Thema

Miteinander in Bewegung – damit Gemeinschaft wächst

Text: Werner Steiner
Der Katholische Verband der Werktätigen (KVW) startet in ein neues Arbeitsjahr. Der Landesvorsitzende Werner ­Steiner führt ins Thema ein.
Das neue Jahresthema für unseren Verband lautet: „Miteinander in Bewegung – damit Gemeinschaft wächst“. Der erste Teil des Jahresthemas ist dabei auf die nächsten zwei Jahre ausgelegt, der zweite für das kommende Arbeitsjahr. Es ist uns ein großes Anliegen, den Kerngedanken unserer Bewegung, die Gemeinschaft, wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich beginne mit einem Blick in unser Leitbild. Bereits in der Leitidee definieren wir uns als organisierte Bewegung von arbeitenden Menschen. Die letzten Jahre haben es uns aber erschwert. Wir mussten feststellen, dass die Bewegungsfreiheit durch die Pandemie zusehends eingeschränkt wurde. Nie hätten wir uns vorstellen können, dass unser Leben durch ein Virus eine so große Veränderung erfahren könnte. Das Erleben von Gemeinschaft mit einer Reise, die regelmäßigen Treffen in unseren Seniorenclubs, der gegenseitige Austausch im Bildungsbereich sind Eckpfeiler unserer KVW-Arbeit. Und genau darauf mussten wir verzichten. Die Frage: „Wie wird es wohl weitergehen?“ wurde öfters gestellt. Jetzt wo wir uns wieder in Richtung Normalität entwickeln, ist es uns ein großes Anliegen, unsere Leitidee wieder zu aktivieren. Viele unserer Ortsgruppen haben in den letzten beiden Jahren eine Neuorientierung vorgenommen. Andere wiederum tun sich damit schwer. Hier sind wir gefordert, einander zu unterstützen und in Gemeinschaft Weichen für die Zukunft zu stellen. Die Zusammenarbeit mit der Ortsgruppe in der Nachbarschaft, die Zusammenarbeit im Gebiet und auch die bereits gut ausgebaute Zusammenarbeit in den Bezirken ist für mich ein guter Ansatz in diesem Sinne.
Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten den Wert der Gemeinschaft immer stark betont. In den letzten beiden Jahren konnten wir erstmals so richtig erfahren was es wirklich bedeutet, wenn die Gemeinschaft nicht mehr gelebt werden kann. Wir können uns gegenseitig helfen und unterstützen, wir können die uns so wichtigen sozialen Kontakte pflegen und dadurch unser Leben besser gestalten. In der Gemeinschaft zu leben, erfordert gegenseitigen Respekt. Das eigene Ich wird gestärkt muss aber auch einsehen, dass im Wir noch weitere Potenziale stecken. Die sich ausbreitende neoliberale Lebensweise zeigt uns, dass wir beinahe rücksichtslos auf unseren Vorteil achten: es geht um das schnelle Geld ohne das Gemeinwohl im Auge zu haben. Als KVW sprechen wir uns klar gegen neoliberale Ansätze aus. Unsere Grundwerte bleiben die Sozialprinzipien: Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl. Als Menschen haben wir die Aufgabe uns für die Gemeinschaft einzusetzen und erwarten auch, dass die Gemeinschaft sich für die einzelnen Menschen einsetzt. Nicht jeder Mensch hat dieselben Voraussetzungen und Chancen. Deshalb ist es Aufgabe unseres Verbandes die Bedürfnisse der Schwächeren zu erkennen und Lösungen im Sinne der christlichen Soziallehre zu finden. Dabei müssen wir dynamisch sein und in Bewegung bleiben. Es ist eine besondere Herausforderung, mit der Zeit zu gehen und das eigene Tun immer wieder zu hinterfragen. Wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass das Gemeinwohl in unseren Gemeinschaften thematisiert wird. Wenn wir uns als Ehrenamtliche mit der Planung unserer Tätigkeiten befassen, überlegen wir was unsere Gemeinschaft braucht damit es jedem Menschen möglich wird, ein Leben in Würde zu führen. Der erste Schritt dazu ist es, sich Gedanken über das eigene Gerechtigkeitsempfinden zu machen. Immer wieder können wir uns diese Frage stellen. Dass dabei der verbindenden Kraft der Gemeinschaft eine wichtige Rolle zukommt, fällt sofort auf. Im gemeinsamen Gespräch werden Ansichten vorgebracht und wir können erfahren, wie aus Ideen sich eine Ziel entwickelt. Wenn wir Lösungen „miteinander in Bewegung“ suchen, werden wir sehen, dass „Gemeinschaft wächst“.
Werner ­Steiner, Landesvorsitzender des KVW

Thema

Vom „Ich“ und vom „Wir“

Text: Karl Brunner
Neue soziale Fragen
Foto: pexels – ds-stories
Auch wenn es fast schon vergessen erscheint, war das gesellschaftliche Miteinander, das am Beginn der Pandemie in Wort- und Bildmeldungen hochgehalten wurde, einer großen Belastungsprobe ausgesetzt. Der oft gescholtene Individualismus ist eine zu einfache Erklärung dafür, weshalb das neue Thema eine Einladung ist, etwas genauer hinzuschauen und sich mit der Rolle von uns als Individuen in einer Gemeinschaft bzw. in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Vom „Ich“ und vom „Wir“
Wenn kleine Kinder die Kraft ihres Nein entdecken, sprechen viele vom „Trotzalter“. Kinder wären trotzig, schwierig. Das wäre so eine Phase, die alle durchmachen müssten. Was hier der Volksmund etwas abschätzig beschreibt, ist ein wichtiger Moment in der Entwicklung der jungen Menschen. Sie lernen, für sich und die eigenen Gefühle und Interessen einzustehen. Natürlich spüren sie, dass sie dabei weiterhin von ihren Bezugspersonen abhängig bleiben. Sie möchten gerade aufgrund dieser Abhängigkeit herausfinden, wie viel „Ich“ das „Wir“ mit ihren Eltern verträgt. Darf ich meine Bedürfnisse durchsetzen? Werde ich dann noch gemocht? Was zeigen mir meine Eltern davon, wie sie selbst zu ihren Anliegen stehen? Hier wird ein Thema benannt, das uns unser ganzes Leben lang begleitet: Wer bin ich und wo bleibe ich mit meinen Bedürfnissen im Verhältnis zu der Gemeinschaft, deren Teil ich eben auch bin und auch sein will? Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit bleibt trotz der Betonung des „Ich“ in unserer Gesellschaft groß.
Die Versuchung des isolierten „Ich“
„Jeder ist seines Glückes Schmied“ sagt ein Sprichwort. Wie es mit Redensarten so ist, sind sie in der Lage, einiges treffend auf den Punkt zu bringen, anderes aber bleibt unscharf. Es stimmt: Wenn wir unser Leben aktiv in die Hand nehmen und gestalten können, so ist dies ein wichtiger Bestandteil für eine geglückte Entwicklung. Wer das Sprichwort aber so liest, dass wir als Individuen alles in der Hand hätten, um „das Glück machen zu können“, ist auf dem Holzweg. Nur einige ganz kurze Hinweise darauf, dass eine isolierte Betrachtung des „Ich“ an die Grenzen stößt:
Unsere Erbinformationen sind wichtig für unsere Möglichkeiten in unserem Leben. Diese erhalten wir als Kombination der DNA unserer Eltern „geschenkt“.
Wir brauchen alle als kleine Kinder und auch danach immer wieder Pflege und Unterstützung von anderen Menschen. Fehlt sie, gehen wir im wahrsten Sinn des Wortes zu Grunde.
Der finanzielle Hintergrund unserer Herkunftsfamilien ist – so zeigen es eine Reihe von Studien mit großer Evidenz – ein zentraler Faktor für unsere persönlichen Chancen.
Wir benutzen Straßen, die wir nicht selber bauen, besuchen Schulen, deren Lehrpersonen wir nicht selbst anstellen, nutzen Krankenhäuser, die über ein solidarisches Grundgefüge der Gesellschaft finanziert werden, usw.
Die Rede vom „Ich“, das alles alleine schaffen kann, ist eine Mär des Neokapitalismus. Dennoch hält sich dieser Gedanke nachhaltig und ist auch stark in unserem Wertesystem verankert. In der Politik in Österreich war beispielsweise noch vor wenigen Monaten zu hören, dass Leistung sich lohnen und man daher die Sozialhilfe kürzen müsse. Demnach käme es auch bei Unterstützungsleistungen vor allem auf die individuelle Leistungsfähigkeit an. Wenig war davon zu lesen oder zu hören, dass Millionäre und Milliardäre in Österreich nicht selten aufgrund ihres Vermögens – das übrigens oftmals geerbt wurde – und nicht so sehr aufgrund ihrer Leistung mit Zugewinnen rechnen durften. Das macht deutlich, wie zynisch diese Haltung ist: Sie ignoriert nicht nur, wie sehr wir in Wirklichkeit voneinander abhängig sind, sie gibt den Menschen, die Unterstützung benötigen, auch noch das Gefühl, dass sie daran selber schuld sind.
Die Versuchung des überbetonten „Wir“
So wie das „Ich“ falsch verstanden überhöht werden kann, ist dies auch beim „Wir“ möglich. Auch das soll bewusst gemacht werden: Bei aller Wichtigkeit des Miteinanders, kann es nicht darum gehe, in einem „Wir“ aufzugehen. Das Ziel besteht nicht darin, dass wir unsere Indvidualität aufgeben und zu einer gleichförmigen Masse werden. In der Zuspitzung der Impfpflichtdiskussion war des im letzten Jahr anfangs zu spüren. Gruppen standen einander unversönlich gegenüber, die jeweils vorwurfsvoll auf die je andere gezeigt und keinn differenzierten Blick mehr zugelassen haben. Der Ruf nach Anpassung wurde laut und nicht wenige griffen auf erschreckende Ideen zurück, um die Anpassung der Abweichler*innen nach Möglichkeit zu erzwingen. Ein überbetontes „Wir“ ist im Kern aber eine graue Masse von Gehorsamen, die wir uns nicht wünschen sollten. Wir brauchen keine Gesellschaft, in der Widerspruch unerwünscht und Anpassung das einzige Ziel ist. Dies wird der Würde des einzelnen Menschen und seines Reichtums für unsere Gesellschaft nicht ­gerecht.
Eine fruchtbare Spannung
Als Menschen sind wir immer schon soziale Wesen und Individuen. Wir schreiben alle unsere je eigene Geschichte, die hineingewoben ist in die Menschheitsgeschichte. Wir sind also immer ein „Ich“ in einem „Wir“ und müssen uns beständig in diesem Spannungsverhältnis verorten. Gerade darin aber liegt ein wertvoller Beitrag der christlichen Soziallehre, aus der heraus der KVW Gesellschaft gestalten möchte: Es gilt, der Versuchung der Einseitigkeit – sowohl des „Ich“ als auch des „Wir“ – zu widerstehen und sich für ein verantwortungsvolles Miteinander von autonomen Menschen einzusetzen. Autonomie ist hier ein wichtiger Begriff. Er meint Menschen, die eine freie Entscheidung treffen und im Sinne dieser Entscheidung auch Verantwortung für sich und die Gesellschaft überne: men. Auch wenn es mühsamer ist, sich mit vielen Gedanken und Zugängen auseinandersetzen zu müssen, so bleibt die Demokratie der Königsweg. Dass dies kein Selbstläufer, sondern eine aufwendige Aufgabe ist, haben wir als Gesellschaft wieder lernen dürfen. Der Einsatz für und die nötige Geduld mit demokratischen Prozessen sollen uns jede Mühe Wert sein.
Zusammenfinden, zusammenwirken, Gesellschaft gestalten
Auch in unseren westlichen Gesellschaften, in denen das „Ich“ besonders betont wird, leben wir nachweislich mehr „Wir“ als es auf den ersten Blick scheint. Damit das Miteinander aber zu einer gemeinschaftsfördernden Bewegung werden kann, ist es wichtig, dass sich Menschen aufgrund ihrer freien Wahl mit Überzeugung für eine gemeinsame Sache einsetzen. Diesen Prozess gilt es im Inneren des KVW zu gestalten und zu leben, damit er sich in die Gesellschaft hinein auswirken kann. Das neue Zweijahresthema ist also eine Gelegenheit, dass die Ehrenamtlichen im Verband sich mit Sachkundigkeit über ihr Selbstverständnis und ihre Werthaltungen austauschen. Das wiederum schafft die Grundlage dafür, dass eine gemeinsame Position gefunden werden kann, um dann mit Engagment aus dieser Kraft heraus als Teil der Gesellschaft aktiv zu werden. Das ehrenamtliche Engagment im Verband wird so zu einer Bewegung innerhalb unserer Südtiroler Gesellschaft. Durch die Entfaltung der Strahlkraft der eigenen Werthaltungen wird Gesellschaft aktiv gestaltet. Diese Aufgabe wird herausfordernd, aber auch sehr lohnend sein – für den Verband, seine Mitglieder und für unsere Südtiroler Gesellschaft.
Karl Brunner, geistlicher Assistent im KVW