

Neben der kognitiven Einordnung mit Hilfe des REMs wollte ich für mich aber auch noch genauer ergründen, wo das Gefühl der intuitiven Wahrnehmung seinen Ursprung hat. Ich bin wie gesagt der Meinung, dass wir diese Fähigkeit schon seit der Geburt in uns tragen und das mit der Entstehung des Skripts dieses „Wissen“ mit der Zeit abhandenkommt bzw. in Vergessenheit gerät. Was also war es, was da „gefühlt/intuitiv“ in mir schlummerte? Ich begann meine Intuition nun noch intensiver auch auf der Gefühlsebene zu beobachten und versuchte, diese weiter zu erforschen. Ich möchte Ihnen auch hier Einblick in meine Erkenntnisse und Überlegungen geben und dabei gedanklich wieder im Hier und Jetzt starten.
Ich erlebe mit der Integration meiner intuitiven Fähigkeiten eine neue Freiheit und Leichtigkeit in meinen Alltag. Es gelingt mir besser, meine Bedürfnisse wahrzunehmen (ohne dass ich diese rechtfertigen oder erklären muss). Es fällt mir leichter, Entscheidungen zu treffen. Ich bin öfter in einem Flow-Gefühl und habe insgesamt den Eindruck, dass sich mehr bei mir bin - sei dies in meiner Rolle als Beraterin, als Führungskraft oder als Privatperson. Ich würde es als ein Gefühl der Freiheit des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ beschreiben. Dieses verbinde ich in meiner Vorstellung direkt mit dem ursprünglichen Bild und Erleben eines Säuglings.

Das Leben in seinem Ursprung beginnt mit absoluter Freiheit. Als Säugling steht das „Unbedingt-sich-selbst-Sein“ im Vordergrund. Der Säugling geniesst völlig unabhängig vom Aussen - ohne Zeitdruck und ohne Präferenz für einen bestimmten Ort oder bestimmte Umstände - Freiraum und erlebt darin das Gefühl der unbedingten Freiheit:
- die eigenen Bedürfnisse jederzeit und ungehemmt auszuleben
- uneingeschränkt, unbewertet und bedingungslos sich selbst zu sein
- sich der Aussenwelt mitzuteilen und ausdrücken zu können
- sich stetig und ungezwungen weiter zu entwickeln
- mit sich selbst und mit anderen Menschen Freude zu erleben und - in Kontakt zu sein und Verbundenheit zu spüren.

Der Säugling scheint in diesem Freiraum völlig in der Erwartung an das Gute aufzugehen und sprichwörtlich in seiner Fülle und Perfektion aufzublühen. Ziel ist, sich als Individuum in einer noch unbekannten Welt weiter zu entwickeln. Der Säugling braucht dafür keine Erlaubnis von Aussen. Er scheint intuitiv zu wissen und zu spüren, dass dies sein Grundrecht und seine evolutionäre Bestimmung ist. Der Säugling lebt von sich aus eine ursprüngliche, unbedingte Ok-Ok-Haltung, die Berne als „Position echter Helden und Prinzen bezeichnet“.12 Die eigene Ok-Ok-Haltung scheint aus meiner Erfahrung eine weitere zentrale Bedingung für das Erleben der Freiheit im Raum des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ darzustellen.

Mit dem Aufwachsen und Älterwerden verändert sich diese kindliche Einstellung mit der Ausbildung des Skripts. Die ursprüngliche Lebenseinstellung, die geprägt ist von Neutralität sich selbst gegenüber und einer ungetrübten (Erwartungs-) Haltung anderen Menschen gegenüber (vgl. Ok-Ok-Haltung), verändert sich massgeblich. Berne spricht hier vom unbewussten Lebensplan13, in welchem der eben beschriebene Freiraum des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ durch Erfahrungen, Vorbilder, Normen und Werte und die daraus resultierenden individuellen Bewertungen eingeschränkt und neu definiert wird. Die kindliche, intuitive „Leichtigkeit“ wird überschrieben mit elterlichen oder kindlichen Programmen.

Um unsere intuitiven Fähigkeiten wieder wahrnehmen zu können, ist das Zurückfinden zu dieser vorurteilsfreien Wahrnehmung und Betrachtung entscheidend. Wie bereits erwähnt, verbinde ich diesen Empfindungszustand direkt mit dem Empfinden der eigenen Ok-Ok-Haltung und einer offenen, unvoreingenommenen und hoffnungsvollen Haltung der Welt gegenüber. Wir sprechen hier auch vom Erwachsenen-Ich-Zustand, der als Teil unserer Persönlichkeit weitgehend vorurteilsfrei wahrnehmen und denken kann und seine Erfahrung und sein Wissen benutzt, um auf die gegenwärtige Situation bezogen zu reagieren und zu handeln. Das Erwachsenen-Ich ist unbeeinflusst von elterlichen oder kindlichen Programmen. Es kann reflektieren, was kindliche Bedürfnisse und elterliche Normen sind, zwischen ihnen vermitteln und zugunsten von Realitätsanforderungen Entscheidungen treffen“.14 Um diesen Zustand wieder zu erreichen, braucht es die Entwicklung eines Bewusstseins im Sinne des integrierenden ER-Ich-Zustandes (ER2).

Als Erwachsene fühlen wir uns in unserer Entwicklung durch die Aussenwelt aufgrund von unterschiedlichen Faktoren immer mehr fremdbestimmt, eingeengt und übersteuert. Die Erinnerung und der Wunsch nach dieser ursprünglichen und unbedingten Freiheit und dem kindlichen Freiraum des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ bleiben jedoch bestehen.

Im sozialen Leben erfüllen wir unterschiedliche Rollen, in denen wir uns im Sinne der Energiebilanz, der eigenen Bedürfnisbefriedigung und des dadurch erlebten Freiraums des „Unbedingt-sich-selbst-Seins“ bereichert oder eingeengt fühlen. Gerade hier kann die Schulung und der Einbezug des intuitiven Wissens eine ungeahnt kraftvolle Ressource darstellen.

Beziehungspflege kann dann gelingen, wenn wir mit unserem inneren, intuitiven Selbst in Verbindung treten und unsere Bedürfnisse immer besser ohne Rechtfertigung oder Bewertung wahrnehmen und falls nötig im Aussen mitteilen können. Wenn es uns gelingt, losgelöst von unseren einengenden, skriptverstärkenden Annahmen, Erwartungen und Werten autonom zu denken, zu handeln, zu fühlen und zu entscheiden, dann können wir die Freiheit in Verbundenheit entspannt erleben und geniessen. Wenn wir uns erlauben, mit uns und mit anderen in Kontakt zu treten und es uns möglich ist - in diesem Wechsel von Nähe und Distanz - Begegnung, Intimität und persönlichen Austausch zu pflegen, dann beginnt unsere Authentizität von innen heraus zu leuchten und wir können uns intuitiv verbunden und sicher auf die Situation oder Person einlassen.

Diese Klarheit und Stärke von innen heraus ist für jeden Menschen zugänglich. Sie fühlt sich gut an, insbesondere dann, wenn ich mir „erlaube“, meine intuitive Wahrnehmung zu „hören“ und in meinem Alltag und mein Leben zu integrieren. Meine eigene intuitive Bewusstheit und Präsenz führt dazu, dass ich diese Fähigkeit des intuitiven Wissens auch meinem Gegenüber zutraue und dadurch aktiv die Kraft, Klarheit im Moment und Autonomie bei der Person und in der Situation stärken und unterstützen kann.

In diesem Rahmen möchte ich gegen Ende den Begriff der Intuitiven Transaktionsanalyse einführen. Berne hat das Thema der Intuition selbst sehr stark in seine Arbeit integriert und deren Nutzen hervorgehoben. Ich plädiere dafür, dieses Bewusstsein für die „intuitiven Fähigkeiten“ auch in der Anwendung der Transaktionsanalyse als Beraterin, Trainerin & Prozessbegleiterin in den unterschiedlichen Feldern bewusst(er) zu integrieren, zu stärken und auch in der Arbeit mit Klienten mehr ins Bewusstsein zu holen. Jeder Mensch trägt diese Fähigkeit der intuitiven Wahrnehmung als Ressource in sich und es ist möglich, das Vertrauen in diese Ressource schrittweise zu stärken. Johann Schneider beschreibt hier passend, wie Supervisanden lernen, in ihrer Arbeit Intuition bewusst mit Wahrnehmung, Denken und Gefühl zu verbinden: aus der unwillkürlichen Intuition wird geleitete Intuition.15

Ich habe in diesem Artikel einen neuen Zugang zum Thema Intuition geschaffen und dabei versucht, die Theorie mit der Praxis und meinen eigenen Erfahrungen als Privatperson und Beraterin zu verbinden. Somit hoffe ich, dass mir die Anregung und die „Lust auf mehr“ für das persönliche Explorieren der eigenen intuitiven Fähigkeiten gelungen ist.

In diesem Sinne freue ich mich über das Interesse und allfällige Rückmeldungen zu meinen Gedanken und Ausführungen zur Stärkung der intuitiven Fähigkeiten im „Unbedingt-sich-selbst- Sein“ sowie zur Einführung, Stärkung und Entwicklung der Intuitiven Transaktionsanalyse.
Ich freue mich auf den co-kreativen (Entwicklungs- und Austausch-) Prozess!


Literaturverzeichnis
Berne, E. (1983). Was sagen Sie, nachdem Sie "Guten Tag" gesagt haben?
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Berne, E. (2001). Die Transaktionsanalyse in der Psychotherapie. Paderborn: Junfermann.
Berne, E. (2005). Transaktionsanalyse der Intuition (Bd. 4). Paderborn: Junfermann Verlag.
Cornell, W. F., De Graaf, A., Newton, T., & Thunnissen, M. (2016). Into TA - A Coprehensive Textbook on Transactional Analysis. New York: Karnac Books Ltd.
Henning, G., & Pelz, G. (2002). Transaktions Analyse - Lehrbuch für Therapie und Beratung. Paderborn: Junfermann.
Schlegel, L. (1979). Die Transaktionale Analyse. Zürich: Deutschschweizer
Gesellschaft für Transaktionsanalyse.
Schmale-Riedel, A. (2016). Der unbewusste Lebensplan - das Skript in der Transaktionsanylse. München: Kösel.
Schneider, J. (2000). Supervision - Supervidieren & beraten lernen.
Paderborn: Junfermann Verlag.
Stewart, I., & Joines, V. (1990). Die Transaktionsanalyse - eine Einführung.
Freiburg im Breisgau: Verlag Herder GmbH.
Fussnoten
1. Henning & Pelz, 2002, S. 18
2. Berne, 2005, S. 39 ff
3. Berne, 1983, S. 125 ff.
4. Berne, 2001, S. 189
5. Cornell, De Graaf, Newton, & Thunnissen, 2016, S. 13
6. Cornell, De Graaf, Newton, & Thunnissen, 2016, S. 17-18.
7. Berne, 2005, S. 36-37
8. Berne, 2005, S. 56
9. Henning & Pelz, 2002, S. 19
10. Berne, 2005, S. 57
11. Berne, 2005, S. 60
12. Berne, 1983, S. 108
13. Berne, 1983, S. 121
14. Schmale-Riedel, 2016, S. 23
15. Schneider, 2000, S. 23




Rebecca Petersen
Transaktionsanalytikerin PTSTA-C
Beraterin SGfB
Systemischer Coach, Supervisorin & Organisationsberaterin bso
Transformativer Coach
(Sonder-) Pädagogin &
Führungskraft
info@petersen-coaching.ch
www.petersen-coaching.ch
Hier den Artikel drucken oder downloaden: info.dsgta.ch/download/A1178/03-dsgta-artikel-juni22.pdf

artikeljuli2022

Die Schildkröte, das Krokodil und ich

// Autorin: Isabelle Thoresen //
Das Gefühl von Sicherheit als Basis für Freiheit und Verbundenheit
In vielen psychologischen Fachrichtungen wird die Basis für ein bestimmtes Verhalten in den Gefühlen und dem Geist gesucht – und auch gefunden. Hingegen wird der Körper als (Mit)Entscheidungsträger für unseren Zustand oftmals abgewertet. In diesem Artikel stelle ich die Polyvagal Theorie von Dr. Stephen Porges vor, welche gemäss aktuellem Forschungsstand aufzeigt, dass physiologische, bzw. neuronale Prozesse ausschlaggebend unseren psychischen und geistigen Zustand beeinflussen. Ich zeige auf, wie körperliche Reaktionen direkten Einfluss darauf haben können, mit welchem Bezugsrahmen wir die Welt betrachten und in welcher Grundposition wir uns befinden.

––„Heute haben wir einen Teamworkshop. Ich freue mich auf einen inspirierenden Tag mit unserem Team ausserhalb des Büroalltags. Wir wollen uns reflektieren und Prozesse überdenken. Ich komme im Coworkspace an, einem architektonisch schönen, verwinkelten Gebäude. Es riecht nach gutem Kaffee aus einem Siebträger und mit richtigem Baristaschaum, inklusive Herzzeichnung. Die Stimmung ist heiter. Keine Wolke am blauen Himmel.
Der Moderator präsentiert uns das Tagesprogramm, völlig unerwartet zeichnet er damit eine schwarze Wolke an meinen Horizont: Wir werden Rollenspiele machen. Ich mag keine Rollenspiele. Es liegt mir nicht, Theater zu spielen. Ich sehe mich als Jugendliche in der Oberstufe, als wir diese dämliche Weihnachtsgeschichte spielen mussten, die auf einem anderen Planeten stattfand. Ich hatte schon damals so viel Widerstand, dass ich den Kontakt zu mir verlor und meinen Text vergass. Ich platziere mir selbst einen Rettungsring und teile der eben noch heiteren Runde mit, dass Rollenspiel ein ernsthafter Stresspunkt für mich ist. Als ich dann da vorne sitze und mit minimalsten Angaben zu einer Bewerberin werden soll, die etwas zu verheimlichen hat, rede ich mir mit Herzklopfen ein, dass das schon klappen wird. Mein Gegenüber beginnt das fiktive Interview und schon bei der zweiten Frage beginne ich innerlich zu rotieren. Ich habe den Anspruch an mich, sinnvolle Antworten zu geben, ein schlüssiges Bild zu vertreten, obwohl ich gar kein Bild dieser gespielten Person habe. Gleichzeitig fühle ich mich extrem unwohl, die peinlich blossgestellte Jugendliche sitzt da, die ihre Rolle vergessen hatte. Und so kommt es, dass ich schon nach kurzer Zeit ein Blackout habe. Ich bin wie versteinert. Obwohl mir meine «Interviewerin» keine schwierige Frage stellt, obwohl ich weiss, es spielt überhaupt keine Rolle, was ich antworte, obwohl ich weiss, dass dies ein geschützter Rahmen ist und mich meine Kolleginnen trotzdem mögen – ich bringe keinen Satz mehr raus. Es tut mir wahnsinnig leid für mein Gegenüber, da ich sie in diese auch für sie unangenehme Situation reinziehe. Ich rotiere im Engpass und gleichzeitig ist da nur Stillstand im Kopf. Ich fühle mich wie eine Schildkröte, die ihren Kopf eingezogen hat.
Eine Ressource in mir kann ich noch anzapfen und sie rettet mich, wenn auch nicht die Situation. Ich kenne die Funktionsweise der Polyvagal Theorie und ich bin eine Transaktionsanalytikerin. Das Einzige, was ich in dieser Situation sagen kann, ist: «Ich bin blockiert». Damit kann ich mich innerlich auf die Metaebene schwingen, wo ich wenigstens soweit handlungsfähig bin, zu beobachten, was mit mir geschieht. Mir ist es in diesem Moment bereits sonnenklar, was los ist. Trotzdem kann ich es nicht auf die Handlungsebene transferieren. Eine Teamkollegin hält es nicht mehr aus und versucht mich zu retten, indem sie souffliert. Dankbar nehme ich den Strohhalm und wiederhole peinlich berührt ihre Worte, aber auch auf die nächste Frage kommt keine Antwort. Ich werde erlöst, wir brechen ab."––

Die Polyvagal Theorie wurde von Dr. Stephen Porges, einem amerikanischen Professor in Psychiatrie, bereits 1994 erstmals vorgestellt und seither weiterentwickelt. Er betrachtet das Nervensystem aus evolutionsbiologischer Sicht und seine Erkenntnisse können als Paradigmenwechsel gewertet werden(1): Bisher ging man aus neurologischer Sicht von zwei Kreisläufen aus, dem sympathischen Kampf-/Fluchtmodus und dem parasympathischen Ruhe-/Verdauungsmodus. Die Polyvagal Theorie geht von drei neuronalen Kreisläufen aus, das sympathische System bleibt als Mobilisierungsmodus gleich, während das parasympathische System(2) in zwei Systeme aufgeteilt wird, den Shutdown-Modus und den Modus der sozialen Verbundenheit(3).
Diese drei Kreisläufe entstanden im Laufe der Evolution. Evolutionär sehr alte Tierarten, z.B. Schildkröten, reagieren auf bedrohliche Situationen primär mit einem Shutdown- oder Erstarrungs-Mechanismus. Hierbei wird die Energie aus den Extremitäten zurückgezogen, Herzschlag und Atmung verlangsamen sich stark, und es geschieht eine Dissoziation (oder bei Menschen auch eine Ohnmacht). Weil Schildkröten nicht viel Sauerstoff benötigen und kein grosses Gehirn funktionsfähig halten müssen, können sie und gewisse Reptilien beispielsweise mehrere Stunden lang in Sicherheit unter Wasser bleiben, ohne Schaden zu nehmen. Jüngere Reptilienarten, beispielsweise Krokodile, haben bereits ein sympathisches Nervensystem und über dieses eine zusätzliche Möglichkeit für den Umgang mit Gefahr: Mobilisierung (Kampf und Flucht). Dabei erhöht sich der Herzschlag, die Atmung wird intensiviert und die Muskulatur in den Extremitäten wird mit Energie versorgt. Säugetiere (wozu wir Menschen gehören), die phylogenetisch jüngsten Spezies, entwickelten zusätzlich eine gänzlich neue Möglichkeit für den Umgang mit Gefahr: Kooperation. Säugetiere leben in Gemeinschaften. Körperlich gesehen wird viel Energie auf die Kommunikation verwendet, Mimik, Gestik, Intonation der Stimme, etc. und entsprechende Interpretation des Gegenübers. «Ein wichtiges Charakteristikum des neuen Vagus ist seine Verbindung zu Gehirnarealen, welche die Gesichtsnerven und damit unsere Fähigkeit zu hören (Mittelohrmuskeln), zu sprechen (Kehlkopf- und Rachenmuskeln) und uns mimisch zu äussern (Gesichtsmuskeln), vermitteln(4).» Aufgrund verschiedener biologischen und behavioralen Funktionen wie der Fortpflanzung, der Aufzucht ihres Nachwuchses, dem Schlaf und der Verdauung benötigt das Nervensystem von Säugetieren eine Umgebung, in der sie sich sicher fühlen können. Die permanente Einschätzung, ob eine Situation sicher, gefährlich oder lebensgefährlich ist, wurde für ihr Überleben wichtig. Mit allen Sinnen checken sie – wir – jederzeit die Umgebung nach potenziellen Gefahren ab. Dies geschieht primär unbewusst und automatisch. Porges nennt diesen Vorgang «Neurozeption». Kommt das Autonome Nervensystem (ANS)(5) dabei zur Interpretation, dass eine Gefahr besteht, die nicht durch Kommunikation gelöst werden kann, schaltet es automatisch «einen evolutionären Gang» zurück und aktiviert den jeweils nächstälteren Modus(6). Zuerst den Mobilisierungs-Modus und wenn es nicht gelingt, der Gefahr durch Kampf oder Flucht zu entkommen, den Erstarrungs- oder Totstell-Modus (Shutdown). Porges betont: «Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang, dass wir die physiologischen Schaltkreise oder Zustände nicht durch einen Willensakt auswählen. Unser Nervensystem entscheidet dies ausserhalb unseres Bewusstseins.»(7) Es ist ebenfalls zu betonen, dass insbesondere auch der Modus des Shutdowns ein so kluger wie alter Schutzmechanismus ist: Oft lässt ein Feind von seinem Opfer ab, wenn dieses tot erscheint. So beispielsweise die Maus, die schlaff im Mund der spielenden Katze hängt. Lässt die Katze sie fallen, bleibt sie liegen, bis sich die Katze nicht mehr interessiert und die Maus davonrennen kann. Und selbst wenn dieser Trick nicht funktioniert, führt die Dissoziation dazu, dass das Opfer von der traumatischen Situation in diesem Moment nichts oder nicht viel mitbekommt.
Diese drei (bzw. fünf(8)) Kreisläufe sind in allen Lebenssituationen aktiv, sowohl im grossen Stil in Situationen grosser Gefahr als auch im kleinen Stil in Alltagssituationen. Wir brauchen alle diese Modi, um leisten, schlafen oder diskutieren zu können. Aus dieser Sicht bedeutet Gesundheit, uns adäquat zwischen diesen Ebenen zu bewegen und nicht in einem Modus hängen zu bleiben. Es ist leider möglich, viele Jahre oder ein ganzes Leben hauptsächlich in einem der Modi zu verbringen. Dies sind dann in der Regel traurige (Krankheits-) Geschichten mit viel Aggressionen oder Ohnmachtsgefühlen.
Zusammenspiel Körper/Geist/Psyche/Verhalten. Thoresen/Kernland 2022
Aufgrund der Beobachtung meines eigenen Verhaltens / Denkens / Fühlens / Spürens und meiner Arbeit als Craniosacral Therapeutin, Coach und Casemanagerin bin ich überzeugt, dass diese verschiedenen Modi nicht nur unterschiedliche körperliche Reaktionen und Verhaltensweisen hervorrufen, sondern sinnvollerweise auch auf der psychischen und geistigen Ebene unterschiedliche Bezugsrahmen haben. Diese Bezugsrahmen wechseln gleichzeitig mit den Modi, bzw. sind mit ihnen eng verwoben. Als anschauliches Alltagsbeispiel: Wer mit einer Grippe im Bett liegt, kann sich in diesem Moment normalerweise nicht wirklich vorstellen, an einer fröhlichen Party teilzunehmen. Der Bezugsrahmen dieser Person beinhaltet in diesem Moment auch nicht die Vorstellung, wie sich dies tatsächlich anfühlen würde, offen und kommunikativ zu sein. Und selbst wenn sie trotzdem an der Party teilnehmen würde, hätte sie kaum Zugang zum Bezugsrahmen der sozialen Verbundenheit - sie würde ziemlich sicher zurückgezogen in einer Ecke sitzen. Und das ist alles genau richtig so, denn um gesund zu werden, benötigt diese Person ja auch Ruhe.
Als Craniosacral Therapeutin arbeite ich mit dem Körper und mit verschiedenen Techniken und Handgriffen auch direkt mit dem Nervensystem der Klienten. Gelingt es, eine Blockade im Zusammenhang mit diesem «sozialen Nervensystem» zu lösen, zum Beispiel über bestimmte Muskeln am Nacken, kann dies den Klienten unmittelbar in einen anderen Modus führen. Beispielsweise von einem Gefühl des Gestresst-seins hin zu wacher Entspannung und Offenheit. Eben war es noch bewölkt und plötzlich ist die Sonne da. Was vorher noch als Problem betrachtet wurde, erscheint in neuem Licht, mögliche Lösungen werden sichtbar und rücken in greifbare Nähe. Der Bezugsrahmen hat sich verändert. Umgekehrt erlebe ich auch Menschen, die positiv und neugierig auf eine kommende Lebenssituation blicken, solange es ihnen gut geht. Sind sie gestresst, verändert sich der Bezugsrahmen und sie sehen nur noch Schwierigkeiten. Die Shifts zwischen den verschiedenen Modi und deren Bezugsrahmen können mitunter sehr deutlich wahrnehmbar sein. Im Alltag gehen sie aber in der Regel sehr subtil vor sich, so dass weder wir selbst noch das Umfeld sie direkt erfassen. Um beim Bild des Wetters zu bleiben ist dies mit einem typischen Apriltag zu vergleichen. Sonne, Wolken, Regen wechseln sich so oft ab, dass wir dem kaum Beachtung schenken. Richten wir jedoch den Blick und unsere Sensoren auf die Shifts aus, so können wir sie mit etwas Übung wahrnehmen. Mimik, Blick, Haltung und Stimme verändern sich.
Meines Erachtens bietet die Polyvagal Theorie eine zusätzliche körperliche Fundierung, die mit verschiedenen TA-Konzepten verbunden werden kann. Wenn wir beispielsweise die Grundpositionen nach Franklin Ernst betrachten, so wird klar, dass die +/+ Haltung (get on with) mit dem Modus der sozialen Verbundenheit und dem entsprechenden Bezugsrahmen in Verbindung steht. Wir sind im Kontakt mit dem Gegenüber, fühlen uns wohl und schätzen die Situation als sicher ein. Stört ein bewusstes oder unbewusstes Signal oder Erfahrung diese Position, werten wir uns selbst oder das Gegenüber ab und gehen damit in einer mehr oder weniger subtilen Art in eine Kampfposition +/- (get rid of), oder in den Fluchtmodus -/+ (get away from), was beides mit dem Mobilisierungs-Modus verglichen werden kann. In der -/- Haltung (get nowhere) befinden wir uns im Erstarrungs-Modus. Hier fühlen wir uns handlungsunfähig und werten sowohl uns selbst auch unser Gegenüber ab. Ich gehe davon aus, dass die Bildung des Skripts stark mit diesen verschiedenen neurologischen Kreisläufen zusammenhängt. Wird beispielsweise ein Baby für eine bestimmte Zeit allein gelassen und fühlt sich in diesem Moment unsicher oder hat Schmerzen, so erscheint dies aus Sicht (bzw. Neurozeption) des Kindes unter Umständen als lebensbedrohlich, während es aus Sicht der Mutter im Zimmer nebenan völlig anders gewertet wird. War diese Situation entweder stark traumatisch oder wiederholt sich diese Erfahrung im Laufe der Zeit und festigt sich dadurch, wird die Erstarrung und Hilflosigkeit zu einem festen Verhaltensmuster auf Stressreaktionen.
Wie Porges betont, ist eine Problematik der Neurozeption, dass unser autonomes Nervensystem eine Situation falsch einschätzen kann und wir in der «akuten» Situation dessen Bewertung ausgeliefert sind. Gleichzeitig ist es möglich, diese Programmierung langfristig zu einem gewissen Grad zu modifizieren. Körper, Geist und Psyche sind untrennbar miteinander verwoben. Gelingt über einen dieser drei Zugänge eine Veränderung, so beeinflusst diese alle drei. Wird durch Selbsterfahrung und Reflektion ein Skriptmuster erkannt, führt dies oft auch zu einer anderen Bewertung einer Situation durch das ANS. Gleichzeitig kann es sein, dass ich eine Situation zwar durchschaue, der Körper aber immer noch im alten Modus bleibt, wie in meinem Beispiel sichtbar. In einem solchen Fall ist davon auszugehen, dass das ANS über die Neurozeption zusätzliche potenziell bedrohliche Sinneseindrücke registriert hat, die mir nicht bewusst sind. Dies können externale Reize wie Geräusche, Gerüche, etc. sein oder auch internale Wahrnehmungen wie unbewusste Emotionen, Erinnerungen oder auch Körpergefühle. Um diese auflösen zu können, helfen Bewusstseins- und Achtsamkeitsarbeit jeder Art, Atemübungen, Meditation oder auch im Kontakt mit anderen Menschen zu sein. Über die sogenannte Co-Regulation gleichen sich die ANS zweier Menschen ab. Verspüre ich Angst, während mein Gegenüber Sicherheit vermittelt, kann mein Autonomes Nervensystem vielleicht ebenfalls Vertrauen finden. So lernen Kinder im Laufe des Älterwerdens, dass Situationen, die für sie als Kleinkinder noch bedrohlich wirkten, dies gar nicht (mehr) sind. Einerseits entwickeln sie Fähigkeiten, damit umzugehen, andererseits erkennen sie, dass einige der Situationen per se ungefährlich sind. So ist das Alleinsein für das Kleinkind tatsächlich lebensbedrohlich. Lernt es aber im Laufe der Zeit beispielsweise zu gehen, erlebt es sich als handlungsfähig, wodurch die Bedrohlichkeit abnimmt. Gleichzeitig nimmt es über die Co-Regulation mit den Eltern wahr, dass diese die Situation als nicht gefährlich einstufen und kann dieses Vertrauen ebenfalls verinnerlichen. Die Co-Regulation bildet eine Basis des Zusammenlebens in Gemeinschaften der Säugetiere.

––„Den ganzen Rest des Tages fühle ich mich nicht ganz bei mir, als würde mich eine Glasscheibe von mir selbst trennen. Ich bin hypersensibel. Ein Kommentar des Chefs auf eine Aussage von mir verunsichert mich. Ich glaube wahrzunehmen, dass er mich verachtend angeschaut hat, auch wenn ich haargenau weiss, dass er das nicht getan hat. Aufgrund meines Hintergrundwissens als Körpertherapeutin weiss ich, weshalb ich so sensibel reagiere und auch, was ich aktiv tun kann. Ich mache innerlich einfache Übungen, um wieder in den Zustand der sozialen Verbundenheit zu kommen. Es hilft, aber ich finde nicht zurück zur Leichtigkeit des Morgens. Gegen Ende des Tages schlägt der Moderator ein Feedbackspiel vor. Wir müssen uns gegenseitig Spielkarten mit Attributen verteilen und sie als Stärken oder auch als Schwächen des Gegenübers deklarieren. Und obwohl ich weiss, dass ich weder perfekt bin noch den Anspruch habe, das zu sein, verletzen mich einzelne Rückmeldungen zutiefst, selbst solche, die ich im Nachhinein sogar als Kompliment werten kann. Ich habe kein Schutzschild mehr, ich fühle mich noch immer ausgeliefert, gelähmt. Interessant wird es für mich dann in der Schlussrunde zum Tagesabschluss. Alle sind des Lobes voll und ich überlege mir, ob ich mich einfach anschliessen soll. Aber nein, das wäre gelogen und ich würde in meinem Schildkrötenverhalten bleiben. Ich sage also ehrlich, dass ich mich von meiner Scham nicht erholt habe und mich zum Schluss nun auch noch verletzt fühle. Während dies bei den Anderen Betroffenheit auslöst, merke ich, wie ich wohl rot werde, jedenfalls wird mir ganz heiss. Ich weiss, das ist sehr gut. Die Energie kommt zurück, mein Körper und der erstarrte Teil meines Selbst kommen wieder in die Mobilisierung, ich werde zum Krokodil und kann mit meinem Schwanz um mich schlagen. Ich habe mich gewehrt (get rid of), ich habe es nicht einfach über mich ergehen (get nowhere) und gut sein lassen. Das ist der Schlüssel zur Heilung, das ist mir selbst in diesem Moment sehr bewusst, auch wenn es mir unangenehm ist, mit knallrotem Kopf dazusitzen. Aus Sicht der TA konnte ich in diesem Moment mit einem ersten Schritt aus meinem Skriptverhalten aussteigen und (im Bewusstsein) autonom handeln. Durch das ehrliche Aussprechen meiner Gefühle entstand eine Intimität mit meinen Kolleginnen und Kollegen."––

Dr. Stephen Porges kommt zum Schluss, dass die Grundlage für die soziale Verbundenheit und Kommunikation im Gefühl von Sicherheit liegt. Und über dieses Gefühl wiederum entscheidet der Körper und nicht der Verstand. Mit der Neurozeption schätzt unser Autonomes Nervensystem jede Situation ein und schaltet in den einen oder anderen Verhaltensmodus um und aktiviert den entsprechenden Bezugsrahmen. Für diese Einschätzung bedient sich das Autonome Nervensystem allen bewusst und unbewusst aufgenommenen Informationen unserer Sinnesorgane, sowie unserer Vorerfahrung. Obwohl ich wusste, dass ich sicher bin, schätzte mein Körper die Situation aufgrund meiner Geschichte und dem Gefühl des «auf der Bühne ausgestellt seins» als potenziell «gefährlich» ein. Meine Reaktionskaskade verlief gemäss der entwicklungsbiologischen Hierarchie der einzelnen Verhaltensmodi. Meine erste Reaktion war ein Versuch der Lösung durch Kommunikation. Halbbewusst erhoffte ich mir, dass ich dem Rollenspiel entkommen könnte, wenn ich mich verbal oute. Als ich trotzdem «auf die Bühne musste», wäre ich am liebsten aufs Klo und zum Fenster rausgestiegen (Mobilisierung), wenigstens konnte ich mich so lange drücken, bis es nicht mehr ging. Als sich aufgrund der Stresssituation dann das Skript aktivierte, geriet ich in den Modus des Shutdowns. Aus Sicht des Körpers war die Strategie insofern erfolgreich, als die Übung irgendwann abgebrochen wurde und ich der Situation entkam. Auch wenn ich das alles wusste, war es mir an jenem Workshop nicht möglich, den Kontakt zu mir und nach aussen wieder vollständig herzustellen, weshalb ich mindestens teilweise in diesem Zustand der innerlichen Erstarrung, bzw. Dissoziation hängen blieb. Erst als ich mich ganz am Schluss zeigte, kritisches Feedback gab und mich damit wehrte, konnte mein Nervensystem wieder einen Gang hochschalten. Meine Rückkehr in den Modus von Verbundenheit und Sicherheit geschah in weiteren zwei Schritten der Co-Regulation, die ich sehr bewusst erlebte. Am Abend nach dem Workshop gingen wir als Team essen. Es half mir, in entspannter Atmosphäre im persönlichen Austausch zu sein, zusammen zu lachen. Mein Autonomes Nervensystem konnte sich demjenigen meiner Kolleginnen angleichen. Ich begann mich wieder wohler zu fühlen. Trotzdem war ich noch nicht 100%ig bei mir, die gefühlte Glasscheibe zwischen mir und der Aussenwelt wurde zwar dünner, war aber weiterhin spürbar. Der entscheidende Schritt geschah am nächsten Morgen mit einem komplett fremden, nichtsahnenden Menschen, dem ich zufällig begegnete. Ich ging durch die Stadt, ein Schulmädchen kam mir entgegen und lächelte mich an. Dieses Lächeln, dieser unbedingte, positive Stroke, ging mir intensiv spürbar wie ein Blitz durch Mark und Bein, die gefühlte Glasscheibe löste sich in einer Millisekunde auf. Und während auf meinem Gesicht ebenfalls ein Lächeln entstand, wusste ich, jetzt bin ich wieder da. Voll und ganz.
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Fazit
Das Gefühl von Sicherheit ist die physiologische Basis für Verbundenheit mit uns selbst und der Aussenwelt. Unser Körper schätzt die Situation kontinuierlich ein und entscheidet autonom darüber, wie wir die Welt in dieser Situation betrachten und in welchem Modus wir auf sie reagieren. Nur im Modus der Verbundenheit mit uns selbst und dem Umfeld können wir Freiheit und Autonomie erleben. Co-Regulation, Bewusstheit, Autonomie, Resilienz, Ruhe und Vertrauen helfen unserem autonomen Nervensystem, auch in schwierigen Situationen im Modus der sozialen Verbundenheit und damit im Kontakt mit uns selbst und dem Umfeld zu bleiben.
Literaturverzeichnis
Dana, Deb (2021), Der Vagus-Nerv als innerer Anker, Kösel Verlag, München
Ernst, F. (1971), The OK Corral: The Grid For Get-on-with. TAJ 1, pp. 231 ff.
Hintringer, Sandra (2021), Der Vagusnerv, Irisana Verlag, München
Levine P. A. (1998), Trauma-Heilung – das Erwachen des Tigers – unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren, Sythesis Verlag, Essen
Porges, S. W. (2019), Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit, G.P. Probst Verlag, Lichtenau/Westf.
Porges, S. W. (2021), Heilen mit der Polyvagal Theorie – Neuronales Training für Körper, Herz und Hirn, G.P. Probst Verlag, Lichtenau/Westf.
Rosenberg S. (2019), Der Selbstheilungsnerv – so bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht, VAK Verlag, Kirchzarten bei Freiburg
Schlegel, L. (2011), Die Transaktionale Analyse, DSGTA, Zürich
Steward I., Joines V. (2015), Die Transaktionsanalyse, Herder Verlag, Freiburg
Fussnoten
1. Insbesondere in der Traumatherapie fanden seine Erkenntnisse durch die Arbeit von Peter Levine schon vor vielen Jahren erfolgreich Einzug, in anderen Fachgebieten des Gesundheits­spektrums sind sie weiterhin wenig beachtet.
2. Der Vagus-Nerv (X. Hirnnerv) ist einer der Hauptbestandteile des parasympathischen Nervensystems. Porges teilt ihn in einen alten, nicht myelinisierten Teil (Shutdown-Modus) und einen neuen, mit einer Myelinschicht umgebenen Teil (Modus Soziale Verbundenheit) auf.
3. Englisch: Social Engagement System
4. Porges 2019, S. 75
5. Das autonome Nervensystem (kurz ANS) ist der Teil des Nervensystems, der unabhängig von der willkürlichen Kontrolle, «autonom», handelt.
6. Diese Reaktionshierarchie nennt Porges Dissolution.
7. Porges 2019, S. 74
8. Es gibt bei den Säugetieren ausserdem zwei Hybrid-Modi: Im Falle von beispielsweise Spielen oder sportlichem (nicht aggressiven) Wettkampf sind die Kreisläufe der sozialen Verbundenheit und der Mobilisierung aktiv, während im Falle von sinnlicher körperlicher Nähe die Modi von Ruhe (Erstarrung) und soziale Verbundenheit aktiv sind.
Isabelle Thoresen
Transaktionsanalytikerin CTA-O
Dipl. Ing. Prozessmanagement
Craniosacral Therapeutin
Personalfachfrau
welcome@thoresen.ch
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