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Europa ist gemeinsame Zukunft

Die Erklärung des Rates der EKD zur Lage Europas
Vor einer existentiellen Gefährdung des Friedensprojekts Europas hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gewarnt. Die Europäische Union stehe „am Scheideweg“, heißt es in einer Ende April einstimmig verabschiedeten Erklärung des Rates der EKD. Die Errungenschaften Europas würden durch Populisten, Extremisten und den schwindenden Rückhalt in den Mitgliedsstaaten grundlegend bedroht.

Gemeinsame Lösungen für die aktuellen Herausforderngen suchen, das ist der europäische Gedanke. Foto: Pixelio.de / D. SchützGemeinsame Lösungen für die aktuellen Herausforderngen suchen, das ist der europäische Gedanke. Foto: Pixelio.de / D. Schütz

Die Erde ist des Herrn (Psalm 24)

Die Einigung Europas mit der Überwindung historischer Feindschaften nach 1945 hat den beteiligten Staaten eine nie dagewesene Phase des Friedens und der Freundschaft, der wirtschaftlichen Stärke und Stabilität sowie des Aufbaus demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen gebracht.
Fünfundzwanzig Jahre nach der Überwindung von Diktatur und Spaltung in Europa steht die Europäische Union am Scheideweg. Die freiheitlichen, sozialen, ökonomischen und moralischen Errungenschaften des Friedensprojektes Europa werden von Populisten und Extremisten und dem schwindenden Rückhalt in den Mitgliedsstaaten existenziell bedroht. Auch das Wachsen sozialer Ungleichheiten, die Jugendarbeitslosigkeit und die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich schaffen Enttäuschungen und gefährden den Zusammenhalt in Europa.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) spricht sich in dieser Situation für ein gestärktes, solidarisches und weltoffenes Europa aus. Europa muss als Wertegemeinschaft deutlich erkennbar bleiben, seine sozialen Konturen schärfen und der Jugend eine Perspektive geben.
In der Präambel des Vertrags über die Europäische Union verpflichten sich die Staaten ausdrücklich auf die „Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“, die sich „aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ entwickelt haben. Sie drücken ihren Wunsch aus, „die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken“.
Diese Werte haben ihre Wurzel auch in der Tradition des christlichen Glaubens. Nur gemeinsam haben die Mitgliedsstaaten der EU in einer international vernetzten Welt eine Zukunft, in der diese Errungenschaften erhalten werden können. Europa ist unsere gemeinsame Zukunft.
Die EKD setzt auf die kulturellen, ethischen und sozialen Ressourcen Europas und seine ökonomische Kraft. Dem europäischen und dem christlichen Geist entspricht es, sich über Grenzen hinaus selbstbewusst zu öffnen. Als EKD engagieren wir uns deshalb für ein Europa der versöhnten Verschiedenheit, das sich seiner weltweiten Verantwortung stellt.
Die Solidarität mit Geflüchteten ist eine Konsequenz aus dem christlichen Glauben, der sich dem Auftrag verpflichtet weiß, für eine gerechte und barmherzige Gesellschaft einzutreten. Die EKD fordert die Mitgliedstaaten der EU auf, sich für die Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems mit einheitlich hohen Schutzstandards einzusetzen. Dazu gehört ein Verteilsystem für Flüchtlinge, das auch die Interessen der Asylsuchenden berücksichtigt.
Die europäische Antwort auf die Flüchtlingsfrage darf sich nicht darin erschöpfen, auf Abschreckung und möglichst niedrige Standards zu setzen.
Die getroffene Vereinbarung der EU mit der Türkei darf nicht zu einer Verlagerung ihrer eigenen Verantwortung führen. Schutzsuchenden muss es weiterhin möglich sein, ihre Asylgründe in einem EU-Staat überprüfen zu lassen. Sie an Drittstaaten zu verweisen, wenn menschenrechtliche Standards dort nicht garantiert werden können, lehnt die EKD ab.
Das anhaltende Leid und tausendfache Sterben Schutzsuchender auf dem Weg nach Europa machen zudem deutlich: Wir brauchen sichere und legale Wege für Schutzsuchende und Migranten in die Europäische Union. Opfer von Gewalt und Terror an Grenzzäunen mit Waffengewalt abzuwehren oder im Mittelmeer ertrinken zu lassen, beschädigt die Seele Europas.
Die Kirchen haben in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit geleistet. Der Rat ist der Überzeugung, dass es die Aufgabe und Verpflichtung aller Religionen ist, sich für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen einzusetzen. Die Evangelische Kirche in Deutschland ruft ihre Schwesterkirchen in Europa und alle Menschen, denen die europäischen Errungenschaften am Herzen liegen, dazu auf, gegen die Erosion des Vertrauens in die europäische Idee aufzustehen und um gemeinsame Lösungen für die aktuellen Herausforderungen zu streiten. Um das Vertrauen in die europäische Idee wiederzugewinnen, tritt die EKD für eine mutige Debatte um die Zukunft Europas ein. Europa braucht überzeugte Europäerinnen und Europäer!

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Was ist mit dir los, Europa?

Diese Frage stellte Papst Franziskus in seiner Dankesrede für die Verleihung des Karlspreises
Für seine Verdienste um Europa ist Papst Franziskus mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet worden. Franziskus wurde für sein herausragendes Engagement „für Frieden, Verständigung und Barmherzigkeit“ geehrt. Nach der Preisverleihung forderte der Papst Europa dazu auf, sich an seine Gründerväter und deren Ideale zu erinnern.

FOTO: BUNDESREGIERUNG/GÜNGÖRFOTO: BUNDESREGIERUNG/GÜNGÖR

Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?
Die Übertragung des Gedächtnisses macht es uns möglich, uns von der Vergangenheit inspirieren zu lassen, um mutig dem vielschichtigen mehrpoligen Kontext unserer Tage zu begegnen und dabei entschlossen die Herausforderung anzunehmen, die Idee Europa zu „aktualisieren“ – eines Europa, das imstande ist, einen neuen, auf drei Fähigkeiten gegründeten Humanismus zur Welt zu bringen: Fähigkeit zur Integration, Fähigkeit zum Dialog und Fähigkeit, etwas hervorzubringen.
Fähigkeit zur Integration
Die Wurzeln unserer Völker, die Wurzeln Europas festigten sich im Laufe seiner Geschichte. Dabei lernte es, die verschiedensten Kulturen, ohne sichtliche Verbindung untereinander, in immer neuen Synthesen zu integrieren. Die europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität.
Die Politik weiß, dass sie vor dieser grundlegenden und nicht verschiebbaren Arbeit der Integration steht. Wir wissen: »Das Ganze ist mehr als der Teil, und es ist auch mehr als ihre einfache Summe.« Wir sind aufgefordert, eine Integration zu fördern, die in der Solidarität die Art und Weise findet, wie die Dinge zu tun sind, wie Geschichte gestaltet werden soll. Es geht um eine Solidarität, die nie mit Almosen verwechselt werden darf, sondern als Schaffung von Möglichkeiten zu sehen ist, damit alle Bewohner unserer – und vieler anderer – Städte ihr Leben in Würde entfalten können. Die Zeit lehrt uns gerade, dass die bloß geografische Eingliederung der Menschen nicht ausreicht, sondern dass die Herausforderung in einer starken kulturellen Integration besteht.
Auf diese Weise wird die Gemeinschaft der europäischen Völker die Versuchung überwinden können, sich auf einseitige Paradigmen zurückzuziehen und sich auf „ideologische Kolonialisierungen“ einzulassen. So wird sie vielmehr die Größe der europäischen Seele wiederentdecken, die aus der Begegnung von Zivilisationen und Völkern entstanden ist, die viel weiter als die gegenwärtigen Grenzen der Europäischen Union geht und berufen ist, zum Vorbild für neue Synthesen und des Dialogs zu werden. Das Gesicht Europas unterscheidet sich nämlich nicht dadurch, dass es sich anderen widersetzt, sondern dass es die Züge verschiedener Kulturen eingeprägt trägt und die Schönheit, die aus der Überwindung der Beziehungslosigkeit kommt.
Die Fähigkeit zum Dialog
Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur Erschöpfung wiederholen müssen, dann lautet es Dialog. Wir sind aufgefordert, eine Kultur des Dialogs zu fördern, indem wir mit allen Mitteln Instanzen zu eröffnen suchen, damit dieser Dialog möglich wird und uns gestattet, das soziale Gefüge neu aufzubauen. Die Kultur des Dialogs impliziert einen echten Lernprozess sowie eine Askese, die uns hilft, den Anderen als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen, und die uns erlaubt, den Fremden, den Migranten, den Angehörigen einer anderen Kultur als Subjekt zu betrachten, dem man als anerkanntem und geschätztem Gegenüber zuhört.
Der Frieden wird in dem Maß dauerhaft sein, wie wir unsere Kinder mit den Werkzeugen des Dialogs ausrüsten und sie den „guten Kampf“ der Begegnung und der Verhandlung lehren. Auf diese Weise werden wir ihnen eine Kultur als Erbe überlassen können, die Strategien zu umreißen weiß, die nicht zum Tod, sondern zum Leben, nicht zur Ausschließung, sondern zur Integration führen.
Diese Kultur des Dialogs, die in alle schulischen Lehrpläne als übergreifende Achse der Fächer aufgenommen werden müsste, wird dazu verhelfen, der jungen Generation eine andere Art der Konfliktlösung einzuprägen als jene, an die wir sie jetzt gewöhnen. Heute ist es dringend nötig, „Koalitionen“ schaffen zu können, die nicht mehr nur militärisch oder wirtschaftlich, sondern kulturell, erzieherisch, philosophisch und religiös sind. Koalitionen, die herausstellen, dass es bei vielen Auseinandersetzungen oft um die Macht wirtschaftlicher Gruppen geht. Es braucht Koalitionen, die fähig sind, das Volk vor der Benutzung durch unlautere Ziele zu verteidigen. Rüsten wir unsere Leute mit der Kultur des Dialogs und der Begegnung aus.
Die Fähigkeit, etwas hervorzubringen
Der Dialog und alles, was er mit sich bringt, erinnern uns daran, dass keiner sich darauf beschränken kann, Zuschauer oder bloßer Beobachter zu sein. Alle, vom Kleinsten bis zum Größten, bilden einen aktiven Part beim Aufbau einer integrierten und versöhnten Gesellschaft. Diese Kultur ist möglich, wenn alle an ihrer Ausgestaltung und ihrem Aufbau teilhaben. Die gegenwärtige Situation lässt keine bloßen Zaungäste der Kämpfe anderer zu. Sie ist im Gegenteil ein deutlicher Appell an die persönliche und soziale Verantwortung.
In diesem Sinne spielen unsere jungen Menschen eine dominierende Rolle. Sie sind nicht die Zukunft unserer Völker, sie sind ihre Gegenwart. Schon heute schmieden sie mit ihren Träumen und mit ihrem Leben den europäischen Geist. Wir können nicht an ein Morgen denken, ohne dass wir ihnen eine wirkliche Teilhabe als Träger der Veränderung und des Wandels anbieten. Wir können uns Europa nicht vorstellen, ohne dass wir sie einbeziehen und zu Protagonisten dieses Traums machen.
Es braucht würdige und lukrative Arbeitsplätze
Kürzlich habe ich über diesen Aspekt nachgedacht, und ich habe mich gefragt: Wie können wir unsere jungen Menschen an diesem Aufbau teilhaben lassen, wenn wir ihnen die Arbeit vorenthalten? Wenn wir ihnen keine würdigen Arbeiten geben, die ihnen erlauben, sich mit Hilfe ihrer Hände, ihrer Intelligenz und ihren Energien zu entwickeln? Wie können wir behaupten, ihnen die Bedeutung von Protagonisten zuzugestehen, wenn die Quoten der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung von Millionen von jungen Europäern ansteigen? Wie können wir es vermeiden, unsere jungen Menschen zu verlieren, die auf der Suche nach Idealen und nach einem Zugehörigkeitsgefühl schließlich anderswohin gehen, weil wir ihnen hier in ihrem Land keine Gelegenheiten und keine Werte zu vermitteln vermögen?
Wenn wir unsere Gesellschaft anders konzipieren wollen, müssen wir würdige und lukrative Arbeitsplätze schaffen, besonders für unsere jungen Menschen.
Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen
Das erfordert die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die in höherem Maße inklusiv und gerecht sind. Sie sollen nicht darauf ausgerichtet sein, nur einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft. Und das verlangt den Übergang von einer „verflüssigten“ Wirtschaft zu einer sozialen Wirtschaft. Ich denke zum Beispiel an die soziale Marktwirtschaft. Es ist nötig, von einer Wirtschaft, die auf den Verdienst und den Profit auf der Basis von Spekulation und Darlehen auf Zinsen zielt, zu einer sozialen Wirtschaft überzugehen, die in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schafft.Wenn wir eine menschenwürdige Zukunft anstreben wollen, wenn wir eine friedliche Zukunft für unsere Gesellschaft wünschen, können wir sie nur erreichen, indem wir auf die wahre Inklusion setzen: »die, welche die würdige, freie, kreative, beteiligte und solidarische Arbeit gibt«.
(gekürzt)