Spezial

Aus der Krise lernen
Mit Zuversicht in die Zukunft

Wie wir unser Zusammenleben neu gestalten können
Die Pandemie hat uns gelehrt, menschliche Werte wie Gemeinschaft und Nähe wieder zu schätzen.
Walter Lorenz hat auf der Tagung der Senioren am 6. November 2021 darüber gesprochen, wie er die Pandemie erlebt hat, zu welchen Gedanken sie ihn angeregt hat und mit welchen Hoffnungen er selbst in die Zukunft geht. Sein Referat wird hier in gekürzter Form abgedruckt.
Walter Lorenz, ehemaliger Rektor der Freien Universität Bozen, und derzeit Vertragsprofessor für Soziale Arbeit an der Karls-Universität Prag - Foto: academia.bz.it
Die Krise dieser Pandemie hat sehr tief in unseren Alltag, in unsere sozialen Beziehungen und sogar in unsere politische Landschaft eingeschlagen, und es ist noch sehr ungewiss, welchen Ausgang dies nehmen wird. Denn indem die Krise nicht einfach hinter uns liegt, sondern uns immer neue Aufgaben stellt, spüren wir auch deutlich, dass es nicht damit bewendet sein wird, zum vorigen Alltag zurückzukehren als ob nichts geschehen wäre.
Leben neu überdenken und gestalten

Wir müssen unser Leben in vieler Hinsicht neu überdenken, neu gestalten, und dies ist, um es optimistisch zu wenden, eine Chance und nicht nur eine Bedrohung. Wir befinden uns mitten in einem Prozess, in dem es keine Privilegierten gibt, die schon wissen, wie alles ausgehen wird, ob das nun wissenschaftliche Experten sind oder Politiker (letztere schon gar nicht).
Ich bilde hier ab, wie ich die Krise erlebt habe, welche zentralen Merkmale sie für mich aufgeworfen hat, zu welchen Gedanken sie mich angeregt hat und mit welchen Hoffnungen ich selbst in die Zukunft gehe.
Einige von uns haben das Grauen des Zweiten Weltkriegs selbst noch erlebt oder sind, wie ich, im Schatten dieser selbstgemachten Weltkatastrophe aufgewachsen. Ich will nicht sagen, dass die Coronapandemie einen ähnlichen Einschnitt in unser Leben und in unsere Geschichte erzeugen wird wie die Weltkriege, und es ist vielleicht nützlich, auf Parallelen und Unterschiede im Einzelnen hinzuweisen.
Eine Parallele ist, dass die Weltkriege ein globales Ereignis waren. Es gab kaum eine Region oder eine Menschengruppe, die nicht von den fürchterlichen Ereignissen betroffen gewesen wären, wenn auch manche direkter als andere. Die Kriegssituation bedeutete aber, dass man sich die Welt in Freund und Feind aufteilte, die Guten und die Bösen. Das versuchen manche auch heute wieder in der Coronakrise und versuchen, die Schuld auf ein Land oder auf eine Gruppe von Verschwörern zu legen. Aber das ist bei einer Krankheit nicht so einfach wie bei einem Krieg, den tatsächlich bestimmte Diktatoren und Nationen verursacht hatten (obwohl die Lage dann doch um einiges komplizierter gesehen werden muss – denn wer gab den Diktatoren die Macht?). Aber es ist bezeichnend, dass damals das gemeinsame Erleben des Leidens und des Kriegs dennoch eine gewisse Solidarisierung in der Welt hervorgerufen hat: Es wurden die Vereinten Nationen gegründet als eine Plattform, auf der Konflikte friedlich ausgehandelt werden sollten, und es wurden in vielen Ländern Maßnahmen getroffen, die die sozialen Spaltungen in der Gesellschaft überwinden helfen sollten. Der Sozialstaat, die soziale Absicherung der Bürgerinnen und Bürger in Notlagen, in Krankheit und im Alter durch den Staat, sind eine direkte Folge der Kriegserfahrung. Das Virus heute ist eine völlig andere Art von „Feind“ und ist bei weitem nicht so tödlich und unbarmherzig, wie es die Kriegsmaschinerien der Völker im Krieg waren. Aber es ist daher vielleicht umso unheimlicher, da die Gefahr so unsichtbar ist und gewissermaßen von jedem Menschen, dem ich begegne, ausgehen könnte und wir daher sehr Acht geben müssen, dass wir uns nicht untereinander verfeinden, wie es schon mancherorts aussieht angesichts der Spaltungen, Proteste und des Misstrauens, die um sich greifen.
Sehnsucht nach menschlichen Gütern

Dennoch leite ich aus dem historischen Rückblick auf das Kriegserleben ab, dass es eine Sehnsucht nach Solidarität entfachte, dass vielen Menschen (bei weitem nicht allen) bewusst wurde, wie sinnlos, wie verheerend Spaltungen zwischen Menschengruppen sind, und dass wir Anstrengungen unternehmen müssen, unsere Gemeinschaft und unsere Solidarität achtsam zu pflegen und nicht als selbstverständlich gegeben anzunehmen.
In Notsituationen kann die Abwesenheit eines menschlichen Guts, wie eben Gemeinschaft, Solidarität, Nähe, eine Sehnsucht erwecken, die diese Güter plötzlich wieder schätzen lässt, statt sie als selbstverständlich oder unbedeutend hinzunehmen, wie wir es vielleicht gewohnt waren. Der Verlust eines Guts macht uns auf seine Kostbarkeit, aber auch auf seine Fragilität und damit auf unsere Verantwortung, richtig damit umzugehen, aufmerksam. Für mich sind es das Gut der persönlichen Nähe, der individuellen Freiheit, der Gemeinschaft und der Gewissheit.
Nähe - ein elementares menschliches Bedürfnis

Beginnen wir mit dem Gut, das uns am offensichtlichsten genommen wurde, dem Gut der unmittelbaren menschlichen Nähe. Das Diktat der Hygiene und des Schutzes vor Ansteckungen hat unsere alltäglichen Gewohnheiten, wie wir uns grüßen, wie wir uns begegnen, ziemlich gründlich durcheinander gebracht. Das Gebot der Distanzierung hat tief in unser soziales Leben eingegriffen und man spürt es auch noch nach den Lockerungen, wie wir uns immer noch nicht so recht wagen, die alten Gewohnheiten aufzugreifen: auch wenn wir mit einer Person ziemlich vertraut sind, schießt uns vor der Umarmung kurz der Gedanke durch den Kopf, könnte die Person nicht doch ansteckend sein, obwohl sie geimpft ist, obwohl ich sie gut kenne, obwohl ich selbst alle Vorschriften eingehalten habe.
Die Auswirkungen des Verbots körperlicher Nähe waren natürlich noch viel folgenreicher in Seniorenheimen und vor allem auf Intensivstationen in Krankenhäusern, wo Menschen sterben mussten ohne Abschied von Angehörigen nehmen zu können und Angehörige ihrerseits gezwungen wurden, Abstand einzuhalten selbst in den letzten Augenblicken oder gar am Sarg. Natürlich waren diese Maßnahmen in vieler Hinsicht notwendig und zum Schutz gefährdeter Personengruppen gedacht, aber wenn sie mechanisch und rigide eingehalten wurden, ohne wenigstens den Versuch einer Vermittlung, waren diese Distanzierungsverordnungen oft einfach unmenschlich. Angesichts dieser Entbehrungen wurde uns der Wert der körperlichen Nähe unmittelbarer bewusst als es sonst im Alltag früher möglich war, als man noch bedenkenlos jemand die Hand oder die Wange reichen konnte zur Begrüßung.
Gleichzeitig aber ist in der Pandemie auch die Schattenseite der Nähe deutlich geworden: In vielen intimen Beziehungen ist es während der Isolation im eigenen privaten Bereich zu einem Anstieg an häuslicher Gewalt gekommen, wie viele Frauenhäuser berichten. Es treten in dieser Zeit auch immer mehr Frauen an die Öffentlichkeit mit Erfahrungen von unerwünschten Intimitäten am Arbeitsplatz, also von Situationen, in denen Distanz nicht eingehalten wurde. Diese Enthüllungen weisen nicht nur auf eine verbreitete Erfahrung der Gewaltausübung Überlegener hin, sondern auch auf die positive Seite der Einhaltung von Distanz. Ich sehe das Hoffnungsvolle darin, dass wir uns genauer bewusst werden können, wann und in welchen Umständen Nähe gewünscht und in welchen Distanz angebracht ist, ob das in der Familie ist oder in Einrichtungen.
Freiheit: nicht einfach nehmen, sondern gestalten

Mit dem Thema der Nähe verbunden ist unmittelbar auch das Thema der Freiheit. Wir alle fühlten uns während der Pandemie in unserer persönlichen Freiheit unvorstellbar beeinträchtigt – wer hätte es für möglich gehalten, dass ein einfacher Spaziergang in Friedenszeiten zu einer heftigen Strafe führen könnte, wenn man die Quarantäneregeln missachtet hatte? Der Protest gegen die Einschränkung der persönlichen Freiheit zeigt sich auch gerade jetzt in Bezug auf die Impfpflicht und es treten tatsächlich schwerwiegende Fragen der grundsätzlichen Freiheit auf, wenn manche Personen einfach nicht mehr ihren Beruf ausüben können, weil sie sich nicht dem Impfzwang unterziehen möchten. Natürlich gibt es auch in dieser Hinsicht überzeugende Gründe, weshalb die Beschneidung unserer Freiheit notwendig war, aber auch diese notwendigen Einschränkungen gehen einher mit einem stärkeren Drang nach Freiheit. Dieser macht uns das Gut der Freiheit mehr schätzen als wir es vielleicht in den letzten Zeiten getan hatten. Es verweist uns vielleicht auch darauf, wie viele Menschen nicht in den Genuss von Freiheit kommen können, weil sie vielleicht tatsächlich im Gefängnis eingesperrt sind, oder auf Institutionen beschränkt leben müssen, oder wie etwa als Asylbewerber sich an einem Ort mit begrenztem Bewegungsradius aufhalten müssen.
Aber ähnlich wie mit dem Gut der Nähe hat auch das Gut der Freiheit seine Schattenseiten. Für manche bedeutet Freiheit völlige Unbeschränktheit, tun zu können was immer man beliebt, Freiheit als Rücksichtslosigkeit. Gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzungen um Masken- und Impfpflicht meldet sich die Notwendigkeit, die Bedingungen der Freiheit näher in Betracht zu ziehen: Freiheit, wie Nähe, muss gestaltet und verantwortet werden, Grenzen der Freiheit sind nicht unbedingt Einschränkungen der Freiheit, sondern die Bedingung für eine verantwortliche Ausübung der Freiheit. Freiheit kann man sich nicht einfach nehmen, sondern sie muss im Zusammenspiel mit anderen gestaltet werden, erst dann wird sie ein uns Menschen dienendes Gut. Ich würde mir wünschen, dass gerade die Auseinandersetzungen über die Grenzen der Beschränkungen, denen wir gegenwärtig ausgesetzt sind, produktiv genutzt werden, um unser Zusammenleben auch in Bezug auf Freiheit neu zu gestalten und zu ermöglichen, auch das wäre für mich ein wünschenswerter „Corona-Bonus“. Nähe und Freiheit, wie wir gesehen haben, sind nicht vom Individuum aus zu sehen, sondern haben ihre besondere Bedeutung für unser menschliches Zusammenleben dadurch, dass sie notwendige Gestaltungselemente von Gemeinschaft sind.
Lebendige Gemeinschaft lebt von Gegenseitigkeit

Das Gut der Gemeinschaft wurde uns auch durch die Pandemie deutlich vor Augen gehalten, indem wir merkten, wie sehr wir auf das Zusammenleben und das Zusammenwirken mit anderen angewiesen sind. Wir waren davon abhängig, dass nicht nur die essentiellen Dienste im Gesundheits- und Sozialwesen weiter funktionierten, sondern auch unsere Lebensmittel-, Energie- und Wasserversorgung, dass uns Post und Pakete noch erreichten, dass wir essentielle Lieferungen an die Türe bekommen konnten, entweder von bezahlten Dienstleistern oder von achtsamen Nachbarn oder Freunden. Wir waren dankbar, dass es soziale Netze in den digitalen Medien gibt, über die wir mit Verwandten und Freunden in Kontakt bleiben konnten, und überhaupt sah die Periode der Pandemie ein Erblühen solcher virtueller Gemeinschaften zu allen möglichen Interessen. All das erleichterte uns die Isolierung und das Gefühl der Einsamkeit und wiesen darauf hin, dass unsere menschliche Existenz auf soziale Gemeinschaft angewiesen ist.
Nun hat aber auch Gemeinschaft ihre Schattenseiten. Die Gefahr dabei ist, dass Menschen zum Beispiel durch die virtuellen Gemeinschaften der sozialen Medien ihre Individualität verlieren oder sich nur noch unter Gleichgesinnten treffen, dass sie nur solche Informationen bekommen, die in eine Richtung gehen und daher leicht manipulieren können, was man selbst denkt. Es kommt ganz darauf an, wie Gemeinschaft gestaltet wird. Ein wesentliches Element von wahrer Gemeinschaft ist die Gegenseitigkeit, die der Abhängigkeit entgegensteht. Auch Reziprozität muss gestaltet werden, muss Anerkennung ausdrücken und nicht nur eine Geste bleiben, und Reziprozität beinhaltet vor allem, dass Mitglieder einer Gemeinschaft unterschiedliche Meinungen, Lebensstile, individuelle Identitäten einbringen können oder gar müssen, um eine Gemeinschaft lebendig zu halten.
Vielleicht helfen die Erfahrungen der Coronakrise auch diesbezüglich, dass wir neu über das Wesen und die Formen der Gemeinschaft nachdenken und die Chance wahrnehmen, die Gemeinschaften, in die wir uns eingebettet glauben als eine selbstverständliche – oder unausweichliche – Sache, neu zu gestalten und zu beleben, indem wir mehr auf Reziprozität und Diversität achten. Gemeinschaft ist nie einfach da und selbstverständlich, das Wertvolle an ihr ist die Gestaltung durch die Beteiligten, auch und gerade, wenn das Veränderungen in bestehenden Gemeinschaften auslöst.
Gewissheit entsteht durch Vertrauen

Und am Ende möchte ich noch auf das Gut der Gewissheit zu sprechen kommen. Die Pandemie hat uns in unseren Gewissheiten fundamental erschüttert, wie wir es eigentlich nie für möglich gehalten hätten. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die ersten Fernsehbilder vom Ausbruch der Epidemie in China, als man Menschen auf der Straße alle mit Gesichtsmasken umhergehen sah. Wir waren gewiss, dass es das nur dort geben könnte, dass wir die entsprechenden Mittel hätten, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, dass es so schnell wie möglich eine medizinische oder technische Lösung des Problems geben würde. Nach der ersten Welle im letzten Jahr waren wir dann schon etwas vorsichtiger mit unserer Gewissheit, dass nun alles wieder normal werden würde. Schließlich arbeitet man ja fieberhaft an Impfstoffen und wir wussten aus vergangenen Gesundheitskrisen, dass man diese „in Griff bekommen“ würde, wie man sagt. Aber nach einem Jahr weiterer Ungewissheit sieht es mit dem „in Griff bekommen“ schon anders aus und nun spricht man schon von der vierten Welle der Pandemie und niemand weiß, wie viele Wellen uns noch bevorstehen. Von welcher Seite ist aber Gewissheit zu erwarten? Die Politiker beziehen sich auf die Wissenschaft und wir hören täglich Interviews mit Virologen, Epidemiologen, Statistikern und anderen Expertinnen, die ihre Einsichten über den möglichen Verlauf der Epidemie geben und wie man sich am besten schützen könnte – aber auch unter ihnen gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen und die Aufrichtigen unter ihnen geben nur hypothetische Prognosen. Auch auf wissenschaftlicher Ebene verkörpert das Virus einen hohen Grad der Ungewissheit, weil es sich in vieler Hinsicht um ein ganz neues Phänomen handelt. Dazu kommt noch, dass wir oft unter den vielen Informationen, die wir durch die Medien und besonders die Sozialen Medien bekommen, nicht unterscheiden können, was sind wirkliche wissenschaftliche Erkenntnisse und was sind Erfindungen oder gar Lügen. All das steigert nicht nur die Unsicherheit der Bevölkerung, wie sie sich verhalten sollte, sondern zersetzt das Vertrauen, das Expertinnen, aber eben auch Politikerinnen eigentlich sollten beanspruchen können.
Aber auch hinsichtlich des Gutes der Gewissheit schöpfe ich Hoffnung aus den Erfahrungen der Pandemie. Wie bei den anderen Gütern, die ich aufgelistet habe, die Nähe, die Freiheit, die Gemeinschaft, ist auch die Gewissheit, die wir uns wünschen, nichts absolut Positives. Wir werden uns vielmehr bewusst, dass es im menschlichen Bereich, und nicht nur hier, eigentlich keine absolute Gewissheit geben kann, bzw. dass wir sogar äußerst skeptisch sein müssen gegenüber jeder Meinung, die sich mit den Attributen der absoluten Gewissheit brüstet. Wenn Wissen so absolut und unerschütterlich vorgetragen wird, handelt es sich nicht um Wissen, sondern um Dogmen und Ideologie.
Wie steht es dann also mit unserer Sehnsucht nach Gewissheit? Viele Menschen finden diese im Glauben, und dies ist auch für nicht-gläubige Menschen bedeutsam, denn gerade der Glaube enthüllt eine Dimension der Gewissheit, die im menschlichen Bereich unerlässlich ist: Gewissheit kommt uns erst durch Vertrauen entgegen, Gewissheit können wir uns nicht holen, sondern wird uns immer geschenkt. Und dies gilt vor allem im zwischenmenschlichen Bereich: Ich meine, statt nach absoluter Gewissheit zu streben ,sollten wir darauf achten, wie wir uns gegenseitig „vergewissern“, dass wir uns durch unsere Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit Vertrauen und damit eine besondere Art der Gewissheit zusprechen. Gewissheit kann nur etwas sein, das wir uns als Menschen gegenseitig ermöglichen, und das bedeutet, dass wir uns gegenseitig ermöglichen, mit Ungewissheit zu leben. Für mich persönlich ist diese Erkenntnis das säkulare, das zwischenmenschliche Äquivalent des Glaubens, denn der Glaube spricht absolute Gewissheit nur Gott zu, und wenn wir uns selbst absolute Gewissheit anmaßen, wollen wir uns zu Göttern machen – und es gibt leider viele führende Persönlichkeiten, die sich als Götter inszenieren und feiern lassen.
Sozialen Zusammenhalt pflegen und Spaltungen überwinden

Darauf laufen also meine Hoffnung und mein Optimismus hinaus: Um uns gegenseitig besser Gewissheit, Nähe, Freiheit und Gemeinschaft schenken zu können, müssen wir das Soziale pflegen, müssen wir darauf Acht geben, wie unser soziales Zusammenleben trotz aller Barrieren und Spaltungen auf Gemeinschaft hin ausgerichtet werden kann, in der jede von uns dennoch Freiheit genießen kann, einer Gemeinschaft, in der Nähe in Sicherheit und unter Wahrung von Grenzen möglich wird. In dieser Hinsicht gibt es tatsächlich jetzt sehr viel zu tun in unseren Gesellschaften, denn ich meine, das Soziale wurde schon lange vor der Krise in vieler Hinsicht nicht nur vernachlässigt, sondern geradezu abgebaut. Wenn die Botschaft in den Schulen, in den Betrieben, im sozialen Zusammenleben vorwiegend die geworden ist, „mache etwas aus dir selbst, mach dich selbständig, erlange die extra Punkte, damit du vor den anderen liegst“, hat dies den sozialen Zusammenhalt schwer geschwächt. Die soziale Distanzierung ist nicht erst durch die Pandemie entstanden, sie war schon lange im Gange.
Wenn wir den sozialen Zusammenhang pflegen auf eine Weise, dass er den Einzelnen genuine Nähe und ihnen gleichzeitig ihre individuelle Freiheit ermöglicht, dann gehen wir mit den Beschränkungen anders um. Vielleicht überwinden wir so nicht nur die Corona Krise, sondern stärken auch die Qualität unsres Lebens in vieler Hinsicht.
Der soziale Zusammenhalt brökelt nicht erst seit der Pandemie: egoistisches Verhalten und Ellebogenmentalität gibt es schon länger.

Thema

Der KVW ist nachhaltig, weil ...

Die drei Säulen der Nachhaltigkeit: Umwelt, Wirtschaft und Soziales
„Es gibt keinen Planet B“: Die Erde ist der einzige Planet, auf dem Menschen leben können.
Nachhaltigkeit begegnet uns immer wieder. So ist von nachhaltiger Lebensweise die Rede, aber auch von nachhaltigem Wirtschaften und die Werbung lässt uns glauben, nachhaltig zu konsumieren. Aber was ist nachhaltig? Nur ein Modewort, das immer gut klingt, aber jeder anders versteht? Oder sogar nur das Schönreden dessen, was wir eigentlich vermeiden wollen: immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. Es lohnt sich also etwas genauer hinzusehen.
Josef Bernhart,
stellvertretender Bezirksvorsitzender
im Vinschgau –
Foto: Eurac Research/Ingrid Heiss
Wenn heute von Nachhaltigkeit als zentraler Herausforderung des 21. Jahrhunderts gesprochen wird, so klingt das sehr aktuell. Aber Nachhaltigkeit ist keine Erfindung von heute. Der Begriff geht auf das Jahr 1713 zurück und hat seinen Ursprung in der Forstwirtschaft. Damals schon forderte der Freiburger Oberbergmann Hans Carl von Carlowitz, dem Wald nur so viel Holz zu entnehmen, wie nachwachsen kann. So sollte der Wald langfristig erhalten bleiben. Das Ziel ist also, dauerhafte Lebensgrundlagen zu schaffen und nicht kurzfristig maximales Gewinnstreben.
… Umwelt, Wirtschaft und Soziales gehören zusammen

Da die Gesellschaft aus mehr als der Wirtschaft besteht, betont das Nachhaltigkeitsdenken unserer Zeit ebenso ökologische wie soziale Aspekte, um langfristig ausgewogene Lebensverhältnisse zu schaffen. Angesprochen sind die drei inhaltlichen Säulen der Nachhaltigkeit: Umwelt, Wirtschaft und Soziales. Nachhaltigkeit als wichtige Handlungsmaxime unserer Zeit heißt somit, alle drei Säulen unter einen Hut zu bringen. Das ist schwierig, viel schwieriger, als uns die Werbestrategen glauben machen. Versuchen wir es einmal am Beispiel des KVW zu verdeutlichen: Unser Verband ist seit seiner Gründung der Nachhaltigkeit verpflichtet, in allen drei Handlungsfeldern. Dabei steht wohl die soziale Dimension ganz oben. Aber auch wir als KVW wissen, man kann noch so sehr sozial denken und handeln, ohne wirtschaftliche Grundlagen kann kein Wohlstand entstehen und möglichst sozial gerecht verteilt werden. Und wenn wir nur schnell viel Wohlstand erwirtschaften wollen, dann leidet sicherlich die Umwelt darunter. Auch den neuen Medien verschließen wir uns nicht, aber genau dort zeigen wir klar auf, dass soziale Netzwerke alles andere als sozial sein können. Deshalb lautet unser Jahresthema auch im Sinne ganzheitlicher Nachhaltigkeit: Digital, kompetent, menschlich.
… ohne Soziales ist alles nichts

Genau genommen ist die soziale Nachhaltigkeit die Grundlage dauerhaften Friedens in der Gesellschaft. Denn nur wenn alle Menschen an wirtschaftlichem Erfolg und gesunder Natur ausgewogen teilhaben können, ist ein friedliches Miteinander möglich. Der KVW bemüht sich um diese soziale Gerechtigkeit. Er setzt sich unentwegt (und damit nachhaltig) dafür ein, allen Bevölkerungsschichten zu Wohnung, Arbeit und Bildung zu verhelfen. Nicht nur in den Städten, sondern bis hin in die ländlichsten Gebiete. Mit unseren 240 Ortsgruppen landesweit sind wir ganz nah bei den Menschen, ihren Anliegen und Bedürfnissen. Ob es unser vielfältiges Kursangebot ist, die Beratung in Arbeits- und Rentenfragen oder einfach die Möglichkeit, sich in geselliger Runde zu treffen, ernsthaft verbandspolitisch bei Tagungen oder spielerisch-informativ in der Seniorenrunde. All das schafft Gemeinschaft und das gerade in unserer Zeit wertvolle Gefühl, dazuzugehören. Für Jung und Alt, Frauen und Männer. Es zeigt auch, worauf es in der immer mehr vom Gewinnstreben geprägten Lebenswelt ankommt: auf menschliche Netzwerke, die niemanden zurücklassen. Das nennt sich heute auch „Work-Life-Balance“ oder „Inklusion“, also die Ausgewogenheit von Arbeits- und Lebenswelt und die Teilhabe aller Menschen mit ihren individuellen Fähigkeiten. Man versteht hier sofort, dass dies auch der Wirtschaft nutzt. Und dass wir uns als KVW bei alledem immer auf die Umwelt besinnen, zeigen unser jahrelanger Einsatz für öffentliche Verkehrsmittel, die Sensibilisierung gegen Plastikmüll oder der stete Aufruf, vor Ort einzukaufen und damit die regionalen Kreisläufe zu unterstützen.
Der ökologische Fußabdruck ist ein Indikator für Nachhaltigkeit. Er beschreibt, wie viel Fläche ein Mensch benötigt, um seinen Lebensstil und Lebensstandard dauerhaft zu ermöglichen.
… die Zukunft beginnt heute: KVW 2030+

Wie aktuell all dies ist, zeigen auch die Vereinten Nationen (UN), die mit ihren 17 Zielen die derzeitige Forderung um eine nachhaltige Entwicklung prägen. Schaut man genau hin, dann könnte es sich ebenso um das Leitbild des KVW handeln, denn genau das ist es, was sich aus der christlichen Soziallehre ableitet und von unserem Verband immer wieder gefordert wird: Gesundheit und Klimaschutz, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit, Menschenwürde, saubere und lebenswerte Gemeinden, bezahlbarer Wohnraum und nachhaltiger Konsum. Wir wissen aber auch: fordern ist zu wenig, jede und jeder einzelne selbst müssen handeln. Gemeinsam als KVW und mit Geleichgesinnten (der lokalen Politik, anderen Vereinen) sind wir aber nachhaltiger. Für uns und die Generationen nach uns.
Text: Josef Bernhart