Kommentar
Arbeiterloses Südtirol?
Warum es wichtig ist, den Fachkräftemangel zu verstehen
Ingrid Kofler und Harald Pechlander Eurac Research
Hohe Lebenshaltungskosten, ein geringes Lohnniveau, fehlende Karrieremöglichkeiten, hohe Immobilienpreise, die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die schlechte Erreichbarkeit: all diese Faktoren schwächen Südtirol im globalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Die hohe Lebensqualität alleine kann diese Punkte nicht ausgleichen. Um die Dynamiken des zukünftigen Arbeitsmarktes nicht nur zu verstehen, sondern auch geeignete Maßnahmen zu treffen, müssen alle Bereiche der Gesellschaft zusammenarbeiten, denn: Arbeit ist ein Querschnittsthema.
Hochqualifizierte und Hochkreative leisten einen zentralen Beitrag für eine wissensbasierte Wirtschaft. Die Diskussion um diese fehlenden Arbeitskräfte, beziehungsweise der Bedarf an Fachkräften in verschiedenen Branchen ist auch in Südtirol nichts Neues. Die rasanten Veränderungen, die vor allem durch die Globalisierung, die Digitalisierung und den demografischen Wandel angetrieben werden, stellen das Land aber vor wieder neue Herausforderungen. Die Schwierigkeit, (hoch)qualifizierte Arbeitskräfte zu halten, sie ins Land zurückzuholen oder von außen in die Region zu bringen, wächst.
TEXT: Ingrid Kofler und Harald Pechlaner
Wettbewerbsfähigkeit: Südtirol im europäischen Vergleich der Regionen weit abgeschlagen
Betrachtet man verschiedenste Rankings, scheint Südtirol beinahe erfolgsverwöhnt. In Sachen Lebensqualität und Wohlstand gilt es als Modellregion. Auch die Arbeitslosenquote liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Der European Regions’ Talent Competitiveness Index, den das Center for Advanced Studies von Eurac Research in Zusammenarbeit mit dem WIFO der Handelskammer und IDM Südtirol im Rahmen der Studie „The best place for Talents“ berechnet hat, zeichnet jedoch ein weniger rosiges Bild. Südtirol positioniert sich in diesem Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit auf europäischer Ebene weit abgeschlagen. Dabei wurde eine Vielzahl von Aspekten herangezogen, darunter Wirtschaft, Lebensqualität, allgemeine und berufliche Bildung, Erreichbarkeit und Lebenshaltungskosten. Zwar schneidet Südtirol in den Dimensionen „anziehen“ (z.B. hohe Lebensqualität, BIP pro Kopf) und „halten“ (z.B. hohe Sicherheit) gut ab, zeigt sich aber bei „ermöglichen“ (z.B. Investitionen in Forschung und Entwicklung, keine globale Konzerne), „wachsen“ (niedrige Inskriptionsquote in Universitäten, keine Top-Universität) und „be global“ (geringer Anteil an Personen mit universitärer Ausbildung, eingeschränkter Zugang zu Passagierflügen) schwach.
Technologisierung, demografischer Wandel und Migration
Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird von drei zentralen Faktoren geprägt sein: Technologisierung, demografischer Wandel und Migration. Digitalisierung und Automatisierung werden die Berufsbilder grundlegend verändern. Bestehende Arbeitsplätze fallen weg, andere kommen neu hinzu. Bald schon könnten viele Tätigkeiten durch smarte Arbeitsformen ausgeführt werden. Der Anteil der über 50-Jährigen dominiert den Südtiroler Arbeitsmarkt. Gleichzeitig verlassen in keiner anderen Region Italiens mehr junge, hochqualifizierte Menschen das Land, als in der Provinz Bozen, was dafür sorgt, dass der Fachkräftemangel immer mehr Branchen betrifft. Dieser ließe sich durch Migration zwar ausgleichen, doch werden vorwiegend billige Arbeitskräfte – vielfach ohne fundierte Ausbildung – aus dem Ausland geholt. Das Lohnniveau bleibt dadurch tief, was wiederum einer der Hauptgründe für die Abwanderung junger Südtiroler ist und die Provinz wenig reizvoll für Talente aus dem Ausland macht.
Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen müssen intensiviert werden
Internationale Expertinnen und Experten weisen auf eine Verschiebung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt hin. Es sind zunehmend die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bestimmen, welche Arbeit sie auswählen und welche nicht. Um Südtirols Attraktivität im Wettbewerb um Fachkräfte zu steigern, gilt es deshalb nicht nur einen Arbeitsplatz zu bieten. Es müssen Maßnahmen für leistbares Wohnen gesetzt und eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeit ermöglicht werden. Im Bereich der Aus- und Weiterbildung muss Südtirol gehörig zulegen. Die Erreichbarkeit und die Anbindung – und das ist für Südtirol ein besonders wichtiger Punkt – spielen bereits jetzt bei der Standortwahl für Talente eine zentrale Rolle und werden das in Zukunft noch viel mehr sein.TEXT: Ingrid Kofler und Harald Pechlaner