In einem Alltag, in dem die Vielzahl der Anforderungen steigt, der Druck und die Geschwindigkeit zunehmen, suchen immer mehr Menschen nach Möglichkeiten die Balance zu halten. Achtsam sein, also bewusst wahrnehmen und entschleunigen, hilft Situationen und Probleme mit anderen Augen zu sehen und ermöglicht dadurch eine Leichtigkeit, die oft im Alltag verloren geht.
Bevor Sie weiterlesen, nehmen Sie sich zwei Minuten Zeit und machen Sie das Weitwinkelexperiment. Nehmen Sie die ganze Zeitschrift vor sich wahr. Achten Sie auf die weißen und nicht weißen Bereiche der Zeitschrift. Erkunden Sie was um die Zeitschrift herum ist. Weiten Sie die Wahrnehmung sukzessive auf die Entdeckung des gesamten Raumes aus. Nehmen Sie sich als Sehender im Raum wahr.
Körper und Atem sind die besten Anker für ein Leben im Moment
Der Zukunftsforscher Matthais Horx bezeichnet Achtsamkeit als Kulturtechnik in einer digitalen und konnektiven Welt. John Coleman befasst sich mit den Fähigkeiten herausragender Führungspersönlichkeiten und hat den Begriff der emotionalen Intelligenz maßgeblich geprägt. Er beschreibt Achtsamkeit als grundlegende Fähigkeit um emotionale Intelligenz zu entwickeln. Vivian Dittmar, welche den Gefühlskompass entwickelt hat, bemerkte kürzlich, dass Achtsamkeit die Voraussetzung ist, um Gefühle und deren Entstehung überhaupt wahrnehmen zu können.
Es scheint so, als wäre Achtsamkeit eine Erfindung unserer Zeit. Dabei ist Achtsamkeit kein neues Konzept. Sie hat die Ursprünge in vielen kontemplativen religiösen und spirituellen Traditionen – und das schon seit Jahrtausenden. Relativ neu ist, dass Achtsamkeit heute auch losgelöst von religiösen und spirituellen Kontexten erfahrbar und erlernbar ist. Was auch relativ neu ist, ist die Vielzahl an wissenschaftlichen Studien über die Wirkung von Achtsamkeit auf die Gesundheit und Psyche der Menschen. Seit den 1970er Jahren hat Achtsamkeit auch Einzug in unsere westliche Psychologie und Coachingansätze gefunden (z.B Focusing nach Eugene Gendlin, MBSR Mindfulness Based Stressreduction nach Jon Kabat-Zinn).
Dass Achtsamkeit gerade jetzt so präsent postuliert wird, hat wohl mit den Entwicklungen unserer Zeit zu tun. Nie zuvor hatten wir Menschen so viele (theoretische) Wahlmöglichkeiten wie heute. Nie zuvor waren wir so vernetzt wie heute. Und nie zuvor strömten so viele Sinneseindrücke auf uns ein wie heute. Und bei allem Wohlstand, den wir erreicht haben, bereitet uns diese schnelle, digitale und zunehmend komplex erscheinende Welt auch einige Probleme. Wir tun immer mehr, immer schneller und immer gleichzeitiger und fühlen uns anstatt zufriedener immer öfter leer und erschöpft. Achtsamkeit hilft in diesem Kreislauf ein STOP-Schild aufzustellen.
Was ist Achtsamkeit?
Erinnern Sie sich noch daran, wie heute morgen der Kaffee geschmeckt hat? Erinnern Sie sich wie sich das Wasser der Dusche auf der Haut angefühlt hat? Nein? Dann war bei Ihnen heute morgen der Autopilot eingeschaltet. Dieser lässt Sie ins Badezimmer schlurfen, während sie in Gedanken schon beim Kleiderschrank und der Kleiderwahl sind. Er übernimmt das Zähneputzen, während Sie in Gedanken den Terminkalender des heutigen Tages durchgehen und er zieht auch den Kindern die Schuhe an, während Sie überlegen, wer sie von der Schule abholt.
Der Geist eilt unserem Tun voraus, während der Körper tut, was zu tun ist.
Viele steigen dann ins Auto und fahren mit Tunnelblick zur Arbeit. Sie bemerken nicht, dass ihre Schultern angespannt und die Augenbrauen zusammengezogen sind. Sie übersehen den Bekannten am Straßenrand, der sie freundlich grüßt und überhören das Vogelgezwitscher, das den Frühling ankündigt. Der Sympathikus ist hoch aktiv – Sie sind im Stressmodus, obwohl der Tag noch nicht richtig begonnen hat.
Achtsamkeit ist das Gegenteil von alledem
Achtsamkeit ist ein Seinszustand und eine Fähigkeit zugleich. Achtsam sein heißt ganz im Hier und Jetzt präsent zu sein. Mit allen Sinnen den gegenwärtigen Moment in seiner ganzen Fülle wahrzunehmen - im Außen wie im Inneren. Das umfasst auch die eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse. Achtsamkeitstraining, heißt den Achtsamkeitsmuskel zu trainieren. Zu bemerken, wenn der Geist wandert (Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft) und dann die Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt zu bringen. Der zweite Aspekt ist die Haltung: neugierig und akzeptierend. Das heißt wahrnehmen, ohne zu urteilen oder verändern zu wollen was ist. Dieses Training
beruhigt den Geist
erhöht die Fähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und auch da sein zu lassen
und erweitert den inneren Freiraum.
Und je größer der eigene Freiraum wird, umso größer wird der Wahrnehmungsraum gegenüber anderen Menschen – Begegnungen gewinnen an Tiefe.
Wie der Autopilot uns durch den Tag manövriert, lassen wir uns oft von Reiz-Reaktionsschleifen durch Begegnungen manövrieren. Während unser Gesprächspartner spricht, haben wir im Geiste den Satz schon selber beendet. Wir haben die Antwort schon auf der Zunge während unser Gegenüber noch die Frage formuliert. Hier reproduzieren wir unser vorgegebenes (Denk) Muster und zementieren Standpunkte. Echte Begegnung, die uns bereichert, erfüllt und nährt, kann so nicht entstehen.
Was Achtsamkeit in Begegnungen bewirkt
Achtsam sein heißt in Begegnungen vom Tele- zum Weitwinkelobjektiv zu wechseln – Erweiterung der Wahrnehmungskapazitäten, indem Sie alle fünf Sinne aktivieren. Dadurch kann das Gegenüber vollständiger wahrgenommen werden. Sie hören, was der andere sagt. Sie sehen seine Haltung und Gestik, und Sie bekommen eine Ahnung davon, was er wirklich sagen will und was ihn bewegt. Sie hören mit dem ganzen Körper zu.
Gleichzeitig ermöglicht die innere Achtsamkeit, sich der Resonanz, welche die Begegnung in uns erzeugt, bewusst zu werden. Sie spüren vielleicht einen Knoten im Bauch, wenn der Vorgesetzte Kritik übt, oder Sie spüren das wohlige Gefühl der Wärme, das sich im Brustraum ausdehnt, wenn Sie einen lieben Menschen umarmen.
Indem wir unser inneres Erleben in besserer Auflösung erkennen, erkennen Sie immer besser Ihre Bedürfnisse und Grenzen. Dies ist Voraussetzung um einen langfristigen Beitrag in der Gemeinschaft leisten zu können. Achtsamkeit lehrt uns auch, nicht blind auf einen Reiz oder aus der Emotion heraus zu reagieren. Sie lehrt uns wahrzunehmen was alles da ist, und dann eine bewusste Entscheidung zu treffen, wie wir reagieren wollen – wir entwickeln Impulsdistanz.
So nehmen wir durch die eigene Achtsamkeit wieder die Zügel in die Hand. Das eigene Verhalten und die Reaktionen sind Ergebnis von einer anderen Bewusstheit und geprägt von Respekt. Es entsteht ein Raum zwischen dem Ich und Du – der Beziehungsraum – in dem Begegnungen auf Augenhöhe stattfinden. Je mehr in diesem Raum möglich ist, umso lebendiger ist die Gemeinschaft. Ein Ort, wo das Wir unerschöpfliche Quelle von Austausch und Neuem ist.
Text: Simone Tarneller