Thema

Was macht das Virus aus und mit uns?

Das Narrativum der Gesundheit




Sabine Moser und Andreas Conca gehen der Frage nach, was das Virus mit uns Menschen macht. Sie zeigen auf, dass Ungleichheiten offensichtlich werden. Die Pandemie wirkt wie ein Stresstest, Stärken und Schwächen in einem System werden sichtbar.
Sabine Moser,
Psychologin und 
Psychotherapeutin, 
Krankenhaus Bozen
Primar Andreas Conca,
Direktor des psychiatrischen Dienstes im Gesundheitsbezirk Bozen
Am 4. März 2020 wurden alle Schulen geschlossen und ein paar Tage später am 9. März begann der erste Shutdown.
Aber was war vorher? Seit etlichen Jahrzehnten ging es uns Menschen, in den westlichen Industriestaaten, so gut wie lange nicht mehr. Wir konnten uns frei fühlen und ein selbstbestimmtes Leben in Sicherheit führen, ganz anders als manch‘ unserer Eltern oder Großeltern.
Dieses Gefühl von Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmtheit haben viele von uns gar nicht so bewusst wahrgenommen. Seit dem Beginn der Virusepidemie und den damit zusammenhängenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen/schulischen und psychischen Auswirkungen, ist diese Selbstverständlichkeit erschüttert worden.
Armut verstärkt sich
Die Pandemie wirkt sich auf alle Bereiche unserer Gesellschaft aus, hat das Leben eines jeden Einzelnen in irgendeiner Art und Weise verändert und das weltweit. Was ursprünglich wie ein Blitz aus heiterem Himmel empfunden wurde, ist nun zu einem dauerhaft anmutenden Ausnahmezustand geworden. Durch den dabei vielfach erfahrenen Kontrollverlust werden die unterschiedlichsten Reaktionen ausgelöst und Polarisierungen stehen auf der Tagesordnung. So verstärkt sich die sozial-wirtschaftliche Armut zwischen Industrie- und Schwellenstaaten, was sich radikal auch in ethischen Fragen widerspiegelt; so z.B. bietet nur 1 auf 10 Schwellenländer Impfmöglichkeiten an, die vergleichbar mit den Industriestaaten sind. Aber auch innerhalb der 1. Staaten bröckelt es. So lassen konkrete Zahlen aufhorchen, die schonungslos aufzeigen, dass in den USA Frauen, Afroamerikaner, Indianer und Latinos überzufällig häufig an Covid-19 erkranken und sterben.
Andererseits konnten wir aber auch einen starken Zusammenhalt in der Bevölkerung erkennen, geprägt von Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung. Trotzdem gab es von Anfang an kritische Menschen, die sich von diesem Solidaritätsgedanken abgrenzten oder sich misstrauisch verhielten, sowie die Gruppe der eigentlichen Verschwörungstheoretiker; und die Zahl ist eindeutig am Steigen. Krisensituationen bestätigen und verstärken tendenziell immer bereits bestehende soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten.
Zum Beispiel sind Frauen, Mütter und Alleinerziehende neben der Weiterführung ihrer beruflichen Tätigkeit, wie selbstverständlich, mit der unbezahlten familiären Care-Arbeit weitgehend alleine gelassen worden. Die psycho-physische Sicherheit und Unversehrtheit von Frauen und Kindern ist seit den Einschränkungen mehr gefährdet als zuvor. Die Lern- und Kompetenzentwicklung mancher Schulkinder scheint unter den langen Lernpausen und dem Homeschooling ebenso gelitten zu haben. Auch die kreativen Räume zur Mutentfaltung, Identitätsfindung und Meinungsbildung sind Mangelware: Bildung, Bewegung und Begegnung sind eingeschränkt, was sich auch auf Senioren auswirkt.
Schutz durch Abschottung
Menschen im 3. Alter wurden als Risikogruppe identifiziert und durch Verordnungen geschützt aber gleichzeitig auch von der Außenwelt und ihren Lieben abgeschottet, mit einem kleinen Schönheitsfehler: sie wurden nie in die Entscheidung miteingebunden. Hier tut sich ein wirkliches Dilemma auf, nämlich das zwischen individueller Freiheit von Menschen, die ihren Lebensabend verbringen, und ihrer Entmündigung über ihre körperliche Unversehrtheit weise entscheiden zu können.
Jeder Mensch im 3. Alter hat im übertragenen Sinne mindestens 15 Bücher mit je 300 Seiten verfasst. So müssen wir uns die Frage stellen, ob dieser Reichtum an Lebenserfahrung vor Covid-19 gebührend geschätzt wurde und genügend sozial integriert war.
Allgemein gelten Krisensituationen als Stresstest: sie decken ohne wenn und aber Schwächen und Stärken eines Systems auf. Sie legen offen, welche soziale, wirtschaftliche, technische und ethische Rücklagen, im Sinne eines Risikomanagements, gebildet worden sind.
Krisen decken Stärken und Schwächen auf
Was bedeutet das Ganze aber für den Einzelnen? Seit über 365 Tagen bestimmt die Pandemie unseren persönlichen Alltag. Für viele von uns ist sie, in unterschiedlichem Ausmaß, zu einer Dauerbelastung geworden. Dies beeinflusst wiederrum unser Denken, Fühlen, Erleben, Handeln und löst die verschiedensten Gefühle aus. Unsicherheit, Erschöpfung, Frust, Ärger, Überforderung, Hilflosigkeit aber auch die Lust zum Abenteuer und der aktiven Gestaltung machen sich breit.
Zukunfts- und Existenzängste, sowie die Angst um die eigene Gesundheit spielen dabei eine treibende Rolle. Die virusbedingten Sicherheitsvorschriften und die AHA-Regel wirken sich oftmals ungünstig auf die Ernährungs-, Bewegungs- und Hygienegewohnheiten, sowie Freizeitaktivitäten vieler Menschen aus. Depressionen, Schlaf-, Ess-, Angst- und Zwangsstörungen, sowie verstärktes Suchtverhalten können die Folge sein.
Soziale Kontakte beschränkt
Dazu kommt, dass diese aktuelle Situation auch im Zusammenleben viel verändert hat. Unsere gewohnten zwischenmenschlichen Interaktionen und lieb gewonnen Gewohnheiten wurden bis auf Weiteres destabilisiert. Man darf sich nicht mit Freunden treffen. Die sozialen Kontakte beschränken sich auf den engsten Familienkreis und auf den Arbeitsplatz oder finden in digitaler Form statt. Manche Familien sind gezwungen, rund um die Uhr und auf engstem Raum zusammen zu leben, sodass kaum Platz für Privatsphäre ist.
Die Einschränkungen und die sich ständig ändernden Bestimmungen, wenn auch nachvollziehbar, erfordern von uns allen ein hohes Maß an Flexibilität, Frustrationstoleranz und Anpassungsfähigkeit.
Trotz alledem sind viele von uns durch den Lockdown offen für neue, alternative Möglichkeiten von Freizeit- und Beziehungsgestaltung geworden und haben gelernt mit den Eingrenzungen konstruktiv und kreativ umzugehen. In der Arbeitswelt haben durch den rapiden Digitalisierungsprozess ebenfalls große Veränderungen stattgefunden. Schon längst fällige gesellschaftliche Themen sind wieder aufgegriffen und Potentiale sichtbar gemacht worden, wie z.B. im Bereich der Modernisierung des Bildungswesens, Gleichstellung der Frauen, Wert der Care-Arbeit, Umwelt-, Natur- und Klimaschutz u.v.m.
Neuer Gesundheitsbegriff
Hinter jeder Krise stecken auch Chancen. Die Frage, die noch offen ist: werden wir so klug sein und diese günstige Gelegenheit nachhaltig ergreifen?
Wenn uns dieser Stresstest aber schon jetzt eines definitiv gelehrt hat, dann ist es, dass der Gesundheitsbegriff nicht als ein ganz individueller und ein rein körperlicher/seelischer Zustand verstanden werden kann, sondern über die Generationen hinaus und quer durch die gesamte Gesellschaft definiert werden muss.
Gesundheit geht uns alle an und ganz im Sinne Dumas: Einer für alle und alle für einen. Lassen Sie uns die Jahrhundertaufgabe anpacken.

Kommentar

Die Idee des Grundeinkommens

Existenzsicherung für alle, ohne Knüpfung an Bedingungen
Ziel der europäischen Bürgerinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ist es, eine Existenzsicherung für alle Menschen in der EU einzuführen. Die gesellschaftliche Teilhabe aller im Rahmen der EU-Wirtschaftspolitik soll in der gesamten EU ermöglicht werden. Dafür findet eine Unterschriftensammlung statt: www.eb-grundeinkommen.de
Sepp Kusstatscher war 
Bürgermeister von Villanders, Landtagsabgeordneter und EU-Parlamentarier. 
Kusstatscher unterstützt die Europäische Bürgerinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Was? Ein geschenktes Geld des Staates an alle, auch an die Faulen und Reichen? Das wird von vielen Menschen als eine so verrückte Illusion angesehen, dass sie darüber gar nicht nachdenken wollen.
Die Idee eines Grundeinkommens wird aber weltweit immer mehr diskutiert, vor allem jetzt in der Covid-19-Krise. Bürgerinitiativen in allen 27 Ländern der Europäischen Union sammeln derzeit Unterschriften mit der Aufforderung an die Europäische Kommission, damit diese ein bedingungsloses Grundeinkommen in der gesamten EU einführt.
Eine kurze Information über das BGE und der Link zur Unterschrift für diese Bürgerinitiative sind zu finden unter www.ebi-grundeinkommen.de
Mehr als 50 Prozent der Deutschen erachten ein Grundeinkommen sinnvoller als die derzeitige soziale Absicherung der Armen über „Hartz-IV“. Ein Viertel der Deutschen ist sogar der Meinung, dass es dringend einzuführen sei.
Papst Franziskus. „Wage zu träumen!“

Starker Aufwind in die gesamte Diskussion kommt durch Papst Franziskus, der in seinem neuesten Buch „Wage zu träumen! – Mit Zuversicht aus der Krise“ das Grundeinkommen zur Überwindung der Existenzängste vieler Menschen als „not-wendig“ erachtet, weil dieses die Not wenden würde.
Papst Franziskus argumentiert: „Das Grundeinkommen könnte die Beziehungen auf dem Arbeitsmarkt umgestalten und den Menschen die Würde garantieren, Beschäftigungsbedingungen ablehnen zu können, die sie in Armut gefangen halten ...“ Das Grundeinkommen „könnte dazu beitragen, dass die Menschen frei werden, das Verdienen des Lebensunterhaltes und den Einsatz für die Gemeinschaft zu verbinden“. Zusammenfassend: „Es ist an der Zeit, Konzepte zu bedenken wie das universelle Grundeinkommen (UBI, universal basic income).“
Erwerbsarbeit – nur ein Drittel der Arbeitszeit!

Die italienische Verfassung erkennt allen Staatsbürgern das „Recht auf Arbeit“ zu. Das große Missverständnis liegt aber darin, dass die meisten dabei nur an die Erwerbsarbeit denken und vergessen, dass der Großteil der menschlichen Arbeit, die für die Gesellschaft sehr wichtig ist, nicht Lohnarbeit ist. Denken wir an die Sorgearbeit (Care), die vor allem Frauen im Haushalt, bei Betreuung und Erziehung ohne Gehalt und ohne Absicherung im Alter leisten. Ausgeklammert wird die Eigenarbeit, die das Leben verschönert, z.B. künstlerische Aktivitäten und viele nützliche Tätigkeiten in der Werkstatt daheim oder im Garten. Nicht vorzustellen wäre unser Alltag ohne die gesellschaftspolitisch wichtige Arbeit im Volontariat. Alles gratis und ohne Altersabsicherung!
Das BGE ist finanzierbar. Es ist genug für alle da.

Die häufigste Killerphrase gegen das Grundeinkommen lautet: Es ist nicht finanzierbar! Beim derzeitigen Steuersystem sicher nicht, weil vor allem Arbeit besteuert wird und nicht bzw. viel zu wenig die Gewinne und der Überfluss der Reichsten, die Vergeudung natürlicher Ressourcen, Umweltzerstörung, Spekulationsgeschäfte, Luxus usw.
Es wäre genug für alle da! Die erste Forderung gerade in dieser Krise kann nur lauten: gerechtere Steuern, damit die Staaten in die Lage versetzt werden, alles zu finanzieren, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 festgehalten wurde: das Recht aller auf ein Leben in Würde, konkret: auf Nahrung, Wohnung, Bildung, Gesundheitsbetreuung und soziale Absicherung.