Thema

Arbeit. Macht. Sinn
Ich baue am Wir

Möglichkeiten der Begegnung wahrnehmen und fördern


Das Jahresthema 2019 - 2020 gleicht einer Ellipse. Das ist eine geometrische Figur mit zwei Brennpunkten. In unserem Fall sind die beiden Brennpunkte identisch mit „wir“ und „ich baue“.
Josef Stricker,
geistlicher Assistent des KVW
Wen meint der KVW, wenn er „wir“ sagt?
Wir stehen - um es mit Goethe zu sagen - vor der Gretchenfrage. Meint der KVW nur die gleich oder ähnlich Denkenden? Ist das „wir“ einladend oder ausgrenzend? In der Gesellschaft kann man ein generelles Misstrauen beobachten. Viele Menschen wollen nur das bestätigt haben, was sie schon immer selbst gesagt haben. Gehören wir auch dazu? Wie halten wir es mit der Pluralität der Meinungen, der Weltanschauungen, der Religionen? Leiden wir vielleicht unter Pluralitätsmüdigkeit? Es geht um Wahrnehmungen, um ein Miteinander, um Begegnungen. Das ist der einzig lohnende, aber eben auch der mühsamere Weg.
Wer gehört zu uns?
Nach offiziellen Angaben leben in Südtirol rund 48.000 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die keinen italienischen Pass haben. Der weitaus größte Teil ist aus Arbeitsgründen hier, teils seit vielen Jahren. Die meisten Ausländer sind von hiesigen Wirtschaftstreibenden ins Land geholt worden. Die neuen Mitbürger arbeiten im Tourismusgewerbe, in der Landwirtschaft, auf Baustellen, bei Putzfirmen, im Pflegebereich. Ohne diese Arbeitskräfte würde in der Wirtschaft nichts mehr laufen. Frage: Gehören diese Arbeitskräfte, auf die Südtirols Gesellschaft angewiesen ist, zu uns oder gehören sie nicht dazu?
Wer sind die anderen?
Außer Arbeitskräften kommen zu uns jedes Jahr Millionen Touristen und auch ein paar hundert Flüchtlinge. In Bezug auf diese beiden Gruppen schreibt Ivan Krastev, ein bulgarischer Professor, in seinem Buch ‚Europadämmerung‘: „Der Tourist und der Flüchtling sind zu Symbolen von zwei gegensätzlichen Gesichtern der Globalisierung geworden. Der Tourist ist der geschätzte und mit offenen Armen empfangene Protagonist der Globalisierung. Der Tourist ist der gute Ausländer. Er kommt, gibt Geld aus und geht wieder. Er gibt uns das Gefühl mit der weiten Welt verbunden zu sein, ohne dass er uns deren Probleme aufzwingt.
Der Flüchtling hingegen steht für die bedrohliche Seite der Globalisierung. Er bringt uns das ganze Elend und die Probleme der Welt da draußen mit. Touristen anlocken und Migranten abweisen – das ist in Kurzfassung die von Europa erwünschte Weltordnung.“
Was heißt „ich baue“? Wie und mit wem soll gebaut werden?
Keine Sozialbewegung kommt um einen Schlüsselbegriff der christlichen Soziallehre herum, nämlich den der Solidarität. Solidarität hat viel mit Strukturen, aber auch mit Haltungen der Menschen zueinander zu tun. Wie sollen wir an der Gesellschaft bauen?
Jesuitenpater Oswald von Nell Breuning, Altmeister der Katholischen Soziallehre im 20. Jahrhundert, hat diese Frage auf eine prägnante Kurzformel gebracht:
„Wir haben über die Welt nicht geistreich zu philosophieren, sondern – insofern stimmt die Lehre Jesu Christi mit der von Karl Marx vollkommen überein – sie beherzt anzupacken, sie zu verändern, gegenbenfalls umzukrempeln und vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und wenn sich dem die Welt widersetzt, genügt es nicht, ihr mit guten Worten zuzureden, dann müssen wir kämpfen und die Solidarität politisch organisieren“.
Wie Solidarität politisch zu organisieren ist, kann an der Geschichte der Arbeiterbewegung abgelesen werden. Die Arbeiterbewegung hat Solidarität nie nur gefordert, sondern immer auch hart erkämpft. Herausgekommen sind zwei Produkte, die nicht mehr wegzudenken sind, nämlich das Arbeitsrecht und der Sozialstaat.
Solidarität, die Zukunft einer großen Idee
So lautet der Titel des neuesten Buches von Heinz Bude, Professor für Soziologie an der Universität Kassel. Er fordert darin ein neues Verständnis von Solidarität. Die Sehnsucht danach sei stark in der Gesellschaft, werde derzeit aber „von rechts bedient und von links liegengelassen“. Für Heinz Bude ist der Grundmodus von Solidarität nicht das Geben, sondern das Teilen. Worin besteht der Unterschied? Geben – so der Professor - geht oft mit herablassendem Mitleid einher (der da oben gibt dem da unten); Solidarität hingegen bedeutet Begegnung auf Augenhöhe. In der Arbeiterbewegung war es das Modell der wechselseitigen Hilfe. Die Devise lautete: Wir Arbeiter verstehen uns als solche, die sich wechselseitig helfen, und gewinnen daraus Kraft. Und so war es auch.
Der organisierten Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist es zu verdanken, wenn heute das Arbeitsverhältnis in Kollektivverträgen und im Arbeitsrecht verbindlich geregelt ist. Und ohne den Einsatz und den Kampfeswillen der organisierten Arbeiterschaft gäbe es auch den Sozialstaat nicht. Heute ist das alles selbstverständlich. Kaum jemand überlegt, wie es dazu überhaupt gekommen ist.
Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert veränderte nicht nur die Art, wie und wo Menschen arbeiten, sie führte auch zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Um sich gegen Rechtslosigkeit zu wehren, schlossen sich die Arbeiter zu Gewerkschaften zusammen und begründeten so das moderne Arbeitswesen, wie wir es heute kennen.
Sozial sein heißt Unterschiede ausgleichen
Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, geht das Thema Solidarität und damit das „Wir“ etwas anders an. Er schreibt: „Das Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit silbernem Löffel geboren, der andere in der Gosse. Der eine wächst mit Büchern auf, der andere mit Drogen. Der eine müht sich ab und kommt keinen Schritt voran. Der andere müht sich nicht und ist ihm hundert voraus. Die eine trifft einen Mann, der sie liebt, die andere gerät an einen Hornochsen. Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat uns manches zugeteilt“. Dafür können wir nichts, sind nicht verantwortlich.
Was heißt vor diesem Hintergrund sozial sein? Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftliche Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesen ablädt. Er verteilt die Belastungen. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, dass Menschen ohne Unterschiede von Begabung und Geldbeutel sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Der Sozialstaat ermöglicht Chancen. Anders ausgedrückt: es ist richtig und nach wie vor notwendig, dass der Sozialstaat Schutz vor und Hilfe bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit bietet. Die großen Lebensrisiken können nur wenige allein meistern. Der Sozialstaat gleicht Chancenungleichheiten aus.
Arbeitsrecht und Sozialstaat sind keine Selbstläufer
Es braucht Ideen, eine Vision, wie „das Soziale“ in Südtirol in den nächsten Jahren gestaltet und nicht nur verwaltet werden soll. Gesellschaftspolitische Ziele wie ‚gleiche Chancen für alle‘ sind weder verhandelbar noch teilbar. Sozialbewegungen brauchen Mut und Lust auf neue Themen, auf unorthodoxe Wege. Mit dem bloßen Festhalten am Bestehenden ist niemandem mehr geholfen.
TEXT: Josef Stricker

Kommentar

Tourismuszonen im Grünen
Das Spiel mit der Landschaft

Bereits in der Gesetzgebungsphase zum neuen Raumordnungsgesetz „Raum und Landschaft“ warnte der Heimatpflegeverband davor, dass die lange Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes 2020 Tür und Tor für „Unmengen an spekulativen Vorarbeiten und vollendeten Tatsachen“ öffnet. Dies bewahrheitet sich nun in einer Vielzahl von Fällen, wie Heimatpflegeverband und Dachverband für Natur- und Umweltschutz kürzlich aufzeigten.
Der Tourismus in Südtirol boomt. Was Touristen in Südtirol nach wie vor suchen ist eine typische und unberührte Kultur- und Naturlandschaft. Sie ist das Aushängeschild des Landes und eine der Hauptquellen für die gute Lebensqualität der Einheimischen.
Doch zurzeit erlebt Südtirol einen massiven Ausbau der touristischen Infrastruktur, der diese einzigartige Kultur- und Naturlandschaft nachhaltig verändern wird und zwar nicht zum Besseren. Es ist Zeit die Strategie des touristischen Ausbaus zu überdenken.
Der Tourismus boomt – Aber keine vollständige Nutzung des Bettenpotentials
Südtirol nimmt unter den touristisch hoch entwickelten Zentralalpenregionen eine absolute Spitzenposition ein. Der Tourismusintensitätsindex, das heißt die Übernachtungen im Verhältnis zur Wohnbevölkerung, liegt in Südtirol bei 13,3 und ist damit doppelt so hoch wie der Durchschnitt.
Sogar absolute Tourismusmagneten wie Tirol und Salzburg werden übertroffen. Auch bei der Anzahl der verfügbaren Gästebetten ist Südtirol Branchenprimus. Während in den touristisch hoch entwickelten Zentralalpenregionen 12,3 Betten pro Quadratkilometer zur Verfügung stehen, sind es in Südtirol 20,7. Das wird von keiner anderen Region übertroffen. Nur bei der Auslastung der Betten muss sich Südtirol dem Bundesland Tirol knapp geschlagen geben, das heißt es besteht keine vollständige Nutzung des Bettenpotenzials. Es gibt also keine unmittelbare Notwendigkeit für eine Aufstockung der Gästebettenzahl.
Touristisch schwach entwickeltes Gebiet?
Trotz dieser beindruckenden Zahlen bewertet die Südtiroler Landesregierung mehr als die Hälfte der Südtiroler Fraktionen als touristisch schwach entwickelte Gebiete. Nur wenige Gemeinden, wie zum Beispiel Dorf Tirol, Meran, Gröden und das Gadertal werden als stark entwickelt eingeordnet. Die sogenannten Tourismusentwicklungskonzepte der letzten Jahre erlauben in vielen Gemeinden die Ausweitung der Bettenzahl in bestehenden Betrieben und zudem die Errichtung neuer Hotels und gastgewerblicher Unternehmen.
Damit fördert die Landesregierung den massiven Ausbau von touristischen Einrichtungen und die Ausweisung neuer Tourismuszonen.
Torschlusspanik vor dem Inkrafttreten der neuen Raumordnung
Bereits in der Gesetzgebungsphase zum neuen Raumordnungsgesetz warnten der Heimatpflegeverband und der Dachverband davor, dass die lange Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes 2020 Tür und Tor für „Unmengen an spekulativen Vorarbeiten und vollendeten Tatsachen“ öffnet. Die Entwicklung der letzten Monate zeigt nun, dass genau das eintritt, wie die vielen geplanten und genehmigten Tourismuszonen und Projekte zeigen. In ganz Südtirol sprießen die Zonen für touristische Einrichtungen aus dem Boden, raumplanerische Werkzeuge, wie Ensembleschutz und Bannzonen, sowie Gutachten von Fachkommissionen werden dabei vielfach geflissentlich ignoriert.
Keine Besserung mit dem neuen Raumordnungsgesetz
Doch auch die neue Raumordnung verspricht keine Verbesserung der Situation. Die 1997 eingeführte Bettenobergrenze wird ersatzlos gestrichen und damit dem grenzenlosen Ausbau die Tür geöffnet. Bestehende Tourismusbetriebe können auch weiterhin erweitert werden, auch außerhalb der Siedlungsgrenzen. Und neue Tourismuszonen können auch weiterhin mitten im Grün, außerhalb von Siedlungen ausgewiesen werden. Mit dieser Politik des maßlosen Ausbaus wird Südtirol mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert.
Mit dem Tourismus boomt auch der Bodenverbrauch
In den letzten fünf Jahren ist die Gesamtfläche der Zonen für touristische Einrichtungen in Südtirol um unglaubliche 46 Prozent gestiegen. Aus 261 Hektar im Jahr 2013 wurden 381 Hektar 2018, Tendenz steigend. Diese Entwicklung widerspricht diametral dem geltenden Landesentwicklungs- und Raumordnungsplan (LEROP) der feststellt, „dass Knappheit an Boden und Schonung der Umwelt die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen und politischen Handelns bleiben“ sollen. In den letzten Jahren werden verstärkt Tourismuszonen für große Hotels mit einer hohen Bettenanzahl im Vier- und Fünf-Sterne-Bereich ausgewiesen. Das dafür notwendige Raumprogramm hat einen enormen Platzbedarf. Sogenannte Hoteldörfer, die in der Bewerbung oft als besonders naturnahe und nachhaltig propagiert werden, verbrauchen ausgedehnte Landschaftsflächen und erfordern wegen ihrer abgelegenen Position oft aufwändige Zufahrtsstraßen und Infrastrukturen.
Ressourcenverbrauch und Verkehrszunahme
Mit dem Bodenverbrauch einher geht ein massiver Ressourcenhunger großer Hotelanlagen. Das Müllaufkommen und der Stromverbrauch von Tourismushochburgen liegen deutlich über dem Durchschnitt. Der Verbrauch von Wasser für Wellnessoasen und Hotelbetrieb ist exorbitant. Der Verkehrskollaps auf vielen Straßen in der Hochsaison zeigt auf, dass die Kapazitätsobergrenze vielfach bereits erreicht ist. Der Wille zur Optimierung der öffentlichen Verkehrsmittel ist zwar vorhanden, hinkt aber doch oft der Entwicklung im Tourismus und anderer Wirtschaftszweige hinterher. Alternative Verkehrskonzepte für Touristen haben meistens nur Orchideenstatus.
Landschaft: Ein sensibles Gut
Die Eurac-Studie Zukunft Tourismus Südtirol 2030 bestätigt, dass die allermeisten Internet-Suchanfragen von Touristen in Zusammenhang mit Südtirol attraktive Landschaft zum Thema haben. Gleichzeitig ist das Hauptwerbemotiv von Tourismusbetreibenden ebenso die schöne Landschaft Südtirols. Und das mit gutem Grund, jeder Südtiroler wird das bestätigen können. Die einzigartige Kultur- und Naturlandschaft ist eine der Hauptquellen für die gute Lebensqualität der Südtiroler Gemeinden.
Doch diese Einzigartigkeit ist ein hohes Gut, das es zu pflegen gilt. Der Architekt Peter Zumthor bringt es auf den Punkt, wenn er sagt „Zersiedelung ist für mich ein Ausdruck von Mangel, nämlich Mangel an Landschaft.“ Mit dem massiven Ausbau der touristischen Flächen, den wir zurzeit erleben passiert aber genau das. Die Landschaft wird auf Kosten kurzfristiger Gewinnmaximierung zersiedelt. Der beliebige Bau von touristischer Infrastruktur auf der grünen Wiese, vielfach in exponierter Lage und außerhalb der Siedlungsgrenzen ist also in zweierlei Hinsicht schädlich: Er mindert nicht nur die Lebensqualität aller Südtiroler sondern nimmt auch auf lange Sicht dem Tourismus selbst die wichtigste Grundlage.
Es ist Zeit die Strategie des touristischen Ausbaus
zu überdenken
Der Tourismus ist eine tragende Kraft der Südtiroler Wirtschaft. Damit das auch so bleibt und gleichzeitig die Lebensqualität aller Südtiroler in einer typischen Kultur- und Naturlandschaft erhalten bleibt, muss die Strategie der touristischen Entwicklung in Südtirol überdacht werden.
Dem „Verschenken“ von Baukubatur an Touristiker auf der grünen Wiese durch die Gemeinden und die Landesregierung muss politisch ein Riegel vorgeschoben werden. Auch ohne die Ausweisung neuer Tourismuszonen im Grünen können Tourismusbetriebe, falls notwendig, behutsam erweitert werden. Gerade der Leerstand in vielen Dorfzentren bietet attraktive Angebote in historischen Gebäuden.
Weiters wäre es sinnvoll eine umfassende Umweltbilanz für Hotels einzuführen. Tourismusbetriebe hätten dadurch die Möglichkeit mit einem nachhaltigen Umgang mit Landschaft und Ressourcen sowie einem zukunftsträchtigen Erreichbarkeitskonzept zu werben. In Deutschland, nach wie vor das Hauptherkunftsland Südtiroler Touristen, sorgen sich laut der aktuellen Ausgabe des Wochenmagazins Der Spiegel drei Viertel der Bevölkerung um die Zukunft des Planeten. Immer mehr Menschen wünschen sich in allen Lebensbereichen eine nachhaltigere Art des Wirtschaftens. Dazu gehört auch der Urlaub. Diese wachsende Zielgruppe könnte mit einer solchen Umweltbilanz angesprochen werden.