Thema

Ausgrenzung und Einsamkeit

An Gemeinschaften arbeiten, die niemand zurücklassen
Jemand ist arm, wenn er nicht genug Mittel hat, um menschenwürdig leben zu können. Dieses „leben“ umfasst viele Aspekte des menschlichen Daseins: die materiellen Dinge, das physische und psychische Wohlbefinden, die Beziehungen, die Spiritualität und alles das, was einer vollen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit dient.
PAOLO VALENTE
Direktor der Caritas der Diözese Bozen-Brixen
Armut bekämpft man nicht, indem man einfach nur die Brieftasche öffnet. Wichtig ist es auch, die Ohren zum Zuhören aufzumachen, die Augen zur Beobachtung, das eigene Herz, um Menschen begleiten zu können. Jemandem etwas zu essen zu geben, bedeutet nicht einfach nur, Essen zu verteilen. Es hat vielmehr mit „teilen“ zu tun.
Viele Formen der Armut haben ihren Ursprung in etwas, das im Bereich der Beziehungen kaputt gegangen ist. Das beginnt schon in unseren Familien. Wenn dort etwas schiefläuft, hat das zur Folge, dass Mütter alleine sind, ebenso wie Väter und Kinder. Fehlt das familiäre Netz, kann das auch zu materieller Armut führen: finanzielle Knappheit solange die Kinder nicht für sich selbst sorgen können, Probleme mit der Wohnung, aber auch Bildungsarmut, die nicht nur Auswirkungen auf die Betroffenen hat, sondern auf die ganze Gesellschaft.
Heuer ist die materielle Armut aufgrund der schwierigen Monate, die hinter uns liegen, überall in Südtirol angestiegen. Die Caritas hat dies in ihren verschiedenen Diensten, besonders in den Beratungsstellen, beobachtet. Seit März etwa wurden mehr finanzielle Beihilfen an Hilfesuchende als sonst gewährt. Immer, wenn es zu einer Krise kommt, in diesem Fall noch dazu so unvorhergesehen, sind es die ohnehin schon Schwächeren, für welche die Situation noch auswegloser wird. Die häufigsten Gründe für eine zusätzliche Verschuldung waren schon im Jahr 2019 Arbeitslosigkeit, zu geringe Löhne, aber auch Krankheiten, Abhängigkeiten und der Bruch von familiären Beziehungen.
Und noch einmal ist es der Mangel an einem ausreichenden sozialen Netz, der Armut hervorruft. Schulden kann man zwar auch im Nachhinein begleichen, besser ist es aber, ihnen schon präventiv zuvorzukommen. Das bedeutet nicht nur die Menschen dahingehend zu erziehen, dass sie ihre eigenen Finanzen oder den eigenen Konsum besser verwalten, sondern die Beziehungen zwischen den Personen zu stärken und innerhalb der Gemeinschaften einen Sinn für Mitverantwortlichkeit zu entwickeln.
Ein Zeichen für eine nicht richtig funktionierende Gemeinschaft ist häufig die Tatsache, dass die Menschen keine Wohnung haben und sich schwertun, eine solche zu finden bzw. die Miete nicht bezahlen können, weil sie schlichtweg zu hoch ist. Dabei hat jeder das Recht auf ein Zuhause. Dieses gilt inzwischen auch als eine wichtige Voraussetzung für die persönliche Entwicklung eines Menschen. Dabei beschränkt sich ein Zuhause nicht nur auf einen Vertrag zwischen Mieter und Vermieter. Es setzt eine aufmerksame und einladende Gemeinschaft voraus.
Das Wohnungsproblem wird häufig sektoral angegangen. Dabei bräuchte es eine umfassendere Sicht auf die Stadt, die Nachbarschaft, den Menschen und ihre Beziehungen.
Der ungezügelte Individualismus, der unsere Gesellschaften in diesen Jahrzehnten charakterisiert, führt zu Ausgrenzung und Einsamkeit. Ausgrenzung ist die Haltung, Menschen, die wir nicht sehen wollen, „an den Rand“ zu drängen. Dies ist, was wir oft tun, wenn wir soziale Dienste in die Peripherie verlegen, wo niemand sie sieht. Es ist das, was Papst Franziskus eine „Kultur des Wegwerfens“ nennt.
Die Wurzel der Einsamkeit ist die Überzeugung, dass jeder sich selbst genügt, dass jemand meint, ohne andere leben zu können. Es ist ein falscher Glaube, der jeden Tag durch die Tatsachen widerlegt wird.
Ein wirksamer Weg zur Bekämpfung von Armut ist genau der: an der Entwicklung von Gemeinschaften arbeiten, in denen niemand allein gelassen und niemand zurückgelassen wird.
TEXT: Paolo Valente

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Wohlfahrt von morgen

Das Netz der sozialen Sicherung in Südtirol
Corona stellt auch das System von Sozialleistungen vor eine Belastungsprobe. Dies erfordert politischen Mut zu mehr Wissen
und zu Neugestaltung.
STEFAN PERINI
Volkswirt. Seit 2012 leitet er das Arbeitsförderungsinstitut Afi.
Das, was wir Südtiroler heute als Wohlfahrtsystem kennen, ist ein Schmelztiegel, in dem Elemente aus dem nordeuropäischen Raum und der südeuropäischen Kultur zusammentreffen. Aus dem Süden kommen die umfassende, steuerfinanzierte Sanität, das öffentliche und auf Inklusion ausgerichtete Schulwesen, die Arbeitseingliederung von Personen mit Behinderung. Aus dem nördlichen Einflussgebiet die Pflegesicherung, das finanzielle Mindesteinkommen, verschiedene Elemente der Vereinbarkeit Familie und Beruf. Das zweite Autonomiestatut markiert einen Wendepunkt. Das Land Südtirol wird zum Hauptakteur des lokalen Welfare. Noch 1972 erlässt das Land ein eigenes Gesetz zum sozialen und geförderten Wohnbau. Mindestsicherung, Invalidenrenten, Zusatzvorsorge, Pflegegeld, EEVE, Familiengesetz werden in den Jahrzehnten folgen.
Risse im sozialen Auffangnetz
Das Netz der sozialen Sicherung funktioniert in Südtirol wesentlich besser als in anderen Realitäten in Italien. Hand aufs Herz, seien wir anerkennend für das, was wir haben! Nun stellt Corona auch unser Sozialsystem auf eine harte Bewährungsprobe. Eine nicht unwesentliche Zahl an Personen fällt durch den Rost - trotz intensiver Bemühungen von Seiten der politischen Entscheidungsträger, das soziale Auffangnetz breiter zu spannen. Besonders hart trifft es jene, die schon vor der Krise am Rande von Arbeitsmarkt und Gesellschaft standen oder Gefahr laufen, nach Aufhebung des Kündigungsverbots aus dem Arbeitsmarkt aussortiert zu werden: Beschäftigte auf Zeit, Saisonarbeitskräfte, Langzeitprekäre, Leiharbeiter, Arbeiter auf Abruf, Neueinsteiger – überdurchschnittlich stark betroffen sind Jugendliche und Frauen.
Lernen von den Besten
Soziale Kohäsion und Armutsbekämpfung werden 2021 ganz oben auf der politischen Agenda stehen müssen, will man verhindern, dass die sich die soziale Kluft auch in Südtirol öffnet. Nicht immer wird es möglich und sinnvoll sein, Erfahrungen aus dem Ausland eins zu eins auf Südtirol zu übertragen. Doch auch Einigelung und zwanghaftes Festhalten am eigenen System sind nicht die Lösung. Wie die Bertelsmann-Stiftung mit Zahlen belegt, sind die nordeuropäischen und skandinavischen Länder Vorreiter in Sachen soziale Gerechtigkeit. Der offene Blick auf diese Erfahrungen, eine gute Portion Neugierde und eine gewisse Selbstlosigkeit von politischen Entscheidungsträgern sind notwendig, will man erreichen, dass Südtirol den Qualitätssprung schafft.
Vom Dschungel zum System
Es gibt einen Veränderungswillen, der in den letzten Monaten in Ansätzen erkennbar ist. Über die Jahre hat sich ein regelrechter Dschungel an Wohlfahrtsleistungen herausgebildet, mit vielen ähnlichen Leistungen auf unterschiedlichen Ebenen (Staat/Region/Land), unterschiedlichen Zielgruppen (Familie/Einzelperson) und Zugangskriterien (mit/ohne Bedarfsprüfung). Da verliert man relativ schnell den Überblick. Eine „Landkarte des Wohlfahrtsstaates“ würde helfen – sie existiert aber höchstens in den Köpfen von erfahrenen Sachverständigen. Wir haben heute viele Teilexperten, aber wenig Systemdenker. Die Diskussion über gesellschaftliche Ziele ist verloren gegangen. Bereits vor Corona wurde die Kritik laut, wie zweckdienlich und treffsicher bestimmte Leistungen seien. Eine Evaluation der Wirksamkeit der Effekte von Maßnahmen wäre von Nutzen, doch eine solche – eine weitere Südtiroler Besonderheit – wurde nie gemacht. Wer fällt durch den Rost, wo gibt es Mehrfach-Bezieher von Leistungen? Mit einem Register der Leistungsempfänger ließe sich das leicht nachprüfen. Gibt es aber nicht. Noch nie hatten wir so viele Daten wie heute, und gleichzeitig noch nie so wenig Wissen. Die Datenbanken sind untereinander nicht vernetzt. Open data sollte das Gebot der Stunde sein – „Datenhorten“ lautet die reale Erfahrung von Forschungseinrichtungen. Auch dies wird Corona verändern: In Zeiten knapper werdender Ressourcen führt kein Weg daran vorbei, über mehr Wissen die Mittel besser einsetzen zu lernen.
TEXT: Stefan Perini