Thema

Chance für Neues ergreifen

Die Coronakrise hat Veränderungen möglich gemacht
Die Coronakrise hat gezeigt, dass es ein gut ausgestattetes, öffentliches Gesundheitswesen braucht.
In jeder Krise stecken auch Chancen. Die Coronakrise hat gezeigt, was alles in kürzester Zeit möglich ist: Entschleunigung, Erholung der Umwelt, Nachbarschaftshilfe und Solidarität ... auf einmal veränderte sich so viel. Und aus der Krise können auch wertvolle Lehren gezogen werden. Zum Beispiel, dass das Sparen und Wegrationalisieren im Gesundheitswesen nicht der richtige Weg war.
WERNER STEINER
KVW Landesvorsitzender
Die vergangenen Monate haben uns von einem Tag auf den anderen nie denkbare Ereignisse beschert. Wer hätte es sich jemals vorstellen können, dass die Wirtschaft von einem Tag auf den anderen still steht und in eine kaum lösbar scheinende Schieflage gerät? Was hätten wir gesagt, wenn uns jemand vorausgesagt hätte, dass wir uns nicht mehr aus dem Haus bewegen dürfen, dass wir nicht mehr am Konsum teilhaben können, so wie wir es gewohnt sind, dass wir mit Mund- und Nasenschutz herumlaufen würden. Wahrscheinlich wäre man als Schwarzmaler und Fantast angesehen worden.
Neuer Stellenwert für Solidarität
Nun ist es aber tatsächlich so eingetreten und wir konnten feststellen, dass alles, was wir in den vergangenen Jahren eher nachlässig behandelt hatten, plötzlich von großer Bedeutung geworden ist. Die Solidarität mit unserem Nächsten hat sich in vielfältiger Weise aufgebaut: ich denke an die Einkaufsdienste für Menschen der Risikogruppen, an gegenseitige Hilfeleistungen in schwierigen Situationen und an großes Verständnis für die vielen Berufsgruppen, die unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit ihre Arbeit vom Supermarkt bis ins Krankenhaus weiter verrichten mussten. Diese Aufwertung der Solidarität hat uns allen gutgetan. Wir durften erleben, dass es nicht nur ein Inhalt der Sonntagsreden ist, nein, wenn es uns wirklich schlecht geht, halten wir zusammen. Der vom KVW oft angeprangerte starke Individualismus auf Kosten der Allgemeinheit hat einen Dämpfer erhalten. Corona hat uns gezeigt, dass wir die globalen Probleme nur gemeinsam lösen können. Allerdings haben wir auf europäischer Ebene auch schon wieder Schattenseiten entdecken können, da einzelne Staaten dann doch wieder ihre Einzelinteressen vor das Gesamtinteresse gestellt haben.
Einfache und nahe Dinge mehr schätzen
Durch das Virus wurden wir zu einem Umdenken gezwungen. Nicht mehr die große, weite Welt war unser Ziel – jetzt konnte es auch die nähere Umgebung sein. Spaziergänge im engeren Umkreis mit Verzicht auf das Auto hat gar bei manchem eine völlig neue Lebensqualität aufkeimen lassen. Wertschätzung für die eigene Heimat mit bewusstem Hinschauen auf die Schönheit unserer Natur war für viele schon lange nicht mehr geläufig. Jetzt liegt es an uns, diese Chance zur Neustrukturierung zu erfassen und positiv für unsere Zukunft zu nutzen.
Leistbares Gesundheitswesen für alle
Viele Menschen haben ihr Leben verloren. Die Ursachen dafür sind noch wenig erforscht und es gibt eine ganze Reihe von Theorien dazu. Es ist schwer, die richtige herauszufiltern. Tatsache bleibt, dass Menschen gestorben sind und dass unser Gesundheitssystem Schwachstellen aufweist. In den vergangenen Jahren haben wir als KVW immer wieder darauf hingewiesen, dass Gesundheit für alle unser oberstes Ziel sein muss. Die Auslagerung von finanziell attraktiven Diensten in den privaten Bereich und das gleichzeitige Aushungern wichtiger Stationen, die für die Gesundheit aller nötig sind, darf nicht weiter vorangetrieben werden. Gesundheit muss für jeden Menschen leistbar bleiben und dafür haben wir uns als Sozialverband auch eingesetzt.
Wir haben die Chance zum Umdenken – nutzen wir sie für kommende Generationen.
TEXT: Werner Steiner

Thema

Covid-19 und die Folgen: Gesundheit versus Wirtschaft

Diskussion differenziert führen
Die Krise hat gezeigt, welche Berufe im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig sind: zum Beispiel Pflege- und Reinigungskräfte und Verkäuferinnen
Ein Grundprinzip der katholischen Soziallehre lautet, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt.
MARTIN M. LINTNER
Professor für Moraltheologie an der
Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen
In der akuten Phase der Covid-19-Pandemie wurden zum Schutz der Gesundheit der Einzelnen, aber auch des Gesundheitssystems als Ganzem strenge Maßnahmen ergriffen, die nicht nur individuelle Freiheiten eingeschränkt, sondern auch weitreichende wirtschaftliche und soziale Folgen haben. Ganze Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens wurden wochenlang so gut wie lahm gelegt. Die Forderung, sofort nach Überwindung des Höhepunkts der Pandemie das „System wieder hochzufahren“, war deshalb mehr als berechtigt.
Zwischen Schutz des Einzelnen und Blick aufs Gemeinwohl
Die Diskussion, ob dies zum Preis der Gesundheit, im Extremfall auch des Lebens von Menschen geschehen dürfe, muss aus ethischer Perspektive jedoch präzisiert und differenziert geführt werden. Einerseits darf die Gesellschaft nichts tun, was unmittelbar Gesundheit und Leben eines Menschen gefährden würde. Andererseits ist die Gesellschaft aber auch nicht dazu verpflichtet, alles zu tun, um den einzelnen Bürger zu schützen. Denn: Erstens hat jeder Bürger und jede Bürgerin eine Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit wie auch für die Gesundheit der Menschen, denen er bzw. sie begegnet; zweitens müssen die politisch Verantwortlichen immer auch das Gemeinwohl in den Blick nehmen. Sie müssen im Sinne des Gerechtigkeitsprinzips abwägen, welches die Folgen von Maßnahmen auf alle Mitglieder einer Gesellschaft sind. Es zeichnet sich ab, dass die Präventionsbestimmungen gegen die Ausbreitung des Coronavirus weitereichende negative soziale und ökonomische Folgen haben werden. Das muss bei der Frage, wie weit die Gesellschaft zum Schutz ihrer einzelnen Mitglieder in die Pflicht genommen werden kann, berücksichtigt werden, wobei – das sei wiederholt – die Gesellschaft unter keinen Umständen zum Schutz des Gemeinwohls Gesundheit und Leben einzelner Bürger direkt gefährden darf. Wie schwierig und komplex in konkreten Krisensituationen diese Abwägung ist, hat die Covid-19-Krise gezeigt.
Im Gesundheitswesen sparen ist sparen am falschen Ort
Mir scheint wichtig, dass wir die Covid-19-Krise auch zum Anlass nehmen, einige grundsätzliche Fragen zu bedenken. Die Devise „Zurück wie vorher“ oder „Weiter so wie bisher“ ist fehl am Platz. Ein paar Aspekte möchte ich nennen:
Es hat sich gezeigt, dass sich Einsparungen im Gesundheitswesen im Notfall äußerst negativ für die Patienten und für die gesamte Gesellschaft auswirken. Hier zu sparen bedeutet Sparen am falschen Ort. Auch ist deutlich geworden, welche Berufe sich in dieser Krise als systemrelevant und (im wahrsten Sinn des Wortes lebensnotwendig) erwiesen haben: Es sind Berufe, die ansonsten oft wenig soziales Ansehen genießen und auch entsprechend niedrig entlohnt werden: von den Pflege- und Reinigungskräften in den Krankenhäusern bis hin zu den Verkäuferinnen im Supermarkt. Es war berührend zu sehen, wie an vielen Orten immer wieder Menschen spontan zu einer bestimmten Stunde an ihren Fenstern und auf ihren Balkonen diesen Menschen applaudiert haben, aber vom Applaus allein leben sie nicht. Die hohe Bedeutung ihrer Arbeit muss sich auch in der sozialen Anerkennung und Lohnskala abbilden. Auch ist auffallend, dass in den Pflege-, Reinigungs- und Verkaufsbereichen die Arbeit mehrheitlich von Frauen, oft von ausländischen Arbeitskräften geleistet werden. Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund gehören aber nach wie vor zu den vulnerablen und benachteiligten sozialen Gruppen. Hier wird eine eklatante Schieflage deutlich.
Wirtschaft sozial- und umweltverträglich gestalten
Auch glaube ich, dass wir uns als Gesellschaft intensiv damit auseinandersetzen müssen, wie die Wirtschaft so gestaltet werden kann, dass sie sozial- und umweltverträglich ist. Es ist an der Zeit, die positiven und negativen Folgen zum Beispiel der Globalisierung aufmerksam zu analysieren und dort, wo die Covid-Krise Schwachstellen gezeigt hat, Korrekturen vorzunehmen, beispielsweise in der Versorgung durch medizinische Ausrüstung.
Es braucht eine Grund­absicherung für jede und jeden
Schließlich erachte ich es als ein Gebot der Stunde, über eine Form von Grundabsicherung jedes Bürgers, jeder Bürgerin und jeder Familie nachzudenken. Aufgrund der Covid-19-Maßnahmen haben viele Menschen die Arbeit verloren und müssen schwere ökonomische Folgen in Kauf nehmen. Langfristig – davon bin ich überzeugt – werden wir Armut und neue soziale Schieflagen mit all den negativen Folgen für die gesamte Gesellschaft, nicht nur für die von Armut oder Arbeitslosigkeit Betroffenen, nur dann verhindern können, indem wir eine finanzielle Grundabsicherung, die nicht allein von der Erwerbsarbeit abhängt, garantieren.

TEXT: Martin M. Lintner