Thema

Es ist genug für alle da

Kamingespräch mit Sepp Kusstatscher
Sepp Kusstatscher (l.) und Karl H. Brunner
Sepp Kusstatscher, Präsident der Diözesankommission für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, war Gast auf der Landesversammlung des KVW. Statt einem Referat gab es ein Gespräch mit Karl H. Brunner. Dafür hatte der KVW Vorstand einige Themen und Inputs vorbereitet.
Beim Kamingespräch konfrontierte Karl H. Brunner seinen Gesprächspartner Sepp Kusstatscher mit bekannten Floskeln, wie „Das Boot ist voll“ oder „Südtiroler zuerst“ oder „Die Kirche hat sich nicht einzumischen“.
Kusstatscher, Präsident der Diözesankommission für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, konterte und argumentierte geschickt. Man merkte, dass er ein zutiefst sozial denkender (und fühlender) Mensch ist, er ist politisch, christlich orientiert, aber auch praktisch, belesen und gut informiert.
Kusstatscher warnte davor, dass sozial Schwache den Zorn auf jene abwälzen, denen es noch schlechter geht. „Es ist genug für alle da, auch weltweit gesehen, zu wenig ist aber stets für die Gier und den Geiz einiger weniger“. Weltweit geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander. Südtirol ist eine reiche Region und hat keinen Grund zum Jammern. Deshalb dürfe es uns auch nicht egal sein, was im Mittelmeer passiert, so Kusstatscher. Für das, was die Europäer über Jahrhunderte Afrika angetan haben, müssten wir ein schlechtes Gewissen haben.
Situation im Bahnhofspark
Es sei nicht zufällig, dass so viele negative Meldungen zu hören und zu lesen sind. Immer wieder ist von zunehmender Gewalt zu hören und dies mache Angst. Kusstatscher stellte auch die Frage, wer könnte Interesse daran haben, dass jemand Angst haben. Ängstliche Menschen sind viel leichter manipulierbar. Er regte an, darüber nachzudenken, wer hinter den Medien steckt und welche Interessen mit den Negativmeldungen verbunden sind.
In den 70er Jahren habe es mehr Kriminalität gegeben als heute. „Deshalb lasst euch nicht verängstigen von den ständigen negativen Nachrichten!“, forderte Kusstatscher.
Südtiroler zuerst?
Die Aussage, dass die Südtiroler fleißig sind, hart arbeiten und ihre Steuern bezahlen und deshalb bei den Leistungen einen Vorrang haben sollten, ließ Kusstatscher nicht gelten. Im Gegenteil, er sieht das äußert problematisch und glaubt, dass nur Solidarität eine Gesellschaft weiterbringe. Je gerechter verteilt werde, umso besser.
Man müsse über die sozialen Gesetze nachdenken, da brauche es eine radikale Veränderung. Mit dem Drehen an ein paar Stellschrauben sei es nicht getan. Südtirol hat die primäre Gesetzgebungskompetenz für Soziales. Die Zuständigkeiten und Fördermaßnahmen sind aber bei Staat, Region und Land unübersichtlich aufgeteilt. Es braucht dringend ein organisches Gesetz, um das Flickwerk zu überwinden und um alle sozialen Maßnahmen beim Land zusammenzuführen, zu vereinfachen und transparent zu verwalten.
Arme nicht bekämpfen
Wer arm ist, braucht Unterstützung. Es muss die Armut bekämpft werden, nicht die Armen. Durch die Steuern könnte mehr gesteuert werden. Reichtum und Spekulation müssen progressiv besteuert werden. Die Flat Tax (Einheitssteuer) ist verfassungswidrig. Der Staat braucht Geld, um Bildung, Gesundheit, Soziales, Infrastrukturen usw. zu finanzieren.
Politische Kirche
Als Bischof Ivo Muser mit einem Kriterienkatalog für die Wahlen an die Öffentlichkeit ging, wurde er von einigen Seiten dafür kritisiert. Für Kusstatscher darf und soll die Kirche politisch sein. Die Enzyklika „Laudato sì“ enthält eine klare ökologische und soziale Botschaft. Darin geht es vor allem auch um eine Änderung des Lebensstils.
Aber bei uns beschäftigt man sich lieber mit Themen wie der doppelten Staatsbürgerschaft, den Ortsnamen oder dem neuen Aufbewahrungsort für Ötzi. Das sind jedoch Nebenschauplätze. Damit wird oft von den wirklich wichtigen und brennenden Themen abgelenkt.
Warnung vor Privatisierung
Jeder trägt im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Gemeinschaft bei. Das Gemeinwohl steht vor den Einzelinteressen. Kusstatscher warnte vor den Privatisierungen. Privare (lat.) heißt rauben, Privatum ist etwas, was der Gemeinschaft weggenommen wurde. Von den vier Elementen (Erde, Wasser, Luft und Feuer) wird bis auf die Luft immer mehr privatisiert. Man denke nur an das Wasser und die Energie. Dies ist das Gegenteil von Solidarität.
Ständiges Wachstum
Immer wieder hört man die Forderung, jeder müsse einer Lohnarbeit nachgehen und davon leben. Das bewirkt aber auch ständiges Wachstum, d.h. dass immer mehr produziert, konsumiert und wegegeworfen werden müsse.
Kusstatscher sprach sich für eine steuerfinanzierte Alterssicherung aus. Denn im momentanen Rentensystem stehen alle, die nicht einer Erwerbsarbeit nachgehen, schlecht da, wie zum Beispiel Hausfrauen, obwohl diese für die Gesellschaft Wertvollstes leisten. Die Finanzierbarkeit, z.B. über Steuern auf Finanztransaktionen, wäre nicht das Problem. Es braucht den politischen Willen.
TEXT: Ingeburg Gurndin

Thema

Wer arm ist, braucht Unterstützung

KVW setzt sich für ein soziales Südtirol ein
Moderatorin Ursula Thaler (l.) mit den Ehrengästen: Bischof Ivo Muser, Landesrätin Waltraud Deeg und Landeshauptmann Arno Kompatscher
Auf der Landesversammlung des KVW stand das soziale Südtirol im Mittelpunkt. Sowohl in den Grußworten als auch im Gespräch mit Sepp Kusstatscher wurde mehr Menschlichkeit gefordert, die Bedürftigkeit soll das Kriterium für die Vergabe von sozialen Leistungen sein. Der Angstmacherei und Schwache gegen Schwache ausspielen soll Einhalt geboten werden. Zur Landesversammlung sind rund 400 Ehrenamtliche des KVW aus dem ganzen Land nach Bozen gekommen.
KVW Landesvorsitzender Werner Steiner ging in seiner Rede der Frage nach, wie ein soziales Südtirol aussehen soll und was es dazu braucht. Am Beispiel des barmherzigen Samariters erklärte er, wie wichtig die schnelle und unmittelbare Hilfe sei. „Als nächstes ist es aber wichtig, die Straße von Jericho nach Jerusalem sichererer zu machen“, sagte Steiner. Hilfe und Solidarität sind zu organisieren, sie brauchen eine Struktur. Darin sieht der Sozialverband KVW seine Aufgabe. „Mit diesem Anliegen wenden wir uns immer wieder an die Politik, bringen Wünsche vor, zeigen auf, was nicht so gut läuft, weisen auf Ungerechtigkeiten hin, sticheln und haken nach“, erklärte Steiner.
Der KVW ist nah am Menschen
Der KVW hat mit seinen Dienstleistungsbetrieben ein gutes Bild von der sozialen Situation in Südtirol. „Dieses Wissen kann für die Verbesserung mancher Situation zielführend eingesetzt werden“, sagte Steiner. Hier helfe eine gute Vernetzung mit der Politik, sei es auf Landesebene als auch auf Ortsebene.
Südtirol verfügt über ein dichtes, soziales Netz. Es gibt Sozialhilfe, Pflegegeld, Familiengeld, Wohngeld und viele weitere soziale Unterstützungsmaßnahmen. Ohne sie wäre die Armutsgefährdung für viele Südtiroler Haushalte noch größer. Der Wert dieser Leistungen ist anzuerkennen. „Unser Auge soll nicht darauf schauen, ob es vielleicht irgendwo einen Missbrauch gibt oder wie die ethische Zusammensetzung der Beitragsbezieher ist“, sagte Steiner. Kriterium für die Vergabe ist die Bedürftigkeit. Und es dürfe kein Makel sein, eine soziale Leistung in Anspruch zu nehmen.
Geprägt vom christlichen Menschenbild
Dafür bekam der KVW auch ein großes Lob von Landeshauptmann Arno Kompatscher. Er räumte Diskussionsbedarf ein. Deshalb sei er froh über die sachliche, nüchterne Art, mit der der KVW sich einbringe, wenn es irgendwo unsolidarisch wird. Mit Vehemenz bringe der KVW Vorstand die Themen vor, ohne dabei polemisch zu sein. Kompatscher versprach, dass die Regierungsarbeit von einem christlichen Menschenbild geprägt sei. Und für ihn werde bei den sozialen Leistungen weiterhin die Bedürftigkeit als Kriterium gelten. Es gebe auch verschiedene Forderungen, zum Beispiel die Herkunft als Kriterium einzuführen. „Politik braucht Mut“, so der Landeshauptmann, „wir wollen nicht nur populär sein“. Dafür bekam er von der Landesversammlung anerkennenden Applaus.
Nicht nur ans Heute denken
Landesrätin Waltraud Deeg bedankte sich für die kritische und stets konstruktive Mitarbeit des KVW. Beim Landeshaushalt gehe es in den nächsten Jahren darum zu schauen, was noch auf uns zukommt und nicht nur darauf, was wir heute brauchen. Es brauche den Mut, unangenehme Dinge anzusprechen, so Landesrätin Deeg.
Die Armen, Witwen und Waisen von heute
Obwohl das Wort Solidarität in der Bibel nicht vorkommt, ist es doch das Thema, das sich durchs Alte und Neue Testament zieht. Bischof Ivo Muser erklärte, dass die Armen, Schwachen, Waisen, Witwen und Fremden immer wieder genannt werden. „Die ist leicht ins Heute zu übersetzen, wer kann heute mit diesen Personen in Verbindung gebracht werden?“ Mit dieser Frage regte Bischof Muser zum Nachdenken an. Das K im Namen des KVW steht für ein weltweites Denken. Es geht nicht darum, Nabelschau zu halten, sondern lokal und konkret zu handeln. „Dies ist das Markenzeichen“, erklärte Bischof Muser.
Josef Stricker, geistlicher Assistent des KVW, sprach in den Schlussworten von einem sozialen Klimawandel in Europa, in Italien und auch in Südtirol.
Das soziale Klima wird rauer
Der Ton der Auseinandersetzung in der Gesellschaft wird rauer, das soziale Klima wird kälter, die Egoismen nehmen zu und es ist Mode geworden, sich auf sozial Schwache einzuschießen, analysierte Stricker die aktuelle Situation. Es werde der Eindruck geweckt, dass gerade unter Schwachen die größten Ungerechtigkeiten passieren und die Forderung steht im Raum, die Politik solle durchgreifen. Zum Beispiel beim Wohngeld, Familiengeld oder bei der sozialen Mindestsicherung. „Dies ist jedoch ein großes Missverständnis, denn Härte hat nichts mit Größe zu tun. Im sozialen Bereich hat Größe mit Menschlichkeit und mit Mitgefühl zu tun“, so Stricker. Neben den Steuer- und Wirtschaftsexperten brauche es Armutsexperten, die die Schicksale hinter den Zahlen und Statistiken kennen. Es brauche Menschen, die klar und differenziert von der sozialen Wirklichkeit erzählen können. Wer nur mit Ängsten spielt, schade unserem Land, so Stricker. Der Wertekompass sei in Südtirol verrutscht. Dadurch werde bei sozialen Maßnahmen versucht, Argumente von politisch rechter Seite abzuwehren. Es sei aber nicht richtig, an Ideologien Maß zu nehmen, sondern die Lebenswirklichkeit der betroffenen Personen müsse gesehen werden.
Wer nur Werte beschwört, erreicht nichts. Man müsse von der sozialen Wirklichkeit erzählen, so klar und differenziert wie nötig. Die Stimmung müsse in Richtung der alten Weisheit gehen: Ohne Wir kommt keiner zum Ich, der Weg zum Ich führt nur über das Wir.
TEXT: Ingeburg Gurndin