Thema
Einer für alle, alle für einen!
Solidarität ist das Fundament unserer Gesellschaft
Das christliche Verständnis der Solidarität ist mit dem Gedanken des Gemeinwohls verbundenWilhelm Guggenberger
“Die Solidarität ist eine spontane Reaktion dessen, der die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter als Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz. Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht.” So Papst Franziskus in seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium Nr. 189. Man mag diesen Satz als fromme Formel abtun und rasch darüber hinweg lesen. Mitunter wird das gesamte programmatische Schreiben ein wenig in das Eck der Sakristei gestellt, wenn etwa der Wirtschaftsethiker Ingo Pies schreibt: “Das Hauptthema des apostolischen Schreibens ist ein binnenkirchlicher Reformimpuls.” Der soll die Kirche im theologischen Sinn zur Kirche der Armen machen, wobei der Begriff theologisch hier durchaus mit der Absicht verwendet wird, den Papst bloß nicht zu viel gesellschaftspolitischen Staub aufwirbeln zu lassen. Damit machen wir es uns aber wohl etwas zu leicht.
Text: Wilhelm Guggenberger
Worauf wir bauen können
Der Begriff der Solidarität leitet sich vom lateinischen solidum ab. Wie noch heute im Italienischen (solido), bezeichnet das einen festen Körper, aber auch Festigkeit und Sicherheit. Auch die deutsche Sprache charakterisiert als solid etwas, auf das man sich verlassen, worauf man bauen kann. Solidarität ist damit das Fundament unserer Gesellschaft, ja ich würde sagen, jeder Gesellschaft. Denn wie sollte etwas entstehen können, das mehr ist, als eine bloß zufällige Ansammlung von Individuen, wenn es keinen Zusammenhalt durch wechselseitige Verantwortung gäbe, kein Einstehen füreinander, kein Bewusstsein dafür, dass ich in einer Gemeinschaft nur dann Rechte geltend machen kann, wenn ich auch Pflichten wahrnehme? Das Motto der Drei Musketiere wird daher gern als Kurzformel für Solidarität gebraucht: Einer für alle, alle für einen! Wo jeder bereit ist, sich für die Gemeinschaft zu engagieren, entsteht ein solider Rückhalt, der niemanden schutzlos lässt.
Alle im selben Boot
Das christliche Verständnis der Solidarität ist darüber hinaus mit dem Gedanken des Gemeinwohls verbunden, den Papst Franziskus ebenfalls aufgreift. Die Gemeinschaft, die zusammenhält, darf kein elitärer Kreis sein. Wo eine Volksgruppe unter sich bleiben will, greift Solidarität ebenso zu kurz, wie im Fall der selbstgenügsamen Abkapselung einer Konfession, einer Familie, einer Nation, oder eines ganzen Kontinents, der seine Grenzen dicht macht. Mitunter hört man heute den Begriff vom „Raumschiff Erde”. Damit ist gemeint, dass wir alle im selben Boot sitzen; die sieben MilliardenMenschen auf diesem Planeten, sowie unsere Mitgeschöpfe in der Tier- und Pflanzenwelt. Da es nur dieses eine Boot für uns gibt, sind sogar die mit an Bord, die noch gar nicht geboren sind. Denn von uns hängt es ab, ob sie noch eine Welt vorfinden werden, die lebenswert ist. Auf dem Raumschiff Erde gibt es nun aber luxuriöse Promenadendecks, es gibt ein einfaches Zwischendeck und es gibt ein weitläufiges Unterdeck, in dem es ziemlich elend und düster aussieht. Man mag angesichts dessen an das Wort Jesu denken: “Arme habt ihr immer beieuch.” (Mt 26,11) Dieser Satz sagt einerseits, dass die ungleiche Verteilung von Wohlstand etwas ist, das offenbar eine Konstante in der Menschheitsgeschichte darstellt. Andererseits weist Jesus damit auch Judas zurecht, der der Bedeutung einer einmaligen Geldspende an die Armen zu große Bedeutung beimisst. Ganz in diesem Sinn spricht Papst Franziskus von einer neuen Mentalität, die es zu schaffen gilt. Denn das “Wort Solidarität hat sich ein wenig abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als einige großherzige Taten.” (EG Nr. 188) Die angesprochene neue Mentalität muss den Lebenschancen aller den Vorrang gegenüber der Wohlstandsmehrung für einige wenige einräumen. Wem das wirklich bewusst wird, ja wem diese Verantwortung in Fleisch und Blut übergeht, wie der Papst weiter formuliert, der wird sich selbst nur noch als Verwalterin oder Verwalter dessen wahrnehmen können, was er besitz. Auch wenn nichts Schlechtes daran ist, zu sagen, dass etwas mir gehört, so muss doch immer die Überlegung mitschwingen: Wirft das, was ich mein Eigentum nennen darf, auch positive Früchte für andere ab?
Spontanes Empfinden reicht nicht aus
In dem großen Raumschiff Erde können wir die konkrete Gestaltung der Solidarität nicht einfach unserem individuellen Handeln und unseren spontanen Empfindungen überlassen. Die Not in der unmittelbaren Nachbarschaft findet dankenswerterweise in den meisten Fällen rasche Hilfe. Das dürfen wirimmer wieder erleben, kommt ein Familienerhalter ums Leben, brennt ein Haus ab, verursachen Hochwasser oder Muren große Schäden. Die konkreten Gesichter der Verzweiflung von Flüchtlingen vor Lampedusa rütteln uns auf und bringen zumindest zum Nachdenken. Was aber ist mit all jenen im Unterdeckdes Raumschiffs Erde, deren Elend uns nie medial ins Bewusstsein gebracht wird? Tausendfach leiden und sterben Menschen, ohne dass jemand am Promenadendeck davon Kenntnis nimmt. Lebensräume am anderen Ende der Welt werden zerstört, mit verursacht durch unseren Lebensstil hier in Mitteleuropa. Mitdieser Not der unbekannten Dritten ist unser spontanes Mitgefühl überfordert. An dieser Stelle muss mit dem Aufbau von Strukturen begonnen werden, die den Armen das zurückgeben, was ihnen zusteht, nämlich die gleiche Würde und das gleiche Recht auf ein gutes Leben, das wir auch für uns einfordern. Solche Strukturen werden mitunter durch gemeinnützige Vereine und Hilfsorganisationen geschaffen, sie bedürfen aber immer auch der öffentlichen Meinungsbildung und rechtlicher Grundlagen. Solidarität muss daher in der politischen Gestaltung unserer Welt wirksam werden. Ein Gesetz, das sagt:“Flüchtlinge, die in Italien an Land gespült werden, gehen uns in Österreich oder Deutschland nichts an, da das erste Land der EU, das sie betreten, für sie zuständig ist”, würgt Solidarität strukturell ab. Eine Steuergesetzgebung, die immer weniger Wert auf Umverteilung und den Ausgleich zwischen Arm und Reich legt, unterhöhlt das gesellschaftliche Fundament der Solidarität systematisch. Allerdings: Wenn wir uns mit solchen Strukturen abfinden und nicht die Stimme dagegen erheben, ist das wohl auch ein Hinweis darauf, dass die Haltung der Solidarität uns eben noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist. Gesinnung und Gesetz, Neigung und Norm sind zwei Seiten derselben Münze; das eine bleibt ohne das andere wirkungslos.
Soziale Dimension der Evangelisierung
Können gesellschaftspolitische Strukturen, ja gesetzliche Normen aber wirklich ein Thema der Kirche sein? Hat ein Papst das Recht, sich in diese Fragen einzumischen? Ich denke, ja! Kirche und Papst haben dazu nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht. Freilich dürfen wir als Christinnen und Christen nicht meinen, wir könnten die Politik bestimmen oder autoritäre Vorgaben machen. Dort wo wir als Bürgerinnen und Bürger Mitspracherecht und Mitgestaltungsmöglichkeit haben gilt es aber die vielfach gefährdete Solidarität zu stärken, und es gilt ihre Bedeutung im Bewusstsein zu halten. Das ist ebenso Teil von Evangelisierung wie Liturgie und Verkündigung des Gotteswortes, denn, und damit kann ich - nochmals mit Papst Franziskus - schließen: “Der Mangel an Solidarität gegenüber den Nöten des Armen beeinflusst unmittelbar unsere Beziehung zu Gott: ‘Verbirg dich nicht vor dem Verzweifelten und gib ihm keinen Anlass, dich zu verfluchen. Schreit der Betrübte im Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels, auf sein Wehgeschrei hören’ (Sir 4,5-6). Immer kehrt die alte Frage wieder: ‘Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?’ (1 Joh 3,17).” (EG Nr. 187) Man könnte hinzufügen: wie sollte uns der, dessen Wehgeschrei wir nicht hören, Glauben schenken, wenn wir von der Liebe Gottes sprechen.
Zur Person
Wilhelm Guggenberger, Studiendekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts „De Pace Fidei“ der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen.Text: Wilhelm Guggenberger