Spezial

Welt des neuen Wohnens

Erfahrungsaustausch mit interessanten Nutzungsmodellen
Glurns - FOTOS: Präsentation AFI
Für viele Arbeitnehmer*innen ist Wohnen in Südtirol zu einer der schwierigsten Herausforderungen für Familien geworden. Das Afi stellte in einem Webinar folgende sieben interessante Erfahrungen aus dem deutschen und italienischen Sprachraum vor.
Wien - Bahnhofsareal. Nicole Büchl von wohnfonds_Wien stellte am Beispiel Sonnwendviertel vor, wie die Stadt Wien gehandelt hat, um die am Hauptbahnhof frei werdenden Flächen einer möglichst sozialgerechten Nutzung zuzuführen. Die Ausgangsituation von Wien ähnelt jener der Stadt Bozen – die politischen Weichenstellungen unterscheiden sich allerdings.
Wien „Das Dorf in die Stadt bringen“. Markus Zilker von einzueins architekten sprach über das „Wohnprojekt Gleis 21” als Beispiel einer konkreten Umsetzung im Sonnwendviertel. Solidarisch wohnen, nachhaltig genießen und Stadtkultur mitgestalten werden dort großgeschrieben.
Graz - Wohnen als Verkörperung eines Lebensmodells. Martin Kolaritsch stelle die Erfahrung von „Kooperatives Wohnen Volkersdorf“ vor. Die WoGen Wohnprojekte-Genossenschaft e.Gen. ist Österreichs erste und einzige Bauträgerin, die ausschließlich gemeinschaftliche Wohnprojekte mit und für Menschen verwirklicht, die in Gemeinschaft leben wollen. Gemeinschaftliches Wohnen als Lebensphilosophie, welche die Baufertigstellung überdauert.
Trient: Mehrgenerationenhaus. Ein Haus, sieben Senioren, drei Jugendliche. Wie in einem Couhousing-Projekt zehn Menschen zueinanderfinden und sich gegenseitig unterstützen, zeigte Daniela Bottura, Präsidentin der Genossenschaft SAD, auf. „Casa della Vela Trento“ wurde von UNECE als eines von elf Vorzeigeprojekten auf Europaebene im Sachen innovative Sozialpraktiken ausgewählt.
Schlanders – Innovative Nutzung von Militärarealen. Wie aus der ehemaligen Palazzina Servizi in der Dru­sus-Kaserne Schlanders ein Social Activation Hub sowie Coworking-Spaces entstehen konnten, zeigte Hannes Götsch von BASIS Vinschgau Venosta auf – ein Projekt mit Strahlkraft weit über Schlanders hinaus.
Glurns – Neues Leben im Altstadtkern. Der ehemalige Bürgermeister Alois Frank erläuterte, wie die Gemeinde Glurns sanierungsbedürftige Wohnkubatur ankaufte, renovierte und Ansässigen zum Kauf (zum Selbstkostenpreis für die Gemeinde) anbot. Dank der Ortskernförderung des Landes konnten in Glurns Ansässigen 12 Wohnungen zum Preis von 2.800 €/m2 netto angeboten werden.
Lajen – Neues Wohnbaugebiet mit Preisbindung. In der Gemeinde Lajen soll eine neue Bauzone für 50 Wohnungen mit Preisbindung entstehen. Bürgermeister Stefan Leiter spricht von einem Win-Win-Win-Modell: Aufgrund der etwas höheren Baudichte von 2,2 attraktiv für den Investor; attraktiv für die Gemeinde, die einen Wertzuwachs von 30 Prozent einstreicht und keine Infrastrukturkosten übernehmen muss; ein Vorteil für Einheimische, die Wohnungen drei Jahre ab Baufertigstellung zum Preis von 3.200 €/m2, Klimahouse-A-Nature-Standard beziehen können (zum Vergleich: Marktpreis Gemeinde Lajen derzeit: 4.000 €/m2, im nahen Grödental: 8.000 – 10.000 €/m2).
Wie Afi-Präsident Dieter Mayr in seiner Begrüßungsrede ausführte, sei Wohnen für viele Arbeitnehmer-*innen in Südtirol eine der schwierigsten Herausforderungen geworden, vor allem mit Familie. Wohnen ist ein großer Kostenposten und verschlingt abhängig von der wirtschaftlichen Situation 20 bis 50 Prozent des Haushaltseinkommens. Laut Afi-Barometer liegt die Schmerzgrenze bei 30 Prozent. Die Landesregierung arbeitet zurzeit am Wohnbauförderungsgesetz, und dazu wollten die Trägerorganisationen des Instituts mit diesem Wegniar Inputs und Gedanken mitgeben. Covid-19 hat dem Wohnen eine neue Dimension gegeben: Homeoffice und die Notwendigkeit eines abgegrenzten Arbeitszimmers. Balkone und Terrassen mit Grünflachen erfahren eine Renaissance, aber auch „Hotel-Feeling in die Wohnung bringen“ steht im Trend.

Thema

Wert des Sozialstaates erkennen

Pandemie stellt sozialen Zusammenhalt auf die Probe
Was bringt das Soziale, was bringt der Sozialstaat überhaupt, fragen sich viele. Gerade jetzt - in Zeiten großer Veränderungen - muss in einem Sozialverband wie dem KVW diese Frage diskutiert werden. Der KVW ist das soziale Gewissen im Land, er hat das Ohr nah am Bürger und zurzeit auch ganz nah bei all jenen Bürgern, denen es durch die Corona-Krise nicht gut geht. In den Patronaten im Land werden viele Hilfesuchende vorstellig. Dort wird täglich sichtbar, mit welchen Schwierigkeiten die Menschen in Südtirol nun konfrontiert sind. Eine gut funktionierende Sozialpolitik ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten von größter Wichtigkeit, sie gewinnen an Wert. Dazu ein Interview mit dem KVW Landesvorsitzenden Werner Steiner.
Kompass: Was leistet der Sozialstaat? Und für wen erbringt er Leistungen?
Werner Steiner: Jedes Leben verläuft unterschiedlich, aber beispielhaft könnte man sagen, dass doch jede und jeder in unterschiedlicher Höhe Leistungen des Sozialstaates in Anspruch nimmt. Es hängt neben dem Alter vor allem von der Vermögens- und Einkommenssituation ab. Als Kinder erhalten wir Familienleistungen und nehmen staatliche Bildung in Anspruch. Im Falle von Krankheit stehen uns ein Kinderarzt bzw. ein Hausarzt und öffentliche Krankenhäuser zur Verfügung. Sobald wir im Erwerbsleben stehen, zahlen wir ins Sozialsystem und die Pensionskasse ein. Wir profitieren aber auch davon, zum Beispiel durch Vater- und Mutterschaft, bei Arbeitslosigkeit, bei einem Arbeitsunfall mit Invalidität oder ähnlichem. Nach der Erwerbsarbeit sind wir durch die Rente abgesichert. Wobei diese ein Leben in Würde ermöglichen sollte, was leider nicht mehr immer der Fall ist.
Der Sozialstaat leistet also im Leben eines jeden Menschen sehr viel. Es ist schwer vorstellbar, wie das Leben ohne die Sozialleistungen und die staatlichen Infrastrukturen aussehen würde.
Kompass: Was sind die Vorteile eines gut funktionierenden Sozialstaates, wie Sie ihn geschildert haben?
Steiner: Die Vorteile liegen darin, dass Menschen, die durch geänderte äußere Umstände oder durch Unfall in Notlagen geraten, aufgefangen werden. Die Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise vor über zehn Jahren haben gezeigt, dass Länder mit einer starken sozialstaatlichen Absicherung deutlich besser durch die Krise gekommen sind als andere. Der Vorteil eines gut ausgebauten Sozialstaats mit entsprechenden Leistungen liegt darin, dass Menschen in schwierigen Lebenslagen unterstützt werden. Sie haben Vertrauen in den Staat, Krisen machen weniger Angst, Nachwirkungen und Folgen von schwierigen Situationen werden abgemildert. Und ganz wichtig: dies trägt gleichzeitig zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stabilität bei.
Kompass: Sozialstaatliche Leistungen wurden eingeführt, hat damit die Politik ihre Aufgabe erledigt? Ist damit auch für die nachfolgenden Generationen gesorgt?
Steiner: Leider ist es nicht so einfach. So wie sich die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Arbeitssituationen dauernd ändern, braucht es auch bei den Sozialleistungen immer wieder Nachbesserungen und Anpassungen. Es ist eine wichtige Aufgabe des KVW, hier immer genau hinzuschauen, auf veränderte Situationen aufmerksam zu machen. Es fällt auf, dass sich Änderungen immer schneller vollziehen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel erfolgt rasch, neue Problemlagen und Bedürfnisse entstehen, auf sie gilt es schnell zu reagieren. Es braucht also eine anhaltende Weiterentwicklung des Sozialstaates.
Ich möchte hier nur ein Beispiel nennen, das uns in jüngster Zeit untergekommen ist. Wer jetzt um Sozialleistungen ansucht, da er durch Corona in Not geraten ist, muss das Einkommen von 2019 angeben. Der Einkommensausfall ist aber im Jahr 2020 eingetreten, Ansuchen die jetzt gestellt werden, machen die eingetretene Not also noch nicht ersichtlich und somit besteht auch kein Anspruch. Dies zeigt uns, dass Anpassungen der Sozialleistungen schnell gehen müssen.
Kompass: Oft hört man, „wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut“. Stimmen Sie dem zu?
Steiner: Es mag Betriebe geben, für die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Umwelt wichtig sind und die auch viel dafür tun. Andererseits muss uns aber bewusst sein, dass es Ziel eines jeden Unternehmens ist, Gewinne zu erwirtschaften. Deshalb müssen die Spesen und Ausgaben möglichst gering sein, niedere Löhne, niedere Steuern und keine Ausgaben für Umwelt sind also ganz im Sinne eines solchen Wirtschaftens. Deshalb stimmt der Satz „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut“ so nicht. Der Streben nach Gewinn widerspricht dem.
Kompass: Die Menschen brauchen den Sozialstaat, auch wenn es der Wirtschaft gut geht?
Steiner: Wer aus irgendeinem Grund aus dem funktionierenden Rad der Wirtschaft rausfällt, der braucht den Sozialstaat dringend.
Es muss immer zuerst um den Menschen und sein Wohlergehen gehen. Das muss auch bei den aktuellen Diskussionen um Hilfen und Ausgleichszahlungen wegen der Pandemie mitgedacht werden. Viele Arbeitnehmer*innen, vor allem viele Frauen, haben im vergangenen Jahr massive Einbußen hinnehmen müssen. Es mehrt sich die Zahl jener, die nicht mehr aus eigener Kraft über die Runden kommen, die keine Arbeit mehr haben. Diese Personen brauchen als erstes Hilfe, hier geht es um elementare Dinge wie Essen, Schulbesuch der Kinder, Miete usw. Dies muss Vorrang haben, dafür muss als erstes und vor allem genügend Geld zur Verfügung gestellt werden. Alles andere kann danach kommen.
Deshalb mein eindringlicher Appell an die Politik: nicht wer am lautesten schreit, braucht Hilfe, sondern der, dem es schlecht geht.
Kompass: Die Wirtschaft plädiert für eine Senkung der Steuern. Was bringt das? Käme die öffentliche Hand mit weniger Geld aus?
Steiner: Es braucht endlich einen positiven Zugang. Steuern sind nicht schlecht, sondern sie sind enorm wichtig. Was die öffentliche Hand damit schafft, kommt allen zugute, das könnte der einzelne nie selber schaffen.
Alles zu privatisieren geht in die falsche Richtung. Zum Beispiel hat uns die Krise und Pandemie gelehrt, dass wir gut ausgestattete öffentliche Krankenhäuser und gut ausgebildetes und bezahltes Personal brauchen. Privatisiert wurden leider oft medizinische Dienste, die gute Gewinne bringen: ein Beispiel, Operationen an ansonsten gesunden Personen werden privat angeboten, diese können rasch durchgeführt werden, der Patient braucht keine weitere Betreuung, Aufenthalt in Klinik ist kurz, falls überhaupt notwendig.
Umgekehrt landen komplizierte, komplexe und langwierige Fälle in den öffentlichen Strukturen.
Die Realität ist leider so, dass das, womit schnell und leicht Geld verdient werden kann, privatisiert wurde, der Rest bleibt steuerfinanziert in den öffentlichen Strukturen.
Kompass: Die Gesellschaft ist sehr heterogen, Einkommen, Vermögen und Chancen sind ungleich verteilt.
Steiner: Deshalb ist es eine große und wichtige Aufgabe des Sozialstaates, die Lasten fair zu verteilen. Dadurch wird die Ungleichheit in der Gesellschaft ausgeglichen. Soziale Gerechtigkeit ist die Basis und Grundvoraussetzung für ein friedliches und gutes Zusammenleben. Sie schafft gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Stabilität. Davon profitieren wir alle, unabhängig ob wir den Sozialstaat brauchen oder in der glücklichen Lage sind, alleine zurecht zu kommen. Dies sollte von allen Bürgerinnen und Bürgern als großer Wert erkannt und geschätzt werden!
Kompass: Die FF-Chefredakteurin schrieb kürzlich in einem Leitartikel: „Hoteliers, Händler, Handwerker, Unternehmer verfügen über Organisationen, die die Politik permanent unter Druck setzen und öffentlich laut Forderungen platzieren. Die Arbeiter und Arbeiterinnen haben niemanden, der sie wirklich vertritt.“ Wer vertreter die Interessen der Arbeitnehmer? Wer setzt sich für sozial Schwache ein?
Steiner: Es sollte selbstverständlich sein, dass die Interessen der Arbeitnehmer*innen gehört werden. Warum sollten sie laut schreien müssen? Es gibt den KVW, der immer wieder auf Missstände hinweist, es gibt Gewerkschaften, die ihre Stimme erheben, es gibt das Afi, das durch seine Forschungen aufzeigt, wo etwas nicht richtig läuft, es gibt caritative Vereine, es gibt eine Arbeitnehmervertretung in der SVP, es gibt Oppositionsparteien, … das Problem sehe ich eher darin, dass all diese mahnenden und warnenden Stimmen nicht gehört werden und auch nicht ernst genommen werden.
Hier braucht es eine Veränderung, es braucht den Blick aufs Gesamte. Wir alle müssen verstehen, dass keine und keiner von uns allein ist. Es hängt alles zusammen, unsere Leben hier auf der Erde hängen alles zusammen.
Es stimmt, dass die Verbandsvertreter der Hoteliers, des Handels und anderer Selbständiger in den vergangenen Monaten laut geschrien haben und teilweise utopische Forderungen gestellt haben. Dabei hatten sie leider nicht immer das Ganze im Blick, sondern einen sehr engen Bereich, nämlich den eigenen. Die Politik hat die Aufgabe, alle Stimmen zu hören und den Ausgleich zu schaffen. Es sollte nicht in einen Wettbewerb ausarten, wer es schafft am lautesten zu schreien.