Thema

EU-Wahlen

Zwischen nationalen Interessen,Integration und Grund- und Menschenrechten
Foto: unsplash / Lukas
Seit 1979 wird das EU-Parlament direkt gewählt. Damals wurde diese Wahl als „nationale Nebenwahl“ bezeichnet, eine second order election. Da als Nebenwahl eingestuft, war auch die Wahlbeteiligung geringer als bei nationalen Hauptwahlen. Bei den letzten EU-Wahlen im Jahre 2019 wählten 50,67 Prozent der wahlberechtigten EU-Bürger:innen. 2014 hatte man mit 42,6 Prozent den Tiefpunkt erreicht.
Dabei verkennen immer noch allzu viele EU-Bürger:innen die Bedeutung der Union. Wesentliche Entscheidungen etwa im Warenverkehr oder im Binnenmarkt werden nämlich in Brüssel entschieden, nicht von den nationalen Regierungen. Schätzungsweise 80 Prozent der Entscheidungen werden von der EU getroffen, nicht von den einzelnen Mitgliedsländern in den nationalen Parlamenten. In den Sektoren Landwirtschaft, Klima, Fischerei oder Umweltschutz fallen zu fast 100 Prozent die Entscheidungen in Brüssel. Die einzelnen Staaten sind dann angehalten, diese Entscheidungen innerstaatlich umzusetzen. Aber es sind keine Entscheidungen von oben, sondern sie werden von allen 27 Mitgliedsländern und dem Europäischen Parlament in Brüssel und in Straßburg getroffen.

Deshalb müsste man den Spiss eigentlich umdrehen. Nicht die EU-Wahlern, sondern die nationalen Wahlen sind second order Wahlen.
Die Europäische Union präsentiert sich heute als ein politisches System besonderer Art, in dem das Parlament im Vergleich zu den anderen europäischen Institutionen sukzessive immer mehr Macht dazugewonnen hat. Zwar gibt der Europäische Rat, in dem die Regierungs- und Staatspräsidenten der Mitgliedsländer vertreten sind, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest; zwar initiiert und exekutiert die EU-Kommission die Beschlüsse des Rates und führt die Programme durch, übt somit eine Art Regierungsfunktion aus, aber es ist das Europäische Parlament, das die europäische Politik über die Wahlen in allen Mitgliedsländern legitimiert.

Es ist allerdings nur mit Einschränkungen ein tatsächliches Parlament, weil diesem die volle Gesetzgebungskompetenz fehlt, aber es ist jedenfalls ein Mitgesetzgeber, dass sich in vielen Politikbereichen die gesetzgebende Gewalt mit dem Rat teilt. Es übt eine demokratische Kontrolle über alle Organe der EU aus, besonders über die Kommission. Es stimmt der Benennung der Kommissionsmitglieder zu oder lehnt sie ab und kann einen Misstrauensantrag gegen die gesamte Kommission einbringen. In letzter Instanz nimmt es den Gesamthaushalt an oder lehnt ihn ab.
Wenn deshalb zwischen dem 6. und 9. Juni (in Italien am 9. Juni) das EU-Parlament gewählt wird, wählen die EU-Bürger:innen den Weg, in welche Richtung die EU gehen soll.

Die Union befindet sich derzeit in keinem guten Zustand. Der Krieg vor der Haustür der Union ruft unter den Mitgliedsländern unterschiedliche Befindlichkeiten hervor. In Ermangelung von Entscheidungsmechanismen, die auf dem Mehrheitsprinzip beruhen, schafft es die EU nicht, eine europäische kollektive Position hervorzubringen. Das betrifft nicht nur den Krieg in der Ukraine, sondern beispielsweise auch die Umwelt- und Klimapolitik. Dadurch ist die EU verdammt, die europäischen Interessen mit den Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten in Einklang zu bringen. Die Disharmonie der nationalen Interessen hat seit der EU-Erweiterung in den Jahren 2004-2007-2013, die vor allem zu einer Osterweiterung geführt hat, zusätzlich zugenommen.

Die Bruchlinien gehen durch Ländergruppen, die durch geographische Nähe zum Krieg und kulturelle Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Die sogenannten „frugalen“ Staaten des Nordens sehen die Aufrüstung als eine Aufgabe der einzelnen Staaten, andere fordern hingegen eine europäische finanzielle Initiative, wie dies für den Fonds „Next Generation EU“ der Fall war. Die Mitgliedsländer im Osten sind wiederum durch Nähe und Entfernung zu Russland gespalten, wie dies für Polen oder Ungarn zutrifft. Und dann gibt es wie immer die Vermittler zwischen den antagonistischen Positionen.

Über die vielen unterschiedlichen Interessen der einzelnen Mitgliedsländer legt sich quer darüber die Bruchlinie zwischen Befürwortern einer weiteren europäischen Integration (supranationaler Charakter, Abtretung von Souveränität an die Union) und jenen, die zurück zum starken Nationalstaaten wollen (intergouvernementaler Charakter ohne Abgabe von Souveränität).

Die proeuropäischen Parteien, welche für ein gemeinsames Haus Europa eintreten (supranationaler Charakter), haben bislang in einer Art großen Koalition die EU regiert: Europäische Volkspartei (Christdemokraten) und Sozialdemokraten. Um diese Mehrheit abzusichern sind die Liberalen und die Grünen dazugekommen.

Jene Parteien, welche die supranationale EU letztlich sprengen wollen, sind in den beiden Parlamentsfraktionen Identität und Demokratie (u.a. spanischen Vox, polnischen Pis, Fratelli d'Italia) sowie Europäische Konservative und Reformer organisiert (u.a. Lega, Alternative für Deutschland, Freiheitliche Partei Österreichs). Es handelt sich um rechtskonservative bis rechtsradikale, nationalistische und illiberale Parteien. Bei diesen Parteien besteht die Gefahr, dass sie einen Weg einschlagen, der beim illiberalen Orban in einem Staat mündet, in dem Grund- und Menschenrechte eingeschränkt oder beseitigt sind.

Das Europa der Union ist aus der negativen Erfahrung des 20. Jahrhunderts entstanden, ist die Antithese der europäischen Nationalismen, belastet mit den Erfahrungen von zwei Weltkriegen. Europa steht vor allem für das, was vermieden werden soll: Nationalismus, religiöse Intoleranz, Revanche, Kriege oder Weltmachtdenken. Hingegen sind mit dem demokratischen, supranationalen Europa die Grund- und Menschenrechte, ist die Menschenwürde verbunden. Bei den anstehenden EU-Wahlen geht es vor allem darum.
Text: Günther Pallaver
Foto: Eurac Research
Günther Pallaver
ist emeritierter Universitätsprofessor für Politikwissenschaft und arbeitet derzeit am Institut für vergleichende Föderalismusforschung an der Eurac in Bozen.

KVW Aktuell

Mitdenken, Mitreden, Mitbestimmen

Aktion zu den bevorstehenden Europawahlen des Bezirk Bozen
Es ist eine zentrale Aufgabe der Sozialverbände, sich immer wieder in soziale und gesellschaftspolitische Fragen einzumischen. Bürgerbeteiligung ist wichtig. Die Menschen sollen ermutigt werden, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen und bei der Europawahl am 8. und 9. Juni ihre Stimme abzugeben.


Im vergangenen Jahr wurden anlässlich der Landtagswahlen eigens Aufsteller mit Botschaften angefertigt und an die verschiedenen Ortsgruppen verteilt, um auf das Wahlrecht und die Wahlpflicht aufmerksam zu machen. Die Aktion zur Landtagswahl hat viele Menschen im Bezirk Bozen erreicht: Ähnliches soll nun auch bei der EU-Wahl geschehen.


Auf 6 Säulen, die in den Dörfern des Bezirks aufgestellt werden, werden Initiativen vorgestellt, die es ohne die Unterstützung der Europäischen Union nicht geben würde. In Zusammenarbeit mit der Europaabteilung der Autonomen Provinz Bozen wurden aussagekräftige Projekte ausgewählt, die von Umweltmaßnahmen bis hin zu Sozialprojekten reichen, ausgewählt und auf einer Seite der farbenfrohen Aufsteller vorgestellt. Auf den beiden anderen Seiten sind KVW-Mitglieder mit einem Statement abgebildet, während auf der dritten Seite allgemeine Informationen zur Wahl und zur EU zu finden sind.

Aufklärung und Information haben im KVW seit jeher einen hohen Stellenwert. Mit dieser Aktion möchte der KVW Bezirk Bozen die Südtirolerinnen und Südtiroler mobilisieren und motivieren, bei den Europawahlen verantwortungsvoll ihre Stimme abzugeben. Schließlich bietet die Europawahl die Chance, Abgeordnete zu wählen, die die Anliegen des KVW wie soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und eine menschenwürdige Asylpolitik im Europäischen Parlament vertreten.