Auf der Welt gibt es unzählige Abhängigkeiten, alles hängt mit allem zusammen. Eine Abschottung nach außen kann es daher nicht geben. Dies betrifft Migrationsströme, Wirtschaft, Klima, Wissen, … Wie kann vor diesem Hintergrund der biblische Auftrag solidarisch zu sein umgesetzt werden?
Solidarität und Nächstenliebe gehören für viele Christinnen und Christen untrennbar zusammen – beide Motive kulminieren im Gleichnis vom „barmherzigen Samaritan“, der jenem Unbekannten hilft, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber gefallen war. Tatsächlich erhält das christliche Verständnis von Solidarität und Nächstenliebe – nicht nur, aber auch durch diese Erzählung Jesu – einen ganz besonderen Akzent.
Durch Liebe zum Nächsten werden
Nächstenliebe ist im Alten wie im Neuen Testament eine zentrale ethische Richtschnur, aber auch eine Richtschnur für die religiöse Gesinnung, wird sie doch unmittelbar mit der Gottesliebe verknüpft. Jesus antwortet im Lukasevangelium (Lk 10,25-37) auf die Frage eines Schriftgelehrten, wer denn der „Nächste“ im Sinne des Gebotes „Deinen Nächsten sollst Du lieben wie Dich selbst“ sei, mit einer der bekanntesten Beispielerzählungen des Neuen Testaments überhaupt. Während ein Priester und ein Levit an einem auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber gefallenen, ausgeplünderten und schwer verletzt zurückgelassenen Menschen vorübergehen, nimmt sich ein Mann aus Samarien dieses Menschen an, versorgt ihn und bringt ihn in rettende Sicherheit. Die Frage, die Jesus schließlich stellt, lautet, wenn man genau liest: „Wer ist dem unter die Räuber gefallenen zum Nächsten geworden?“ Selbst also, wenn die „Nächsten“ herkömmlich die Volksgenossen, die Landsleute sind, geht es hier um etwas grundlegend anderes (es wird ja überhaupt nicht gesagt, welcher Herkunft oder Abstammung oder Herkunft der unter die Räuber Gefallene ist): Durch die fürsorgende Tat und durch die Rettung in die schützende Umgebung des Gasthauses erweist sich der Helfende als der Nächste des Überfallenen. Der Handelnde also wird zum Nächsten dessen, der der Hilfe bedarf. Nächstenliebe ereignet sich in diesem Erzählbeispiel also gerade nicht zwischen Menschen, die sich nahe stehen oder aus Konvention füreinander Verantwortung tragen, sondern zwischen Menschen, die auf den ersten Blick nichts verbindet als das Ereignis, durch das sie einander überhaupt erst zu Nächsten werden. Mit anderen Worten: Nächstenliebe bedeutet nicht, dass wir einander helfen, weil wir einander nahe stehen, sondern dass wir einander zu Nächsten werden, weil wir einander helfen.
Einschließende und ausschließende Solidarität
Auch Solidarität ist keineswegs einfach in eine ganz bestimmte Bedeutung zu fassen, sondern wird sehr unterschiedlich verstanden und interpretiert. Es gibt die Solidarität einer Gruppe, die durch gemeinsame Interessen verbunden ist („Con-Solidarität“), und es gibt die Solidarität, die Menschen für andere leisten, die der Hilfe bedürfen („Pro-Solidarität“). Beides ist natürlich berechtigt. Allerdings wird heute bereits eine verbreitete „ausschließende“ Solidarität diagnostiziert, also eine Solidarität, die sich in einer Art Gruppenegoismus zeigt und sich gegen andere wendet, die nicht zur Gruppe gehören (sollen). So kommt beispielsweise in der Debatte um eine angemessene (politische und gesellschaftliche) Haltung gegenüber Menschen auf der Flucht, die nach Europa kommen, Solidarität in zumindest zwei Hinsichten ins Spiel: zum einen als Solidarität im Sinne der Bereitschaft, den eigenen Wohlstand ein wenig mit den neu Hinzugekommenen zu teilen; zum anderen als Solidarität im Sinne der Abschottung gegen neu Hinzugekommene und gegenüber Fremden.
Gemeinverstrickung – Gemeinhaftung
Für die sozialkatholische Tradition ist Solidarität als eines der Sozialprinzipien von zentraler Bedeutung. Das Solidaritätsverständnis der katholischen Soziallehre ist dabei weit weniger moralisch aufgeladen als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es handelt sich vielmehr um ein ausgesprochen pragmatisches Verständnis von Solidarität. Vor allem die „Solidaristen“ in der Zeit zwischen den Weltkriegen – allen voran Oswald von Nell-Breuning SJ – entwickelten einen Solidaritätsbegriff, der recht nüchtern und sachlich vom Faktum der Solidarität ausgeht. Wir sind in modernen Gesellschaften – und man muss heute hinzufügen: wir sind in der Weltgesellschaft der Gegenwart – auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Wir können gar nicht aus dieser „Gemeinverstrickung“ ausbrechen, sondern können unser eigenes Wohl – im Sinne einer „Gemeinhaftung“ – nur als Wohl aller anderen („Gemeinwohl“) verwirklichen. Alles andere ist kurzsichtig, und die Flüchtlingsbewegungen aus den marginalisierten Weltgegenden nach Europa sind der beste Beweis dafür: Menschen aus benachteiligten und marginalisierten Weltgegenden, die von den Wohlstandsgewinnen der Globalisierung, von denen wir so selbstverständlich profitieren, ausgeschlossen sind, machen sich auf den Weg in die Welt der Globalisierungsgewinner. Gewiss ist die Migrations- und Flüchtlingspolitik eine große Herausforderung unserer Zeit. Aber wenn wir jetzt so tun, als könnten wir uns die lästigen Flüchtlinge durch Abschottung vom Hals halten, begehen wir nur noch einmal den selben Fehler, den wir ständig begehen, indem wir so tun, als gehe uns das Schicksal der Menschen in Asien und Afrika nichts an, als habe dieses Schicksal nichts mit unserer Lebensweise zu tun. „Gemeinverstrickung – Gemeinhaftung“ ist die Formel des katholischen Solidaritätsverständnisses. Das heißt: Es gibt eine „faktische Solidarität“, also ein Verwiesensein aller Menschen aufeinander; und es gibt eine „gesollte Solidarität“, also eine Verpflichtung, einander beizustehen, füreinander zu „haften“, weil wir aus der gemeinsamen „Verstrickung“ eben nicht herauskommen.
Genau in dieser Hinsicht haben das Solidaritätsverständnis der katholischen Sozialtradition und das jesuanische Beispiel der Nächstenliebe ihren gemeinsamen Kern: Es geht nicht um Solidarität als Zusammenhalt von ohnehin durch gemeinsame Interessen verbundene Menschen; und es geht nicht um Nächstenliebe als eine Art Nachbarschaftshilfe. Sondern es geht um die Einsicht in den unauflösbaren Gesamtzusammenhang des Wohls aller Menschen in allen Weltgegenden und eigentlich zu allen Zeiten und um die Wahrnehmung einer gegenseitigen Verpflichtung, die in die Tat der Liebe mündet.
Die Theologie der Befreiung hat uns die Einsicht in die „Strukturen der Sünde“ gelehrt, also in eine „Gemeinverstrickung“, in der jede unserer Handlungen unentrinnbar eingebunden ist. Noch die banalsten Handlungen, etwa der Kauf von Lebensmitteln oder eines Mobiltelefons, wirken sich mehr oder weniger positiv oder negativ auf die Lebensumstände anderer Menschen aus. Solidarität nimmt ebenso eine solche „Gemeinverstrickung“ an, wechselt aber das Vorzeichen und geht umgekehrt davon aus, dass Strukturen der Nächstenliebe aufgebaut werden müssen. Es darf nicht bei der einzelnen Tat der Liebe bleiben, sondern es müssen gesellschaftliche und politische Strukturen entwickelt werden, die die überraschende Tat des „barmherzigen Samaritan“ auf eine strukturelle Ebene heben und der „gemeinsamen Haftung“ aller Menschen gerecht werden. Das ist eine gewaltige Herausforderung, aber Solidarität und Nächstenliebe werden nicht billiger zu haben sein, wenn wir wirklich das christliche Verständnis dieser beiden Motive ernst nehmen.
Christian Spieß, geb. 1970 in Dieburg (Deutschland), Studium der Philosophie, kath. Theologie und Religionspädagogik in Mainz, seit 2015 Professor für Christliche Sozialwissenschaften und Leiter des Johannes Schasching SJ Instituts an der Katholischen Privat-Universität Linz. Veröffentlichung zu Fragen der christlichen Sozialethik und katholischen Soziallehre, zur Wirtschaftsethik sowie zum Zusammenhang von Religion und Politik in modernen Gesellschaften bzw. im säkularen Verfassungsstaat.
TEXT: Christian Spieß, Katholische Privat-Universität Linz