KVW Aktuell

Zukunftspakt für Südtirol

Wir haben es in der Hand, den Wandel zu gestalten
In den ersten Monaten dieses Jahres 2020 haben wir erlebt, wie schnell sich unser Leben in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß verändert. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass die Politik in der Lage ist, in einer Krisensituation die volle Entscheidungsmacht in die Hand zu nehmen. Allen ist klar, dass jetzt dringend gehandelt werden muss. Es gilt, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben neu aufzubauen, und zwar wirklich krisenfest und zukunftsfähig. In unserer Verantwortung liegt es, jetzt die Weichen dafür zu stellen, dass unsere Kinder und Enkelkinder intakte Lebensräume, nachhaltige Versorgungssysteme und leistungsfähige Infrastrukturen vorfinden, ganz im Sinne der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen.
Eine Initiativgruppe von Bürger* innen hat ein Manifest zur Zukunft Südtirols präsentiert, das von Interessierten unterzeichnet werden kann. Es skizziert die Vision von einer lebenswerten und nachhaltigen Zukunft, die dank gemeinsamer Anstrengungen gesichert werden kann. Es geht um Weichenstellungen für Wirtschaftsentwicklung, gesellschaftliche Solidarität und Erhaltung des Lebensraums, die Vision soll Lust auf Zukunft machen und alle zu einer aktiven Gestaltung ermuntern. Im Kern ist es ein Aufruf zu einem Schulterschluss zwischen Politik, Wirtschaft und Bevölkerung, den Wandel konsensorientiert herbeizuführen, der notwendig ist, um auf lokaler Ebene die von UNO und EU angepeilten Klimaziele zu erreichen. „Wir haben es in der Hand, diesen Wandel erfolgreich zu gestalten“, betonte die Initiativgruppe. Von der Förderung der regionalen Kreislaufwirtschaft über den Schutz der Artenvielfalt bis hin zum Ziel der Klimaneutralität bis 2035 benennt das Manifest eine Reihe von Maßnahmen für das notwendige Umdenken in den Versorgungssystemen, im Konsum und im Umgang mit der Natur. Landesregierung und Landtag werden dazu eingeladen, einen Zukunftspakt mit der Bevölkerung und den Interessenvertreter*innen abzuschließen. Die Bevölkerung soll dabei die Möglichkeit erhalten, ihre Ideen einzubringen und die politischen Weichenstellungen mitzubestimmen. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann mit ihrer/seiner Unterschrift den Zukunftspakt online unterzeichnen: zukunftspakt-pattofuturo.org
Zukunftspakt zwischen Bürgern und politischen Vertretern
Das Manifest weist auf die Dringlichkeit der gemeinsamen Anstrengungen hin, die für die Planung und Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen nötig sind. Aus dieser Sorge aber auch aus der damit verbundenen Hoffnung heraus werden alle gewählten politischen Ver­treter*innen dazu eingeladen, einen Zukunftspakt mit den Bürgerinnen und Bürgern des Landes zu schließen.
Die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen
Kernpunkt dieses Paktes muss ein Nachhaltigkeitsplan sein, mit einem Zeithorizont von 10 bis 15 Jahren, der die Weichenstellungen in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung mit den ökologischen Erfordernissen abstimmt. Die Umsetzung muss kontinuierlich und transparent begleitet, überwacht und entsprechend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, Erfahrungswerten, Möglichkeiten und Bedürfnissen aktualisiert werden.
Die Entwicklung dieses Nachhaltigkeitsplanes soll öffentlich finanziert werden und Wissenschaftler*innen, Bürger*innen, Vertreter*innen von Interessengruppen und politische Entscheidungsträger*innen gleichermaßen einbeziehen. Der Entwicklungsprozess soll von einem unabhängigen Zukunftsrat begleitet werden. Dieser Rat arbeitet auf wissenschaftlichen Grundlagen und ist auch Garant dafür, dass sich die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und der Interessensgruppen aktiv einbringen können.
Die Initiativgruppe ruft dazu auf, die weitreichenden Möglichkeiten der politischen Autonomie zu nutzen, um in folgenden Bereichen gemeinsam die entscheidenden Schritte vom Wissen zum Wollen und vom Wollen zum Tun zu gehen:
Ausbau einer regionalen Kreislaufwirtschaft, welche die Grundversorgung der Bevölkerung und die Existenzgrundlage der Betriebe sicherstellt – insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung, Bauen und Wohnen sowie Energie.
Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, mit klarem Blick auf Artenvielfalt, Bodenfruchtbarkeit und Naturschönheit.
Entwicklung eines nachhaltigen Nahverkehrssystems sowie Förderung von Logistiksystemen, die Menschen und Waren klimaneutral, sicher, schnell und leise in der Region transportieren.
Ermöglichung aktiver Teilhabe an Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen (Nachbarschaft, Gemeinde, Land, Arbeitswelt).
Stärkung von Bildung, Kultur und Wissenschaft als Voraussetzung für eine reges Geistesleben und eine kritische Bürgergesellschaft.
Erreichung der Klimaneutralität bis 2035.
Die Initiativgruppe lädt den Landtag und die Landesregierung dazu ein, den Prozess einzuleiten, die Formen der Zusammenarbeit zwischen Bürgergesellschaft, Wissenschaft und Politik auszuarbeiten und die nötigen Ressourcen bereitzustellen. Schon vor der Fertigstellung des Nachhaltigkeitsplanes sollen alle Maßnahmen, Investitionen und Förderungen des Landes an den formulierten Zielen ausgerichtet werden.


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„Wir können und müssen auf lokaler Ebene dazu beitragen, das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen,“ sagt der Klimaforscher Georg Kaser. Die Voraussetzungen für eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 60 bis 70 Prozent bereits bis 2030 sind in Südtirol gut, sofern wir in Politik, in Wirtschaft und im Konsum die richtigen Entscheidungen treffen.
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„Wir waren erstaunt, wie viele, aus unterschiedlichsten Kreisen, unser Manifest spontan unterzeichnet haben, um auf die dringende Notwendigkeit des Umdenkens hinzuweisen. Südtirol hat großes Potential, im Bereich Nachhaltigkeit eine wegweisende Rolle einzunehmen,“ erklärt der Unternehmer Johannes Engl, einer der Initiatoren.
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Das Manifest fordert einen langfristigen, gemeinsam erarbeiteten Nachhaltigkeitsplan. „Dieser Plan soll Bestehendes stärken. Ich halte das im Manifest ausgewiesene Ziel der Klimaneutralität innerhalb 2035 für ehrgeizig, aber machbar“, erklärt Emilio Vettori, „Es braucht aber noch viel Informationsarbeit und Bewusstseinsbildung, damit ökologische und soziale Nachhaltigkeit unsere Gesellschaft neu ausrichten.“ Dass ein Umdenken auch Werte der Gesellschaft und Organisationsstrukturen tiefgreifend verändern muss, ist den Initiator*innen bewusst.
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Kris Krois von der Freien Universität Bozen betont die Dringlichkeit, jetzt den notwendigen Wandel schnell und wirksam anzugehen: „Noch ist es möglich, für unsere Kinder und Enkelkinder intakte Lebensräume und nachhaltige Versorgungssysteme zu schaffen. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen.“
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Die Sozialwissenschaftlerin Sabina Frei spricht das Konfliktpotenzial deutlich an: „Wir müssen Verteilungs- und Zielkonflikte in den Blick nehmen. Denn ein Nachhaltigkeitsplan muss neben der Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Rücksicht auf ökologische Belange auch auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Inklusion als wesentliche Säulen eine Antwort geben.“ Deshalb ist die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern, Interessenverbänden und Fachleuten zu einem Prozess der Meinungsbildung auf Augenhöhe unumgänglich. „Das Erfolgsrezept ist, Politik nicht für, sondern mit den Menschen als Protagonist*innen zu gestalten!“
Initiativgruppe lanciert Zukunftspakt für Südtirol
Der Wortlaut des Manifests und die Liste der Unterzeichner*innen sind auf der www.zukunftspakt-pattofuturo.org in beiden Landessprachen veröffentlicht. Interessierte sind dazu aufgerufen, durch ihre eigene Unterschrift die Initiative zu stärken.

KVW Aktuell

Senioren und Einsamkeit

Verletzbarkeit gehört wie das Sterben und der Tod zum Leben
Kurz vorweg: die Ansetzung eines bestimmten Alters als Kriterium für die Festlegung einer Risikogruppe wird den älteren Mitmenschen nicht gerecht. Diese Pauschalierung verengt den Blick und erhöht die Gefahr, dass sie diskriminiert werden. Das kann dazu führen, dass sie benachteiligt, vergessen oder gar ausgeschlossen werden. Die Folge wäre ein erhöhtes Risiko, dass ältere Mitmenschen vereinsamen.
GOTTFRIED UGOLINI
Priester und Psychologe
Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen
Die Würde des Alters erfordert einen respektvollen, solidarischen und subsidiären Umgang mit den Senioren. Für sie gilt was wir unter Ermächtigung verstehen: sie sollen und dürfen das, was in ihrer Macht steht, tun, um ihre Talente, Fähigkeiten, Erfahrungen, Ideen und Wünsche einzubringen und umzusetzen. Mit Grenzen leben wir alle. Der Umgang damit ist eine Gabe und Aufgabe in allen Lebensphasen.
Jedes menschliche Leben ist wertvoll und schutzbedürftig. Ältere Menschen kommen mit der Einsamkeit sogar manchmal besser klar als jüngere. Ältere Menschen können oft auf Lebenserfahrungen zurückgreifen, die erzählen, wie sie schwierige Situationen zu meistern hatten, wie sie diese bewältigt haben oder wie sie damit umgegangen sind, ohne dabei aufzugeben. Nicht immer waren es Erfolgsgeschichten und nicht immer waren sie dabei selbst die Helden oder fanden sich Retter ein. Nun kommen auch aktuelle Ereignisse dazu wie zum Beispiel das Coronavirus.
Unsicher und verletzbar
Das kleine, unscheinbare Virus hat es geschafft, sich in kürzester Zeit global auszubreiten und sich lokal umzutreiben. Unglaublich, was es in der Welt und bei uns selber ausgelöst hat. Sein unberechenbarer Angriff macht uns unsicher und verletzbar. Es beeinflusst auch unseren Kontakt zueinander. Es löst Fragen und Sorgen in uns aus, die uns bedrücken und denen wir letztlich ausgesetzt bleiben. In unserer westlichen Welt sind das Sterben und der Tod weithin aus dem Bewusstsein gedrängt worden. Selbst wenn wir wissen, dass sie zum Leben gehören. Wir brauchen eine Kultur des Lebens, die die Verletzbarkeit und das Leid ebenso wie das Sterben und den Tod miteinschließen, um der Würde des Menschen gerecht zu werden. Die Kirche und die Senioren im KVW können einen wertvollen Beitrag leisten.
Das Leben ist nicht kontrollierbar
Die unheimliche Gegenwart des Virus nimmt uns jene vermeintliche Gewissheit, unser Leben mehr oder weniger kontrollieren zu können. Doch sein Auftreten hat uns auf urmenschliche Fragen und Themen zurückgeworfen, die das Leben betreffen. Wir erahnen: unsere Lebensweise hat Einfluss auf den Lebensraum und die Lebenszukunft der Menschen, ja auf die ganze Schöpfung. Dieses Bewusstsein weckt in uns die Verantwortung füreinander: besonders für die alleinstehenden, kranken und älteren Mitmenschen.
Die Senioren sind alles andere als zum Rückzug und zur Einsamkeit verurteilt. Sie gehören hinein in die Mitte unseres Lebens, in die Mitte unseres Alltags und in die Mitte unserer Überlegungen, wie wir das Leben und unsere Zukunft gestalten. Selbst jene, die nicht mehr das Bett verlassen können oder geistig verloren sind, gehören dazu und bleiben beziehungsbedürftig wie wir alle. Für so manche Senioren ist Einsamkeit noch immer ein Tabu-Thema. Manche schämen sich sogar dafür. Einsamkeit ist solange ein Tabuthema sowohl für Senioren als auch für jüngere Generationen, solange ihnen verwehrt wird, ihre Bedürfnisse und Wünsche, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Leiden und Freuden zur Sprache zu bringen und sich ernstgenommen zu wissen. Deshalb braucht es Begegnungs- und Erzählräume, in denen Impulse zu einem kreativen und selbständigen Gestalten des persönlichen und gemeinschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Lebens gesetzt und umgesetzt werden können. Ältere Mitmenschen sind ein wichtiger und aktiver Teil in unserer Kirche und Gesellschaft.
So selbständig wie möglich
Jede Form von Kommunikation ist wichtig, um der Einsamkeit entgegenzuwirken – unabhängig davon, ob die Initiative dazu von den Senioren selbst oder von anderen ausgeht. Senioren sollen so viel wie nur möglich aktiviert werden, sich überall dort einzubringen, wo immer sie die Möglichkeit dazu wahrnehmen können. Dabei gilt der Grundsatz: so viel selbständig wie möglich und so viel Unterstützung wie notwendig. Senioren können einander beistehen, wenn sie zusammenkommen und sich austauschen. So können sie für sich und für andere Ideen für solidarische Aktionen entwickeln, die sie selber oder durch andere durchführen lassen.
Hier einige praktische Hinweise:
1. Ich lebe gesund und tue alles, was mir möglich ist und gut tut, wobei ich mich an die Schutzbestimmungen halte. Wenn ich einkaufen oder spazieren gehe, trage ich Nasen-Mund-Schutz und wahre die nötige Distanz! Das genügt! Ich bin geschützt.
2. Ich informiere mich gezielt, ohne mich von allen und von jeder übermittelten Information beeinflussen zu lassen. Die Infektionszahlen sind Hinweise, dass Menschen am Virus erkrankt sind. Sie sind kein Grund zur Panikmache, sondern besagen, dass mein verantwortliches Verhalten für mich und für andere wichtig ist! Ich bin kritisch.
3. Ich weiß, dass nicht alle infizierten Personen Anzeichen der Erkrankung haben. Die meisten Erkrankten haben einen leichten Krankheitsverlauf. Die große Mehrheit wird wieder gesund. Nur wenige sterben durch das Virus. Das entlastet mich. Ich bin gelassen.
4. Ich lerne, wie mit allen anderen Gefahren und Viren, auch mit Corona zu leben, indem ich meinen Lebensstil anpasse und bestmöglich gestalte. Mein Vertrauen ins Leben und in die Zukunft bleibt bestimmend. Das gibt mir Mut und Hoffnung. Ich habe schon Vieles gemeistert.
5. Ich nehme jede Gelegenheit wahr, mit meinen Angehörigen, Nachbarn und Freunden sowie anderen mir wichtigen Menschen in direkten Kontakt zu bleiben. Dazu gehören Einladungen und Besuche, das Gespräch von Balkon zu Balkon, über den Gartenzaun, im Park, im Café oder in den vorgesehenen Räumen im Altersheim oder Krankenhaus. Ich bleibe in Kontakt.
6. Ich nütze Telefon, Handy, E-Mail und die neuen einfachen, technischen Möglichkeiten der sozialen und visuellen Kommunikation, deren Handhabung ich mir bei Bedarf zeigen lasse. Ich lerne immer dazu.
7. Ich schreibe wieder Briefe und Karten, um anderen ein Lebenszeichen von mir zu geben. Ich blättere in meinen Fotoalben und schreibe unsere Familiengeschichte. Ich werde kreativ und künstlerisch.
8. Ich nehme an den verschiedenen Angeboten nah und fern teil wie z.B. jene des Seniorenklubs. Sie bieten mir Gelegenheit, mit anderen zusammen zu sein, zu erzählen, sich auszutauschen, zu spielen und sich zu unterhalten sowie kreativ das Leben und die Gemeinschaft mitzugestalten. Ich bringe mich gerne ein.
9. Ich organisiere mein Freizeitprogramm oder ich nehme an Wanderungen, Ausflügen, Treffen, Weiterbildungen und sonstigen Veranstaltungen teil, die meinen Hobbys, meinen Interessen und meinen Bedürfnissen entsprechen. Ich bleibe aktiv.
10. Ich hole mir die Hilfe, die ich brauche, wenn ich mich einsam fühle oder mir sprichwörtlich „das Dach auf den Kopf fällt“, indem ich z.B. die freiwilligen Senioren­helfer*innen kontaktiere, bei der Telefonseelsorge anrufe oder bei den anderen Diensten wie Psychologischen Dienst, „Du bist nicht allein“ … Ich weiß mir zu helfen und ich lasse mir helfen. Denn sich helfen lassen ist nicht Zeichen von Schwäche, sondern klug und verantwortlich.
Lebenswerte Gesellschaft
Die sogenannte Coronakrise ist Herausforderung und Chance zugleich: im Blick auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, unsere soziale Verantwortung, unseren Glauben, unser Vertrauen und unseren Einsatz für ein gutes Leben und für eine hoffnungsvolle Zukunft. Die aktive Präsenz der Senioren und der solidarische Umgang mit unseren älteren Mitmenschen, unabhängig von ihrer Gesundheit und ihrem sozialen Stand, ist ein Parameter für eine menschenfreundliche und lebenswerte Gesellschaft.
TEXT: Gottfried Ugolini