Thema

Covid-19 und die Folgen: Gesundheit versus Wirtschaft

Diskussion differenziert führen
Die Krise hat gezeigt, welche Berufe im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig sind: zum Beispiel Pflege- und Reinigungskräfte und Verkäuferinnen
Ein Grundprinzip der katholischen Soziallehre lautet, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt.
MARTIN M. LINTNER
Professor für Moraltheologie an der
Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen
In der akuten Phase der Covid-19-Pandemie wurden zum Schutz der Gesundheit der Einzelnen, aber auch des Gesundheitssystems als Ganzem strenge Maßnahmen ergriffen, die nicht nur individuelle Freiheiten eingeschränkt, sondern auch weitreichende wirtschaftliche und soziale Folgen haben. Ganze Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens wurden wochenlang so gut wie lahm gelegt. Die Forderung, sofort nach Überwindung des Höhepunkts der Pandemie das „System wieder hochzufahren“, war deshalb mehr als berechtigt.
Zwischen Schutz des Einzelnen und Blick aufs Gemeinwohl
Die Diskussion, ob dies zum Preis der Gesundheit, im Extremfall auch des Lebens von Menschen geschehen dürfe, muss aus ethischer Perspektive jedoch präzisiert und differenziert geführt werden. Einerseits darf die Gesellschaft nichts tun, was unmittelbar Gesundheit und Leben eines Menschen gefährden würde. Andererseits ist die Gesellschaft aber auch nicht dazu verpflichtet, alles zu tun, um den einzelnen Bürger zu schützen. Denn: Erstens hat jeder Bürger und jede Bürgerin eine Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit wie auch für die Gesundheit der Menschen, denen er bzw. sie begegnet; zweitens müssen die politisch Verantwortlichen immer auch das Gemeinwohl in den Blick nehmen. Sie müssen im Sinne des Gerechtigkeitsprinzips abwägen, welches die Folgen von Maßnahmen auf alle Mitglieder einer Gesellschaft sind. Es zeichnet sich ab, dass die Präventionsbestimmungen gegen die Ausbreitung des Coronavirus weitereichende negative soziale und ökonomische Folgen haben werden. Das muss bei der Frage, wie weit die Gesellschaft zum Schutz ihrer einzelnen Mitglieder in die Pflicht genommen werden kann, berücksichtigt werden, wobei – das sei wiederholt – die Gesellschaft unter keinen Umständen zum Schutz des Gemeinwohls Gesundheit und Leben einzelner Bürger direkt gefährden darf. Wie schwierig und komplex in konkreten Krisensituationen diese Abwägung ist, hat die Covid-19-Krise gezeigt.
Im Gesundheitswesen sparen ist sparen am falschen Ort
Mir scheint wichtig, dass wir die Covid-19-Krise auch zum Anlass nehmen, einige grundsätzliche Fragen zu bedenken. Die Devise „Zurück wie vorher“ oder „Weiter so wie bisher“ ist fehl am Platz. Ein paar Aspekte möchte ich nennen:
Es hat sich gezeigt, dass sich Einsparungen im Gesundheitswesen im Notfall äußerst negativ für die Patienten und für die gesamte Gesellschaft auswirken. Hier zu sparen bedeutet Sparen am falschen Ort. Auch ist deutlich geworden, welche Berufe sich in dieser Krise als systemrelevant und (im wahrsten Sinn des Wortes lebensnotwendig) erwiesen haben: Es sind Berufe, die ansonsten oft wenig soziales Ansehen genießen und auch entsprechend niedrig entlohnt werden: von den Pflege- und Reinigungskräften in den Krankenhäusern bis hin zu den Verkäuferinnen im Supermarkt. Es war berührend zu sehen, wie an vielen Orten immer wieder Menschen spontan zu einer bestimmten Stunde an ihren Fenstern und auf ihren Balkonen diesen Menschen applaudiert haben, aber vom Applaus allein leben sie nicht. Die hohe Bedeutung ihrer Arbeit muss sich auch in der sozialen Anerkennung und Lohnskala abbilden. Auch ist auffallend, dass in den Pflege-, Reinigungs- und Verkaufsbereichen die Arbeit mehrheitlich von Frauen, oft von ausländischen Arbeitskräften geleistet werden. Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund gehören aber nach wie vor zu den vulnerablen und benachteiligten sozialen Gruppen. Hier wird eine eklatante Schieflage deutlich.
Wirtschaft sozial- und umweltverträglich gestalten
Auch glaube ich, dass wir uns als Gesellschaft intensiv damit auseinandersetzen müssen, wie die Wirtschaft so gestaltet werden kann, dass sie sozial- und umweltverträglich ist. Es ist an der Zeit, die positiven und negativen Folgen zum Beispiel der Globalisierung aufmerksam zu analysieren und dort, wo die Covid-Krise Schwachstellen gezeigt hat, Korrekturen vorzunehmen, beispielsweise in der Versorgung durch medizinische Ausrüstung.
Es braucht eine Grund­absicherung für jede und jeden
Schließlich erachte ich es als ein Gebot der Stunde, über eine Form von Grundabsicherung jedes Bürgers, jeder Bürgerin und jeder Familie nachzudenken. Aufgrund der Covid-19-Maßnahmen haben viele Menschen die Arbeit verloren und müssen schwere ökonomische Folgen in Kauf nehmen. Langfristig – davon bin ich überzeugt – werden wir Armut und neue soziale Schieflagen mit all den negativen Folgen für die gesamte Gesellschaft, nicht nur für die von Armut oder Arbeitslosigkeit Betroffenen, nur dann verhindern können, indem wir eine finanzielle Grundabsicherung, die nicht allein von der Erwerbsarbeit abhängt, garantieren.

TEXT: Martin M. Lintner

Kommentar

Ausgesetzte Demokratie

Keine Debatte, keine Kontroversen: Landesräte und Experten reden
Brigitte Foppa, Landtags­abgeordnete
Es war irgendwann mitten im Lockdown, während einer Videokonferenz. Die Bilder der verschiedenen Teilnehmenden in ihren Rechtecken, sie erinnerten mich an etwas. In der Nacht ist es mir dann eingefallen. Der Eiswürfelbehälter in meinem Gefrierfach, die einzelnen Eiswürfen in ihren kleinen Rechtecken, das waren wir in dieser Zeit. Jede, jeder festgefroren in der Realität der eigenen vier Wände. Ein schreckliches Bild, ich weiß, aber genau so habe ich den Lockdown empfunden. Mittlerweile sehe ich auch Positives. Die Stille, die Erholung der Natur, die Verlangsamung, das waren sicherlich schöne Erfahrungen. Aber sie waren nicht verbunden. Die Beziehungen waren ausgesetzt. Und mit ihnen die Demokratie. Der Landtag war geschlossen, alle Entscheidungen lagen bei der Regierung. Das war in gewisser Weise nachvollziehbar, denn wenn es schnell gehen muss, dann müssen die Entscheidungswege abgekürzt werden. Schnell löste sich aber auch die Debatte auf. Es gab keine Kontroversen mehr. Im Radio sprachen die Experten und die Landesräte (ich verzichte bewusst auf die geschlechtergerechte Formulierung, denn es waren lauter Männer), die BürgerInnen durften nur noch Fragen stellen. Und die Hauptfrage war immer, in der einen oder anderen Form: „Darf ich das?“
Frage, ob ich das darf
Diese Infantilisierung hat mich sehr gesorgt. Von der Bürgerin, die eine Meinung hat, wurde man zum Kind, das um Erlaubnis fragt. Ich habe gemerkt, dass viele Menschen, wohl um den Freiheitsentzug besser auszuhalten, auf den Gehorsam gesetzt haben. Mir ist der Gehorsam immer suspekt. Als mündige Bürgerin verlange ich Regeln, die aus einer demokratischen Konfrontation entstanden und nachvollziehbar sind. Ich muss nicht einverstanden sein, aber die Ratio einer Regel muss ich verstehen können. Ich verzichte nicht gern auf ein Glas Wein, aber ich sehe ein, dass es meine Reaktionsfähigkeit beim Autofahren einschränkt. Während des Lockdown waren auch diese Mechanismen eingefroren. Wer konnte schon nachvollziehen, dass ein einsamer Spaziergänger im Wald gestraft wurde? Oder dass man nicht ins Nachbardorf zum Einkauf fahren durfte? Dass man in einigen Gemeinden einen Radius um die eigene Wohnung einhalten musste?
Eigenverantwortung wurde abgegeben
Von der eigentlichen Ratio, dass jeder und jede dazu beitragen muss, Ansteckungen zu vermeiden, kam man durch unsinnige Einzelregelungen und hartes Vorgehen immer weiter weg. Es wurde also zunehmend blinder Gehorsam abverlangt. führte denn auch zu klassischen Mechanismen der autoritären Gesellschaften. Die Eigenverantwortung wird abgegeben, Regelkonformismus ersetzt Solidarität, Denunziantentum macht sich breit.
Für die rebellischen Gemüter war es nicht von ungefähr viel schwerer dies auszuhalten.
TEXT: Brigitte Foppa