Kommentar
„Der Wirtschaft“ geht es gut
Plädoyer für mehr wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitische Kontroversen in Südtirol
Werner Pramstrahler
Die eingängigen Schlagworte sind bekannt und werden stets neu propagiert:
Nur wenn es „der Wirtschaft“ gut gehe und Wirtschaftswachstum vorhanden sei, steige der allgemeine Wohlstand und stelle die Finan-zierung des Sozialstaates sicher.
Nur wenn es „der Wirtschaft“ gut gehe und Wirtschaftswachstum vorhanden sei, steige der allgemeine Wohlstand und stelle die Finan-zierung des Sozialstaates sicher.
Keine Frage – es ist wichtig, dass die „Wirtschaft“ floriert. Für Gesellschaften wie für Volkswirtschaften ist es von wesentlicher Bedeutung, über fähige Unternehmer, Firmeninhaber und Manager zu verfügen; dass Betriebe und Unternehmen sich entfalten, Innovationen in Gang setzen, Gewinne schreiben, Rechtssicherheit und eine effiziente Infrastruktur vorfinden.
Damit sich Südtirol weiterhin gut entwickelt, braucht es allerdings mehr wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitische Kontroversen.
Südtirol bewegt sich im Kontext einer europäischen Mehrfachkrise, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Eine Hauptursache des moderaten Wirtschaftswachstums ist die gestiegene Ungleichheit in den letzten beiden Jahrzehnten.
Die ökologische Herausforderung manifestiert sich vor allem im Klimawandel, der zu einer grundlegenden Änderung unserer unmittelbaren Umwelt führen wird. Wir verbrauchen zu viele unwiederbringlich verlorengehende natürliche Ressourcen – und zwar zum Schaden von Millionen von Menschen.
Zudem befinden sich unsere Demokratien in einer unleugbaren Akzeptanzkrise: Der Ruf nach „dem starken Mann bzw. der starken Frau“ und die Verabsolutierung der eigenen Interessen sind deutliche Belege.
Die EU ringt um ihre innere Verfasstheit und mit dem zunehmenden „Egoismus“ der Staaten.
Papst Franziskus hat die globale Situation wie folgt auf den Punkt gebracht: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Evangelii Gaudium [EG] 2013: 238)
Wichtige Bereiche der Südtiroler Wirtschaft wie der Tourismus und die Lebensmittelherstellung sind engst mit den besonderen klimatischen Bedingungen des Landes verknüpft. Studien zeigen, wie stark der mittlere südliche Alpenraum bereits jetzt ein Brennpunkt des Klimawandels ist. Um soziale Aspekte zu erwähnen: Die Südtiroler Armutsindikatoren zeichnen fraglos ein deutlich besseres Bild als auf gesamtstaatlicher Ebene und liegen auf dem Niveau Österreichs und Deutschlands. Beruhigend? In diesen Ländern wird sehr stark über Maßnahmen gegen Armut und Ungleichheit diskutiert – in Südtirol wird auf die Erfolge im Vergleich zu Italien verwiesen. Zudem halten wir im innerstaatlichen Vergleich durchaus einige unrühmliche Platzierungen: Bei Beschäftigten, die seit mindestens fünf Jahren mit befristeten Verträgen beschäftigt sind, liegt Südtirol mit 26,2 Prozent (2015) gleichauf wie die Regionen des Südens, der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen liegt mit 7,2 Prozent (2015) genau im norditalienischen Durchschnitt (Quelle: ISTAT, Rapporto BES 2015).
Welche Wirtschaft? Es kann nicht darum gehen, generell eine Abkehr von wirtschaftlichem Wachstum zu fordern. Im Gegenteil: In unserer Gesellschaft soll durchaus eine heftige Diskussion darüber entbrennen, welche Wirtschaftszweige an Bedeutung gewinnen sollen. Es ist durchaus wünschenswert, dass sozial wichtige Dienstleistungen wie Bildung und Pflege wachsen, der Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommt, in den öffentlichen Personennahverkehr investiert, die lokale Landwirtschaft ökologisch gestaltet wird, der sanfte, wertschätzende und kulturell sensible Tourismus erblüht. Es ist notwendig, dass in klimaneutrale Produkte und Herstellungsprozesse investiert wird, Südtirol insgesamt klimawandelfit gemacht wird. Dies mag Kontroversen durch gegensätzliche Interessen auslösen, die aber offen mit Zahlen und Fakten auszudiskutieren sind.
Entlohnungen und Lebenszeit gerechter verteilen. Die Akzeptanz gegensätzlicher Interessen bildet auch die Grundlage für die zweite wichtige Kontroverse: nämlich die Auseinandersetzung über die Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne. Italien ist bekanntlich eines der wenigen EU-Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn; in Österreich wird derzeit die Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne auf 1.500 Euro diskutiert. Es trifft zu, dass in Südtirol bestimmte Arbeitnehmergruppen auch individuell höhere Entlohnungen aushandeln können. Eine Stabilisierung und Erhöhung der Binnennachfrage durch regelmäßige Lohnverhandlungen auf lokaler Ebene mit dem Schwerpunkt auf die Berufsgruppen, die am unteren Ende der Entlohnungsskala verweilen, erweist sich allerdings als immer drängender. Immerhin gibt auch über ein Fünftel der Teilzeitbeschäftigten an, dies nur deshalb zu tun, weil keine Vollzeitstelle verfügbar ist (Arbeitskräfteerhebung 2016). Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Beschäftigten mit überlangen Arbeitszeiten und hoher Arbeitsintensität. Die gerechtere Aufteilung der Erwerbsarbeit und der unbezahlten Arbeit ist eine weitere unerlässliche Diskussion.
Steuerlasten fair entwickeln. Eine dritte Kontroverse betrifft die Aufteilung der Steuerlast. Die verfügbaren Südtiroler Daten zeigen, dass die Vermögenskonzentration deutlich ausgeprägt ist. Eine stärkere Besteuerung der Vermögen zu Gunsten einer Entlastung des Faktors „Arbeit“ ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Auf Südtirol wie auf ganz Europa kommt eine noch nie dagewesene Herausforderung zu: der steigende Anteil an Älteren und Ältesten an der Gesamtbevölkerung. Die Stabilität des Sozialstaates kann wohl nur gewahrt bleiben, wenn das Vermögen stärker als bisher zur Finanzierung herangezogen wird. Nicht nur in Südtirol, in ganz Europa wissen wir paradoxer Weise viel über Armut, aber wenig über Reichtum.
Klingt unrealistisch? In Europa gibt es Länder, die diese Maßnahmen bereits seit Jahrzehnten umsetzen und dabei soziale Gerechtigkeit mit ökonomischer Prosperität verknüpfen: Es handelt sich in erster Linie um die skandinavischen Länder, aber auch einige mitteleuropäische Länder positionieren sich sehr gut. Wenngleich Europa in einer lösbaren Mehrfachkrise steckt, so ist es nach wie vor eine riesige – und wohl die einzige – Chance. Nach wie vor bildet die EU einen immensen und vergleichsweise geschlossenen Wirtschaftsraum. 2017 – also noch mit Großbritannien in der EU – entfallen fast 90 Prozent der gesamten europäischen Nachfrage an Gütern und Dienstleistungen auf den Austausch innerhalb dieser Länder selbst. Die EU kann also durchaus wirksame ökologische und soziale Standards setzen sowie den Steuerwettbewerb verhindern – Voraussetzung wäre die Abkehr vom Diskurs des wirtschaftlichen Wettbewerbes zwischen Standorten und Staaten und den Primat der Wirtschaft vor anderen gesellschaftlichen Belangen.
Geht es allen Menschen gut, geht es nicht nur der Wirtschaft gut, sondern auch der Gesellschaft, der Umwelt und der Demokratie.
Damit sich Südtirol weiterhin gut entwickelt, braucht es allerdings mehr wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitische Kontroversen.
Die Zeichen der Zeit erkennen: Südtirol in der europäischen Mehrfachkrise
Südtirol bewegt sich im Kontext einer europäischen Mehrfachkrise, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Eine Hauptursache des moderaten Wirtschaftswachstums ist die gestiegene Ungleichheit in den letzten beiden Jahrzehnten.
Die ökologische Herausforderung manifestiert sich vor allem im Klimawandel, der zu einer grundlegenden Änderung unserer unmittelbaren Umwelt führen wird. Wir verbrauchen zu viele unwiederbringlich verlorengehende natürliche Ressourcen – und zwar zum Schaden von Millionen von Menschen.
Zudem befinden sich unsere Demokratien in einer unleugbaren Akzeptanzkrise: Der Ruf nach „dem starken Mann bzw. der starken Frau“ und die Verabsolutierung der eigenen Interessen sind deutliche Belege.
Die EU ringt um ihre innere Verfasstheit und mit dem zunehmenden „Egoismus“ der Staaten.
Papst Franziskus hat die globale Situation wie folgt auf den Punkt gebracht: „Diese Wirtschaft tötet.“ (Evangelii Gaudium [EG] 2013: 238)
Wichtige Bereiche der Südtiroler Wirtschaft wie der Tourismus und die Lebensmittelherstellung sind engst mit den besonderen klimatischen Bedingungen des Landes verknüpft. Studien zeigen, wie stark der mittlere südliche Alpenraum bereits jetzt ein Brennpunkt des Klimawandels ist. Um soziale Aspekte zu erwähnen: Die Südtiroler Armutsindikatoren zeichnen fraglos ein deutlich besseres Bild als auf gesamtstaatlicher Ebene und liegen auf dem Niveau Österreichs und Deutschlands. Beruhigend? In diesen Ländern wird sehr stark über Maßnahmen gegen Armut und Ungleichheit diskutiert – in Südtirol wird auf die Erfolge im Vergleich zu Italien verwiesen. Zudem halten wir im innerstaatlichen Vergleich durchaus einige unrühmliche Platzierungen: Bei Beschäftigten, die seit mindestens fünf Jahren mit befristeten Verträgen beschäftigt sind, liegt Südtirol mit 26,2 Prozent (2015) gleichauf wie die Regionen des Südens, der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen liegt mit 7,2 Prozent (2015) genau im norditalienischen Durchschnitt (Quelle: ISTAT, Rapporto BES 2015).
Für soziale Nachhaltigkeit und Ökologisierung streiten
Welche Wirtschaft? Es kann nicht darum gehen, generell eine Abkehr von wirtschaftlichem Wachstum zu fordern. Im Gegenteil: In unserer Gesellschaft soll durchaus eine heftige Diskussion darüber entbrennen, welche Wirtschaftszweige an Bedeutung gewinnen sollen. Es ist durchaus wünschenswert, dass sozial wichtige Dienstleistungen wie Bildung und Pflege wachsen, der Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommt, in den öffentlichen Personennahverkehr investiert, die lokale Landwirtschaft ökologisch gestaltet wird, der sanfte, wertschätzende und kulturell sensible Tourismus erblüht. Es ist notwendig, dass in klimaneutrale Produkte und Herstellungsprozesse investiert wird, Südtirol insgesamt klimawandelfit gemacht wird. Dies mag Kontroversen durch gegensätzliche Interessen auslösen, die aber offen mit Zahlen und Fakten auszudiskutieren sind.
Entlohnungen und Lebenszeit gerechter verteilen. Die Akzeptanz gegensätzlicher Interessen bildet auch die Grundlage für die zweite wichtige Kontroverse: nämlich die Auseinandersetzung über die Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne. Italien ist bekanntlich eines der wenigen EU-Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn; in Österreich wird derzeit die Erhöhung der kollektivvertraglichen Mindestlöhne auf 1.500 Euro diskutiert. Es trifft zu, dass in Südtirol bestimmte Arbeitnehmergruppen auch individuell höhere Entlohnungen aushandeln können. Eine Stabilisierung und Erhöhung der Binnennachfrage durch regelmäßige Lohnverhandlungen auf lokaler Ebene mit dem Schwerpunkt auf die Berufsgruppen, die am unteren Ende der Entlohnungsskala verweilen, erweist sich allerdings als immer drängender. Immerhin gibt auch über ein Fünftel der Teilzeitbeschäftigten an, dies nur deshalb zu tun, weil keine Vollzeitstelle verfügbar ist (Arbeitskräfteerhebung 2016). Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Beschäftigten mit überlangen Arbeitszeiten und hoher Arbeitsintensität. Die gerechtere Aufteilung der Erwerbsarbeit und der unbezahlten Arbeit ist eine weitere unerlässliche Diskussion.
Steuerlasten fair entwickeln. Eine dritte Kontroverse betrifft die Aufteilung der Steuerlast. Die verfügbaren Südtiroler Daten zeigen, dass die Vermögenskonzentration deutlich ausgeprägt ist. Eine stärkere Besteuerung der Vermögen zu Gunsten einer Entlastung des Faktors „Arbeit“ ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Auf Südtirol wie auf ganz Europa kommt eine noch nie dagewesene Herausforderung zu: der steigende Anteil an Älteren und Ältesten an der Gesamtbevölkerung. Die Stabilität des Sozialstaates kann wohl nur gewahrt bleiben, wenn das Vermögen stärker als bisher zur Finanzierung herangezogen wird. Nicht nur in Südtirol, in ganz Europa wissen wir paradoxer Weise viel über Armut, aber wenig über Reichtum.
Klingt unrealistisch? In Europa gibt es Länder, die diese Maßnahmen bereits seit Jahrzehnten umsetzen und dabei soziale Gerechtigkeit mit ökonomischer Prosperität verknüpfen: Es handelt sich in erster Linie um die skandinavischen Länder, aber auch einige mitteleuropäische Länder positionieren sich sehr gut. Wenngleich Europa in einer lösbaren Mehrfachkrise steckt, so ist es nach wie vor eine riesige – und wohl die einzige – Chance. Nach wie vor bildet die EU einen immensen und vergleichsweise geschlossenen Wirtschaftsraum. 2017 – also noch mit Großbritannien in der EU – entfallen fast 90 Prozent der gesamten europäischen Nachfrage an Gütern und Dienstleistungen auf den Austausch innerhalb dieser Länder selbst. Die EU kann also durchaus wirksame ökologische und soziale Standards setzen sowie den Steuerwettbewerb verhindern – Voraussetzung wäre die Abkehr vom Diskurs des wirtschaftlichen Wettbewerbes zwischen Standorten und Staaten und den Primat der Wirtschaft vor anderen gesellschaftlichen Belangen.
Geht es allen Menschen gut, geht es nicht nur der Wirtschaft gut, sondern auch der Gesellschaft, der Umwelt und der Demokratie.
Text: Werner Pramstrahler