Spezial

Auf dem Pilgerweg

Schritt für Schritt den Weg zur eigenen Mitte gehen
Auf dem Erzengel-MichaelWeg in Süditalien
Pilgern ist heute, neben religiösen Motiven, zu einer Möglichkeit geworden sich eine Auszeit vom Alltag zu nehmen. Es ist die Sehnsucht nach Langsamkeit, nach Ausbruch aus einem von Hektik und Reizüberflutung geprägten Alltag, nach den wesentlichen Dingen im Leben. Äußeres und Inneres werden stärker erlebbar, denn das Wandern lässt Zeit die Gedanken schweifen zu lassen und den Kopf frei zu machen.


Text und Fotos: Paula Maria Holzer
„Ich setzte den Fuß in die Luft – und sie trug“, wie oft meditierte ich den Gedanken von Hilde Domin. Sollte ich es wagen und den Mut größer als die Angst werden lassen? Wo sollte ich das Vertrauen hernehmen, dass die Luft, in die ich meinen Fuß setzen wollte, mich wirklich trug? Brauchte ich diese Sicherheit? Bis die Sehnsucht mein Herz flutete und größer wurde als die Angst. Ich packte den Rucksack, setzte meinen Fuß in die Luft – und ... es wurde daraus eine Geschichte, die mich bis auf die Knochen forderte, zu mir selber zu stehen, authentisch zu sein. Angepasst und brav sein, für Beachtung und Anerkennung mich selber zu übergehen, das trug nicht mehr. Sich vom Weg gestalten, formen, verändern zu lassen, das ist pilgern. Pilgerwege fordern nackte Ehrlichkeit sich selber gegenüber. Wenn alles wegfällt – was trägt mich dann noch?
Weg zur eigenen Mitte

Pilgern braucht keine bekannten Pilgerwege. So kann das Wandern vor der eigenen Haustür zum Pilgern werden. Mit offenem Herzen und dem Vertrauen, dass geschieht, was zu geschehen hat, sucht sich der Pilger keine landschaftlichen Highlights, pickt sich nicht die schönsten Etappen aus den Strecken, sucht weder Gipfel noch Rekorde, sondern geht die Wege, wie sie auf ihn zukommen.
Der Schritt ist langsam, wird immer gleichmäßiger, ruhiger, je länger der Weg. Wer geht, ist in jenem Tempo unterwegs, das auch seine Seele mithalten kann. Sie hält Schritt. „Pilgern ist beten mit den Füßen“, ja, so fühlt es sich an, wenn ich lange genug unterwegs bin. „Wer bin ich, wo komme ich her, wo gehe ich hin, was gibt meinem Leben Sinn?“ Es sind dies die Fragen, die mich auf mich selber zurück werfen und nach Antwort verlangen. Lebendig sein, das Leben spüren, brennen für Werte und Ideale, wissen wofür ich am Morgen aus dem Bett springe: das zu erfahren war ich auf dem Pilgerweg. Ich spürte schon lange, dass irgendwann keine Zeit mehr sein würde für die Dinge, die ich immer schon gerne gemacht hätte. Und ich spürte, dass ich irgendwann dann leichter aus dieser Welt gehen würde, wenn ich meiner Sehnsucht Raum gegeben hatte, Träume verwirklicht und alles gelebt hatte. Ja, ich wollte alles wagen!
Und so lässt der Pilger es zu, dass der Weg ihn gestaltet. Es ist die radikale Einfachheit, die verändert. Jeden Tag dieselben Rituale: schlafen, aufstehen, Rucksack packen und schultern, gehen, rasten, Begegnungen, Gespräche genießen, gehen, Bett suchen, duschen, Wäsche waschen, essen, schlafen. Im Rucksack ist alles drin was die Pilgerin braucht. Niemand will etwas von mir. Bedürfnisse spüren ist meine Herausforderung geworden: die Müdigkeit, den Hunger, den Durst, die Angst und die Freude, meinen Körper, die Knochen, die Erschöpfung, die Schultern, Muskeln und meine Gefühle: manchmal ist es Wut, Traurigkeit. Und meine Gedanken: Gedanken, die oft mit meinem Leben jenseits des Pilgerns zu tun haben. Der Abstand klärt. Und wenn ich heute so in meinem Alltagstrott und wieder mal recht oberflächlich dahinlebe, dann überkommt mich die Sehnsucht, meinen Füßen freien Lauf zu lassen. Gehen, gehen, gehen. Im Gehen mich selber verlieren, im Gehen mich selber spüren. Es verlangsamt sich mein Denken, mein Tun und ich nehme im Innen und im Außen vieles wahr, das in der Schnelligkeit keinen Platz hat. Weil ich zulasse, dass die Seele sich einmischt und Gott erfahrbar wird. Dann erlebe ich Freude, tiefe Freude und Dankbarkeit. Einfach grundlos glücklich sein. Da ist so vieles, das sich mitteilen will: die Weite, der Einklang, das Gefühl, eingebettet zu sein in eine große, alles übersteigende Ordnung. Gott? Ja, pilgern ist Gotteserfahrung. Über die Sinne reißt sie mich aus eingefahrenen Bahnen, und es erschließt sich mir jene Parallelwelt, die eine stumme und taube Seele mir vorenthält. Plötzlich streichelt die sanfte Brise mein Gesicht, der Wind fährt durch mein Haar, der Duft des taunassen Waldbodens betört meine Nase, der Tanz der Schmetterlinge im Rhythmus des Vogelgesangs beschwingt meinen Schritt. Ich fühle, spüre, schmecke, rieche, höre und jeder einzelne Augenblick wird bunt und spannend zugleich, denn in allem vibriert Lebendigkeit. Das Höchste ist spürbar.
Mehr Zeit für Wesentliches

Es ist so viel Zeit. Und es entsteht das schöne Gefühl, Zeit zu haben. Zeit, sich zu spüren, Zeit für ein Gespräch am Wegesrand, Zeit, die Seele baumeln zu lassen, Zeit, die nicht verplant, vollgestopft ist. Dies schafft Abstand und Klarheit. Wesentliches tritt hervor, wird erkennbar, und dies schafft Möglichkeiten zur Veränderung. Was ist mir wirklich, wirklich wichtig in meinem Stück Leben, das mir noch zu leben bleibt? Das Leben vom Tod her zu betrachten, gibt dem Leben an sich einen neuen Wert. Zu erkennen, dass die Zeit recht kurz sein könnte, relativiert Vieles. Denn ich möchte diese kurze Zeit doch mit Freude und Sinn füllen, der Lust zu leben Nahrung und Feuer geben.
Pilgern war immer schon der Beginn eines Abenteuers mit ungewissem Ausgang. Mit einem großen Ziel aber: das Heil der Seele zu finden.
Und dann stand ich da, auf dem großen Platz vor der Kathedrale in Santiago de Compostela nach wunderbaren Wochen der Freiheit, der Leichtigkeit, der Dankbarkeit, und es erfasste mich Panik: und jetzt? Wo war die überwältigende Freude, die ich erwartet hatte? Ernüchterung machte sich breit, der Boden unter den Füßen wankte. Und jetzt?
Es wurde mir bewusst: Heimkommen ist Herausforderung, eine sehr große sogar. Nein, so weiterleben wie ich vor meinen Pilgererfahrungen gelebt hatte, das ging nicht mehr. Es wurde mir bewusst, dass ich in mein gewohntes Umfeld zurück kam und die Erwartungen meiner Umgebung, wie ich zu sein, zu funktionieren hatte, sich nicht verändert hatte. Nur ich hatte mich verändert. Wie soll das zusammen kommen? Wie wird mein Umfeld mit mir jetzt klar kommen? Und eigentlich wusste ich selber nicht, was ich verändern möchte. Es musste sich erst zeigen. Schritt für Schritt. So wie pilgern, Schritt für Schritt. Es war ein steiniger, langer Weg, bis sich die Veränderungen in meinem Leben manifestieren konnten. Aber es hat sich gelohnt.
Und ich pilgere weiter. Mein Lebensweg ist zum Pilgerweg geworden.
Erfrischung für müde FüßePaula Maria Holzer hat ihr Hobby zum Beruf gemacht. Sie begleitet Menschen auf Pilgerwegen und leitet Fastengruppen. Ihre Angebote finden Sie unter: www.paula-holzer.com
Pilgerrucksack packen
Weniger ist mehr
Was an Gewicht am Morgen beim Starten recht tragbar scheint, drückt nach mehreren Stunden Gehzeit als Zentnerlast auf Schultern, Gelenke, Füße, Sehnen und Muskeln. Es braucht allerdings:
- viel Mut, Vertrauen und Offenheit
- 1x Wanderkleidung
- 1x Freizeitkleidung
- 1x Wäsche zum Wechseln
- Kernseife zum Körper und Wäsche waschen
- Wasserflasche, etwas Nahrung für den Körper und die Seele
- Sonnen- und Regenschutz
- Hirschtalg für die Füße
- Lachen und Humor (frei nach Karl Valentin: „freue dich wenn‘s regnet, denn wenn du dich ärgerst, regnet es trotzdem“)
- Toilettensachen in leichte Dosen umgefüllt.

Spezial

Von besonderen Begegnungen

Der Weg ist ebenso wichtig wie das Ziel
„Reisen ist auf den Horizont zugehen, den anderen treffen, kennen, entdecken und reicher zurückkommen als zu Beginn der Reise. (Luis Sepúlveda)
Warum sie pilgern und wie sie überhaupt dazu gekommen sind, darüber berichten hier drei erfahrene Pilgerinnen.
Noch 33 Kilometer bis Rom: Verena Kasslatter auf der Via Francigena 

Text und Fotos: Verena Kasslatter


Ich fühle mich eingebettet zwischen Himmel und Erde


Das Zitat von Luis Sepulveda (siehe Bild oben) steht auf meinem T-Shirt des Pilgerweges Via Francigena … und genauso empfinde ich es jedes Mal, wenn ich von meiner Pilgerreise wieder nach Hause zurückkehre. Reicher an Impressionen, Entdeckungen, Erfahrungen, aber auch an Erkennungen der eigenen Grenzen und der eigenen Persönlichkeit. Es sind auch die Zufälle, die manchmal an Wunder grenzen. Dankbarkeit. Vertrauen. Begegnungen. Neue Impulse geben und erhalten.
Die Via Francigena verbindet die Stadt Canterbury in Großbritannien mit Rom. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts reiste Sigeric, der damalige Erzbischof von Canterbury nach Rom zum Papst, und seitdem gibt es diesen Pilgerweg. Es ist, hoffentlich noch lange, ein sehr ruhiger Pilgerweg. Er läuft zumeist auf wunderschönen Wanderwegen und vermeidet, wo es möglich ist, stark befahrene Straßen. Man begegnet Dörfern, in denen die Zeit stehen geblieben ist.
Auf die vergangenen vier Jahre aufgeteilt, bin ich bis jetzt mit meiner Freundin von Pontremoli bis Rom und von Aosta nach Vercelli gelaufen.
Wieso macht man so was? Das fragen mich viele. Das frage ich mich auch jedes Mal am dritten Tag meiner Pilgerreise. Das ist nämlich der schlimmste Tag! Da fühlt man sich eigentlich kaputt. Aber dann am vierten Tag, wenn ich aufgestanden bin, freue ich mich schon wieder auf den Tag, auf das, was ich wieder kennenlernen darf. Es ist soooo spannend! Es ist Tag für Tag das neue Aufbrechen. Die vielen kräftigen Farben der Blumen, das Grün der Bäume und Wiesen, das Blau des Himmels. Das Wahrnehmen mit allen Sinnen. Die Ruhe, die Luft, das Licht. Ein Ziel zu haben und Schritt für Schritt darauf zuzugehen, eingebettet sein zwischen Himmel und Erde, auf Wegen, die scheinen in den Himmel hineinzugehen. Das Langsame und die gleichmäßigen Bewegungen, die das Wandern darstellen, empfinde ich wie Balsam für die Seele. Das Treffen von anderen Pilgern aus aller Welt mit der gleichen Passion, die Leute der Dörfer, die dir zuwinken und „Buon cammino!“ zurufen. Oft waren wir auch für lange Zeit nur wir zwei und ein paar Vögel oder Eidechsen. Das Reduzieren auf das Wesentliche. Man erkennt, wie man nur mit wenigen Dingen im Rucksack zurecht kommt. Vier Dinge werden wichtig: Trinken, Essen, Schlafen und wo ist die nächste Markierung!
Ruben Blades, ein Sänger aus Panama, sagt folgendes: „Il senso del viaggio sta nel fermarsi ad ascoltare chiunque abbia una storia da raccontare. Camminando si apprende la vita, camminando si conoscono le cose, camminando si cura la ferita che lascia il passato.“
Beim Pilgern fand Annemarie Trojer Antworten auf offene Fragen und den Weg zurück ins Leben.
Text und Foto: Annemarie Trojer


Pilgern bedeutet für mich „Beten mit den Füßen“


Schwere Schicksalsschläge in der Vergangenheit, der Verlust von Mann und Tochter nach schwerer Leukämieerkrankung innerhalb weniger Jahre, verlangten nach einer Neuorientierung in meinem Leben und der Aufarbeitung von offenen Fragen.
In diesem tiefen Loch fand ich beim Pilgern Antworten auf diese Schicksalsschläge und mein Leben konnte ich wieder „Schritt für Schritt“ zurückgewinnen.
Wer sich mit Gepäck auf den Weg macht und offen für das ist, was der Tag bringt, wird reich beschenkt:
Durch die Begegnungen mit Menschen und mit der Natur, durch die Stille in den Kirchen am Weg. Spüren wie man frei wird von unnötigem Ballast, den man mit sich getragen hat. Das Spüren von Dankbarkeit und Demut, was mir mein eigenes Leben tatsächlich bedeutet und mir im Alltag wieder geben kann.
Ein Pilgerweg ist kein Weg, dem man entlanggeht, um irgendwann, irgendwo anzukommen. Er ist vielmehr ein Weg der Kraft, ein meditativer Weg, der einen trägt und wirklich führt.
Ein Weg, den man lieben lernt und der mir Vertrauen und Dankbarkeit in meinem Leben wieder zurückgebracht hat.
Text und Foto: Barbara Piazzi


Die Erlebnisse in der Natur faszinieren mich


Seit einigen Jahren habe ich das Pilgern für mich entdeckt und begebe mich auf eine Reise mit mir selbst. Ich pilgere gerne alleine, da ich so noch intensivere Momente erleben kann. Meine Pilgerreisen führten mich nach Spanien zum bekannten Camino Francès (Jakobsweg) und der Via Podiensis in Frankreich. In Italien habe ich den Franziskusweg in mehreren Abschnitten zurückgelegt. Der Franziskusweg ist nicht so begangen wie der Jakobsweg und so bin ich dort im November in 10 Tagen nur einem einzigen Pilger begegnet. Beim Pilgern fasziniert mich der intensive Kontakt zur Natur, dass ich den ganzen Tag im Freien bin und Schritt für Schritt die Landschaft entdecken kann. Das Gespräch zu anderen Pilgern ergibt sich oft ganz von alleine, auch wenn Sprache, Alter oder Gehrhythmus verschieden sind. Meine Unterkünfte suche ich mir unterwegs spontan aus. In meinem Rucksack kann ich nur ein begrenztes Gewicht tragen, und so ist es erstaunlich, mit wie wenig man in dieser Zeit auskommt. Durch die gleichmäßigen Bewegungen beim Gehen wird der Kopf frei, viele Gedanken, die im Alltag keinen Raum finden, kommen hoch und klären sich.
Barbara Piazzi begibt sich beim Pilgern auf eine Reise mit sich selbst.