Thema
Wohlfahrt von morgen
Das Netz der sozialen Sicherung in Südtirol
Corona stellt auch das System von Sozialleistungen vor eine Belastungsprobe. Dies erfordert politischen Mut zu mehr Wissen
und zu Neugestaltung.
und zu Neugestaltung.
STEFAN PERINI
Volkswirt. Seit 2012 leitet er das Arbeitsförderungsinstitut Afi.
Volkswirt. Seit 2012 leitet er das Arbeitsförderungsinstitut Afi.
Das, was wir Südtiroler heute als Wohlfahrtsystem kennen, ist ein Schmelztiegel, in dem Elemente aus dem nordeuropäischen Raum und der südeuropäischen Kultur zusammentreffen. Aus dem Süden kommen die umfassende, steuerfinanzierte Sanität, das öffentliche und auf Inklusion ausgerichtete Schulwesen, die Arbeitseingliederung von Personen mit Behinderung. Aus dem nördlichen Einflussgebiet die Pflegesicherung, das finanzielle Mindesteinkommen, verschiedene Elemente der Vereinbarkeit Familie und Beruf. Das zweite Autonomiestatut markiert einen Wendepunkt. Das Land Südtirol wird zum Hauptakteur des lokalen Welfare. Noch 1972 erlässt das Land ein eigenes Gesetz zum sozialen und geförderten Wohnbau. Mindestsicherung, Invalidenrenten, Zusatzvorsorge, Pflegegeld, EEVE, Familiengesetz werden in den Jahrzehnten folgen.
TEXT: Stefan Perini
Risse im sozialen Auffangnetz
Das Netz der sozialen Sicherung funktioniert in Südtirol wesentlich besser als in anderen Realitäten in Italien. Hand aufs Herz, seien wir anerkennend für das, was wir haben! Nun stellt Corona auch unser Sozialsystem auf eine harte Bewährungsprobe. Eine nicht unwesentliche Zahl an Personen fällt durch den Rost - trotz intensiver Bemühungen von Seiten der politischen Entscheidungsträger, das soziale Auffangnetz breiter zu spannen. Besonders hart trifft es jene, die schon vor der Krise am Rande von Arbeitsmarkt und Gesellschaft standen oder Gefahr laufen, nach Aufhebung des Kündigungsverbots aus dem Arbeitsmarkt aussortiert zu werden: Beschäftigte auf Zeit, Saisonarbeitskräfte, Langzeitprekäre, Leiharbeiter, Arbeiter auf Abruf, Neueinsteiger – überdurchschnittlich stark betroffen sind Jugendliche und Frauen.
Lernen von den Besten
Soziale Kohäsion und Armutsbekämpfung werden 2021 ganz oben auf der politischen Agenda stehen müssen, will man verhindern, dass die sich die soziale Kluft auch in Südtirol öffnet. Nicht immer wird es möglich und sinnvoll sein, Erfahrungen aus dem Ausland eins zu eins auf Südtirol zu übertragen. Doch auch Einigelung und zwanghaftes Festhalten am eigenen System sind nicht die Lösung. Wie die Bertelsmann-Stiftung mit Zahlen belegt, sind die nordeuropäischen und skandinavischen Länder Vorreiter in Sachen soziale Gerechtigkeit. Der offene Blick auf diese Erfahrungen, eine gute Portion Neugierde und eine gewisse Selbstlosigkeit von politischen Entscheidungsträgern sind notwendig, will man erreichen, dass Südtirol den Qualitätssprung schafft.
Vom Dschungel zum System
Es gibt einen Veränderungswillen, der in den letzten Monaten in Ansätzen erkennbar ist. Über die Jahre hat sich ein regelrechter Dschungel an Wohlfahrtsleistungen herausgebildet, mit vielen ähnlichen Leistungen auf unterschiedlichen Ebenen (Staat/Region/Land), unterschiedlichen Zielgruppen (Familie/Einzelperson) und Zugangskriterien (mit/ohne Bedarfsprüfung). Da verliert man relativ schnell den Überblick. Eine „Landkarte des Wohlfahrtsstaates“ würde helfen – sie existiert aber höchstens in den Köpfen von erfahrenen Sachverständigen. Wir haben heute viele Teilexperten, aber wenig Systemdenker. Die Diskussion über gesellschaftliche Ziele ist verloren gegangen. Bereits vor Corona wurde die Kritik laut, wie zweckdienlich und treffsicher bestimmte Leistungen seien. Eine Evaluation der Wirksamkeit der Effekte von Maßnahmen wäre von Nutzen, doch eine solche – eine weitere Südtiroler Besonderheit – wurde nie gemacht. Wer fällt durch den Rost, wo gibt es Mehrfach-Bezieher von Leistungen? Mit einem Register der Leistungsempfänger ließe sich das leicht nachprüfen. Gibt es aber nicht. Noch nie hatten wir so viele Daten wie heute, und gleichzeitig noch nie so wenig Wissen. Die Datenbanken sind untereinander nicht vernetzt. Open data sollte das Gebot der Stunde sein – „Datenhorten“ lautet die reale Erfahrung von Forschungseinrichtungen. Auch dies wird Corona verändern: In Zeiten knapper werdender Ressourcen führt kein Weg daran vorbei, über mehr Wissen die Mittel besser einsetzen zu lernen.TEXT: Stefan Perini