Thema
Vom „Ich“ und vom „Wir“
Text: Karl Brunner
Neue soziale Fragen
Foto: pexels – ds-stories
Auch wenn es fast schon vergessen erscheint, war das gesellschaftliche Miteinander, das am Beginn der Pandemie in Wort- und Bildmeldungen hochgehalten wurde, einer großen Belastungsprobe ausgesetzt. Der oft gescholtene Individualismus ist eine zu einfache Erklärung dafür, weshalb das neue Thema eine Einladung ist, etwas genauer hinzuschauen und sich mit der Rolle von uns als Individuen in einer Gemeinschaft bzw. in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Vom „Ich“ und vom „Wir“
Wenn kleine Kinder die Kraft ihres Nein entdecken, sprechen viele vom „Trotzalter“. Kinder wären trotzig, schwierig. Das wäre so eine Phase, die alle durchmachen müssten. Was hier der Volksmund etwas abschätzig beschreibt, ist ein wichtiger Moment in der Entwicklung der jungen Menschen. Sie lernen, für sich und die eigenen Gefühle und Interessen einzustehen. Natürlich spüren sie, dass sie dabei weiterhin von ihren Bezugspersonen abhängig bleiben. Sie möchten gerade aufgrund dieser Abhängigkeit herausfinden, wie viel „Ich“ das „Wir“ mit ihren Eltern verträgt. Darf ich meine Bedürfnisse durchsetzen? Werde ich dann noch gemocht? Was zeigen mir meine Eltern davon, wie sie selbst zu ihren Anliegen stehen? Hier wird ein Thema benannt, das uns unser ganzes Leben lang begleitet: Wer bin ich und wo bleibe ich mit meinen Bedürfnissen im Verhältnis zu der Gemeinschaft, deren Teil ich eben auch bin und auch sein will? Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit bleibt trotz der Betonung des „Ich“ in unserer Gesellschaft groß.
Die Versuchung des isolierten „Ich“
„Jeder ist seines Glückes Schmied“ sagt ein Sprichwort. Wie es mit Redensarten so ist, sind sie in der Lage, einiges treffend auf den Punkt zu bringen, anderes aber bleibt unscharf. Es stimmt: Wenn wir unser Leben aktiv in die Hand nehmen und gestalten können, so ist dies ein wichtiger Bestandteil für eine geglückte Entwicklung. Wer das Sprichwort aber so liest, dass wir als Individuen alles in der Hand hätten, um „das Glück machen zu können“, ist auf dem Holzweg. Nur einige ganz kurze Hinweise darauf, dass eine isolierte Betrachtung des „Ich“ an die Grenzen stößt:
Unsere Erbinformationen sind wichtig für unsere Möglichkeiten in unserem Leben. Diese erhalten wir als Kombination der DNA unserer Eltern „geschenkt“.
Wir brauchen alle als kleine Kinder und auch danach immer wieder Pflege und Unterstützung von anderen Menschen. Fehlt sie, gehen wir im wahrsten Sinn des Wortes zu Grunde.
Der finanzielle Hintergrund unserer Herkunftsfamilien ist – so zeigen es eine Reihe von Studien mit großer Evidenz – ein zentraler Faktor für unsere persönlichen Chancen.
Wir benutzen Straßen, die wir nicht selber bauen, besuchen Schulen, deren Lehrpersonen wir nicht selbst anstellen, nutzen Krankenhäuser, die über ein solidarisches Grundgefüge der Gesellschaft finanziert werden, usw.
Die Rede vom „Ich“, das alles alleine schaffen kann, ist eine Mär des Neokapitalismus. Dennoch hält sich dieser Gedanke nachhaltig und ist auch stark in unserem Wertesystem verankert. In der Politik in Österreich war beispielsweise noch vor wenigen Monaten zu hören, dass Leistung sich lohnen und man daher die Sozialhilfe kürzen müsse. Demnach käme es auch bei Unterstützungsleistungen vor allem auf die individuelle Leistungsfähigkeit an. Wenig war davon zu lesen oder zu hören, dass Millionäre und Milliardäre in Österreich nicht selten aufgrund ihres Vermögens – das übrigens oftmals geerbt wurde – und nicht so sehr aufgrund ihrer Leistung mit Zugewinnen rechnen durften. Das macht deutlich, wie zynisch diese Haltung ist: Sie ignoriert nicht nur, wie sehr wir in Wirklichkeit voneinander abhängig sind, sie gibt den Menschen, die Unterstützung benötigen, auch noch das Gefühl, dass sie daran selber schuld sind.
Die Versuchung des überbetonten „Wir“
So wie das „Ich“ falsch verstanden überhöht werden kann, ist dies auch beim „Wir“ möglich. Auch das soll bewusst gemacht werden: Bei aller Wichtigkeit des Miteinanders, kann es nicht darum gehe, in einem „Wir“ aufzugehen. Das Ziel besteht nicht darin, dass wir unsere Indvidualität aufgeben und zu einer gleichförmigen Masse werden. In der Zuspitzung der Impfpflichtdiskussion war des im letzten Jahr anfangs zu spüren. Gruppen standen einander unversönlich gegenüber, die jeweils vorwurfsvoll auf die je andere gezeigt und keinn differenzierten Blick mehr zugelassen haben. Der Ruf nach Anpassung wurde laut und nicht wenige griffen auf erschreckende Ideen zurück, um die Anpassung der Abweichler*innen nach Möglichkeit zu erzwingen. Ein überbetontes „Wir“ ist im Kern aber eine graue Masse von Gehorsamen, die wir uns nicht wünschen sollten. Wir brauchen keine Gesellschaft, in der Widerspruch unerwünscht und Anpassung das einzige Ziel ist. Dies wird der Würde des einzelnen Menschen und seines Reichtums für unsere Gesellschaft nicht gerecht.
Eine fruchtbare Spannung
Als Menschen sind wir immer schon soziale Wesen und Individuen. Wir schreiben alle unsere je eigene Geschichte, die hineingewoben ist in die Menschheitsgeschichte. Wir sind also immer ein „Ich“ in einem „Wir“ und müssen uns beständig in diesem Spannungsverhältnis verorten. Gerade darin aber liegt ein wertvoller Beitrag der christlichen Soziallehre, aus der heraus der KVW Gesellschaft gestalten möchte: Es gilt, der Versuchung der Einseitigkeit – sowohl des „Ich“ als auch des „Wir“ – zu widerstehen und sich für ein verantwortungsvolles Miteinander von autonomen Menschen einzusetzen. Autonomie ist hier ein wichtiger Begriff. Er meint Menschen, die eine freie Entscheidung treffen und im Sinne dieser Entscheidung auch Verantwortung für sich und die Gesellschaft überne: men. Auch wenn es mühsamer ist, sich mit vielen Gedanken und Zugängen auseinandersetzen zu müssen, so bleibt die Demokratie der Königsweg. Dass dies kein Selbstläufer, sondern eine aufwendige Aufgabe ist, haben wir als Gesellschaft wieder lernen dürfen. Der Einsatz für und die nötige Geduld mit demokratischen Prozessen sollen uns jede Mühe Wert sein.
Zusammenfinden, zusammenwirken, Gesellschaft gestalten
Auch in unseren westlichen Gesellschaften, in denen das „Ich“ besonders betont wird, leben wir nachweislich mehr „Wir“ als es auf den ersten Blick scheint. Damit das Miteinander aber zu einer gemeinschaftsfördernden Bewegung werden kann, ist es wichtig, dass sich Menschen aufgrund ihrer freien Wahl mit Überzeugung für eine gemeinsame Sache einsetzen. Diesen Prozess gilt es im Inneren des KVW zu gestalten und zu leben, damit er sich in die Gesellschaft hinein auswirken kann. Das neue Zweijahresthema ist also eine Gelegenheit, dass die Ehrenamtlichen im Verband sich mit Sachkundigkeit über ihr Selbstverständnis und ihre Werthaltungen austauschen. Das wiederum schafft die Grundlage dafür, dass eine gemeinsame Position gefunden werden kann, um dann mit Engagment aus dieser Kraft heraus als Teil der Gesellschaft aktiv zu werden. Das ehrenamtliche Engagment im Verband wird so zu einer Bewegung innerhalb unserer Südtiroler Gesellschaft. Durch die Entfaltung der Strahlkraft der eigenen Werthaltungen wird Gesellschaft aktiv gestaltet. Diese Aufgabe wird herausfordernd, aber auch sehr lohnend sein – für den Verband, seine Mitglieder und für unsere Südtiroler Gesellschaft.
Karl Brunner, geistlicher Assistent im KVW