Thema
Arbeit. Macht. Sinn
Ich baue am Wir
Ich baue am Wir
Möglichkeiten der Begegnung wahrnehmen und fördern
Das Jahresthema 2019 - 2020 gleicht einer Ellipse. Das ist eine geometrische Figur mit zwei Brennpunkten. In unserem Fall sind die beiden Brennpunkte identisch mit „wir“ und „ich baue“.
Josef Stricker,
geistlicher Assistent des KVW
geistlicher Assistent des KVW
Wen meint der KVW, wenn er „wir“ sagt?
Wir stehen - um es mit Goethe zu sagen - vor der Gretchenfrage. Meint der KVW nur die gleich oder ähnlich Denkenden? Ist das „wir“ einladend oder ausgrenzend? In der Gesellschaft kann man ein generelles Misstrauen beobachten. Viele Menschen wollen nur das bestätigt haben, was sie schon immer selbst gesagt haben. Gehören wir auch dazu? Wie halten wir es mit der Pluralität der Meinungen, der Weltanschauungen, der Religionen? Leiden wir vielleicht unter Pluralitätsmüdigkeit? Es geht um Wahrnehmungen, um ein Miteinander, um Begegnungen. Das ist der einzig lohnende, aber eben auch der mühsamere Weg.
Der Flüchtling hingegen steht für die bedrohliche Seite der Globalisierung. Er bringt uns das ganze Elend und die Probleme der Welt da draußen mit. Touristen anlocken und Migranten abweisen – das ist in Kurzfassung die von Europa erwünschte Weltordnung.“
Jesuitenpater Oswald von Nell Breuning, Altmeister der Katholischen Soziallehre im 20. Jahrhundert, hat diese Frage auf eine prägnante Kurzformel gebracht:
„Wir haben über die Welt nicht geistreich zu philosophieren, sondern – insofern stimmt die Lehre Jesu Christi mit der von Karl Marx vollkommen überein – sie beherzt anzupacken, sie zu verändern, gegenbenfalls umzukrempeln und vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und wenn sich dem die Welt widersetzt, genügt es nicht, ihr mit guten Worten zuzureden, dann müssen wir kämpfen und die Solidarität politisch organisieren“.
Wie Solidarität politisch zu organisieren ist, kann an der Geschichte der Arbeiterbewegung abgelesen werden. Die Arbeiterbewegung hat Solidarität nie nur gefordert, sondern immer auch hart erkämpft. Herausgekommen sind zwei Produkte, die nicht mehr wegzudenken sind, nämlich das Arbeitsrecht und der Sozialstaat.
Der organisierten Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist es zu verdanken, wenn heute das Arbeitsverhältnis in Kollektivverträgen und im Arbeitsrecht verbindlich geregelt ist. Und ohne den Einsatz und den Kampfeswillen der organisierten Arbeiterschaft gäbe es auch den Sozialstaat nicht. Heute ist das alles selbstverständlich. Kaum jemand überlegt, wie es dazu überhaupt gekommen ist.
Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert veränderte nicht nur die Art, wie und wo Menschen arbeiten, sie führte auch zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Um sich gegen Rechtslosigkeit zu wehren, schlossen sich die Arbeiter zu Gewerkschaften zusammen und begründeten so das moderne Arbeitswesen, wie wir es heute kennen.
Was heißt vor diesem Hintergrund sozial sein? Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftliche Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesen ablädt. Er verteilt die Belastungen. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass Menschen ohne Unterschiede von Begabung und Geldbeutel sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Der Sozialstaat ermöglicht Chancen. Anders ausgedrückt: es ist richtig und nach wie vor notwendig, dass der Sozialstaat Schutz vor und Hilfe bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit bietet. Die großen Lebensrisiken können nur wenige allein meistern. Der Sozialstaat gleicht Chancenungleichheiten aus.
TEXT: Josef Stricker
Wer gehört zu uns?
Nach offiziellen Angaben leben in Südtirol rund 48.000 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die keinen italienischen Pass haben. Der weitaus größte Teil ist aus Arbeitsgründen hier, teils seit vielen Jahren. Die meisten Ausländer sind von hiesigen Wirtschaftstreibenden ins Land geholt worden. Die neuen Mitbürger arbeiten im Tourismusgewerbe, in der Landwirtschaft, auf Baustellen, bei Putzfirmen, im Pflegebereich. Ohne diese Arbeitskräfte würde in der Wirtschaft nichts mehr laufen. Frage: Gehören diese Arbeitskräfte, auf die Südtirols Gesellschaft angewiesen ist, zu uns oder gehören sie nicht dazu?
Wer sind die anderen?
Außer Arbeitskräften kommen zu uns jedes Jahr Millionen Touristen und auch ein paar hundert Flüchtlinge. In Bezug auf diese beiden Gruppen schreibt Ivan Krastev, ein bulgarischer Professor, in seinem Buch ‚Europadämmerung‘: „Der Tourist und der Flüchtling sind zu Symbolen von zwei gegensätzlichen Gesichtern der Globalisierung geworden. Der Tourist ist der geschätzte und mit offenen Armen empfangene Protagonist der Globalisierung. Der Tourist ist der gute Ausländer. Er kommt, gibt Geld aus und geht wieder. Er gibt uns das Gefühl mit der weiten Welt verbunden zu sein, ohne dass er uns deren Probleme aufzwingt.Der Flüchtling hingegen steht für die bedrohliche Seite der Globalisierung. Er bringt uns das ganze Elend und die Probleme der Welt da draußen mit. Touristen anlocken und Migranten abweisen – das ist in Kurzfassung die von Europa erwünschte Weltordnung.“
Was heißt „ich baue“? Wie und mit wem soll gebaut werden?
Keine Sozialbewegung kommt um einen Schlüsselbegriff der christlichen Soziallehre herum, nämlich den der Solidarität. Solidarität hat viel mit Strukturen, aber auch mit Haltungen der Menschen zueinander zu tun. Wie sollen wir an der Gesellschaft bauen?Jesuitenpater Oswald von Nell Breuning, Altmeister der Katholischen Soziallehre im 20. Jahrhundert, hat diese Frage auf eine prägnante Kurzformel gebracht:
„Wir haben über die Welt nicht geistreich zu philosophieren, sondern – insofern stimmt die Lehre Jesu Christi mit der von Karl Marx vollkommen überein – sie beherzt anzupacken, sie zu verändern, gegenbenfalls umzukrempeln und vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und wenn sich dem die Welt widersetzt, genügt es nicht, ihr mit guten Worten zuzureden, dann müssen wir kämpfen und die Solidarität politisch organisieren“.
Wie Solidarität politisch zu organisieren ist, kann an der Geschichte der Arbeiterbewegung abgelesen werden. Die Arbeiterbewegung hat Solidarität nie nur gefordert, sondern immer auch hart erkämpft. Herausgekommen sind zwei Produkte, die nicht mehr wegzudenken sind, nämlich das Arbeitsrecht und der Sozialstaat.
Solidarität, die Zukunft einer großen Idee
So lautet der Titel des neuesten Buches von Heinz Bude, Professor für Soziologie an der Universität Kassel. Er fordert darin ein neues Verständnis von Solidarität. Die Sehnsucht danach sei stark in der Gesellschaft, werde derzeit aber „von rechts bedient und von links liegengelassen“. Für Heinz Bude ist der Grundmodus von Solidarität nicht das Geben, sondern das Teilen. Worin besteht der Unterschied? Geben – so der Professor - geht oft mit herablassendem Mitleid einher (der da oben gibt dem da unten); Solidarität hingegen bedeutet Begegnung auf Augenhöhe. In der Arbeiterbewegung war es das Modell der wechselseitigen Hilfe. Die Devise lautete: Wir Arbeiter verstehen uns als solche, die sich wechselseitig helfen, und gewinnen daraus Kraft. Und so war es auch.Der organisierten Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist es zu verdanken, wenn heute das Arbeitsverhältnis in Kollektivverträgen und im Arbeitsrecht verbindlich geregelt ist. Und ohne den Einsatz und den Kampfeswillen der organisierten Arbeiterschaft gäbe es auch den Sozialstaat nicht. Heute ist das alles selbstverständlich. Kaum jemand überlegt, wie es dazu überhaupt gekommen ist.
Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert veränderte nicht nur die Art, wie und wo Menschen arbeiten, sie führte auch zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Um sich gegen Rechtslosigkeit zu wehren, schlossen sich die Arbeiter zu Gewerkschaften zusammen und begründeten so das moderne Arbeitswesen, wie wir es heute kennen.
Sozial sein heißt Unterschiede ausgleichen
Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, geht das Thema Solidarität und damit das „Wir“ etwas anders an. Er schreibt: „Das Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit silbernem Löffel geboren, der andere in der Gosse. Der eine wächst mit Büchern auf, der andere mit Drogen. Der eine müht sich ab und kommt keinen Schritt voran. Der andere müht sich nicht und ist ihm hundert voraus. Die eine trifft einen Mann, der sie liebt, die andere gerät an einen Hornochsen. Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat uns manches zugeteilt“. Dafür können wir nichts, sind nicht verantwortlich.Was heißt vor diesem Hintergrund sozial sein? Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftliche Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesen ablädt. Er verteilt die Belastungen. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass Menschen ohne Unterschiede von Begabung und Geldbeutel sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Der Sozialstaat ermöglicht Chancen. Anders ausgedrückt: es ist richtig und nach wie vor notwendig, dass der Sozialstaat Schutz vor und Hilfe bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit bietet. Die großen Lebensrisiken können nur wenige allein meistern. Der Sozialstaat gleicht Chancenungleichheiten aus.
Arbeitsrecht und Sozialstaat sind keine Selbstläufer
Es braucht Ideen, eine Vision, wie „das Soziale“ in Südtirol in den nächsten Jahren gestaltet und nicht nur verwaltet werden soll. Gesellschaftspolitische Ziele wie ‚gleiche Chancen für alle‘ sind weder verhandelbar noch teilbar. Sozialbewegungen brauchen Mut und Lust auf neue Themen, auf unorthodoxe Wege. Mit dem bloßen Festhalten am Bestehenden ist niemandem mehr geholfen.TEXT: Josef Stricker