Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser


Ingeburg GurndinIngeburg Gurndin

Im Juni 1954 - also vor genau 60 Jahren - erschien die erste Ausgabe von„Arbeit und Gemeinschaft“. So hieß das KVW Blattl über viele Jahre, es wurde dann zu einer Zeitschrift mit Bildern, später auch in Farbdruck. 1995 wurde die Zeitschrift in „Kompass“ umbenannt.
Im Vorwort der ersten Ausgabe wurden die Leserinnen und Leser mit einem „Grüß Gott!“ begrüßt. Das Blatt wollte ein „Weckruf“ sein, „Kunde bringen“, zum „Herzen finden“ und „Freund, Berater und Schützer“ sein.
Wenn wir es heute auch nicht so ausdrücken würden, im Grunde hat sich die Aufgabe der KVW Zeitschrift in den vergangenen 60 Jahren nicht grundlegend verändert.
Wir wollen unsere Leserinnen und Leser über das aktuelle, soziale und gesellschaftspolitische Leben auf dem Laufenden halten. Wir informieren und geben Tipps in den Bereichen Sozialfürsorge, Steuern, Renten. Der KVW will mündige, informierte und selbstverantwortliche BürgerInnen, die über ihre Rechte und Möglichkeiten Bescheid wissen, die die Angebote und Dienstleistungen des Verbandes für sich nutzen.

In dieser Ausgabe des Kompass ist die Wahl zum EU-Parlament ein Schwerpunktthema.
Außerdem freut es uns, dass der bekannte Professor für Christliche Gesellschaftsethik, Friedhelm Hengsbach, in der Rubrik „Was ist sozial“ seine Sichtweise darlegt und so die Darstellung des Sozialen bereichert.

Ingeburg Gurndin

KVW Soziales

Ein soziales Europa in weiter Ferne?

Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung
„Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur, nie wieder Kapitalismus!“ Ein solches Bekenntnis hat sechs europäische Staaten 1957 dazu gedrängt, die Römischen Verträge zu unterzeichnen. Doch was den Regierungschefs damals vorschwebte, ist bis heute ein Torso geblieben. Der Wirtschaftsgemeinschaft,dem gemeinsamen Binnenmarkt und der Währungsunion fehlen die politische Architektur und eine gleichwertige soziale Dimension.

Friedhelm Hengsbach, Jesuit und SozialethikerFriedhelm Hengsbach, Jesuit und Sozialethiker

Die Römischen Verträge bekunden zwar die Absicht, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken. Ein Kohäsionsfonds soll die regionalen Ungleichgewichte verringern. Und die Kommission beschließt verbindliche Richtlinien zur Arbeitszeitgestaltung und zur Gleichstellung der Frauen. Aber über die Gestaltung der Sozialpolitik und das Profil des Sozialstaats entscheiden die Mitgliedsländer selbst. Sie vergleichen allenfalls in der offenen Methode der Koordination ihre sozialen Systeme miteinander und tauschen Erfahrungen aus. Folglich bleibt es vorerst beim nationalen Sozialstaat, derden Auftrag erfüllt, die Bürgerinnen und Bürger vor gesellschaftlichen Risiken zu schützen, deren Eintritt ihnen selbst nicht zuzurechnen ist. Nun sind die europäischen Staaten markt- und erwerbswirtschaftlich organisierte Demokratien. Folglich soll der Sozialstaat die Individuen, damit sie nicht zur bloßen Ware werden, gegen Marktrisiken absichern: gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Erwerbsunfähigkeit sowie – in einer patriarchalen Gesellschaft – die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht.
In Europa konkurrieren zwei Typen des Sozialstaats miteinander. Der „Bismarck“-Typ beispielsweise in Deutschland, Österreich und Italien gewährleistete eine gesetzliche Alterssicherung, die an eine kontinuierliche Erwerbsbiografie gekoppelt war, durch Beiträge finanziert wurde und ein komfortables Niveau erreichte. Allerdings unterstellt er ein Familienmuster, das den Männern die Erwerbsarbeit, den Frauen die Familienarbeit zuwies. Der „Beveridge“-Typ dagegen in Skandinavien, Großbritannien und den Niederlanden garantierte jeder Person ein steuer-finanziertes erwerbsunabhängiges Existenzminimum und verpflichtete die Unternehmen zu einer betrieblichen Zusatzversicherung. Die Erwerbsquote der Frauen liegt nicht erheblich unter derjenigen der Männer.
Unter dem Vorwand globaler Standortkonkurrenz und demografischen Wandels haben die Regierenden in den 1990er Jahren die sozialen Sicherungssysteme demontiert. In den Ländern des Bismarck-Typs wird sich das gesetzliche Rentenniveau selbst bei langjähriger Erwerbsarbeit dem Niveau der Fürsorge annähern. Das amtliche Werben um eine freiwillige private Altersvorsorge geht an der Lebenslage der atypisch, unsicher und prekär Beschäftigten vorbei. So ist das Risiko einer dramatischen Altersarmut insbesondereder Frauen vorprogrammiert.
Wie ist die wachsende Polarisierung innerhalb der europäischen Staaten und zwischen ihnen zu stoppen? Erwerbsarbeit, Arbeit in der Privatsphäre und ziviles Engagement müssen auf Männer und Frauen fair verteilt werden – Frauen wünschen mehr Erwerbsarbeit, Männermehr Familienarbeit. Die Erwerbsarbeit ist kollektiv zu verkürzen und auf personennahe Dienste im Bildungs-, Gesundheits- und Pflegebereich umzuschichten. Der Staat muss die Umverteilung von unten nach oben stoppen und die Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung rückgängig machen. Erst wenn der Sozialstaat der Mitgliedsländer wiederbelebt wird, rückt ein soziales Europa näher.

Text: Friedhelm Hengsbach SJ
Zur Person
Friedhelm Hengsbach SJ, geboren 1937, ist Mitglied des Jesuitenordens. Er hat Philosophie, Theologie und Wirtschaftswissenschaften studiert und war Professor für Christliche Gesellschafts­ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main sowie Leiter des Oswald von Nell-Breuning Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.