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Ein Philosoph im weißen Kittel
Interview mit Dr. Claudio Graiff, 19 Jahre Primar der Onkologie Bozen
Er war der erste Primar der Abteilung für Onkologie, die 1999 von Medizin 2 ausgekoppelt wurde, Dr. Claudio Graiff, geboren 1954 in Bozen, Medizinstudium in Pavia und drei Spezialisierungen in Onkologie, Hämatologie und Radiotherapie. Sein letzter Arbeitstag auf der Abteilung, Freitag 25. September, fiel auch mit einem Konzert der "Donatori di Musica” zusammen.
Primar Dr. Claudio Graiff
Chance: Dr. Graiff, heute (25. September, Anm. D. Red.) ist ihr letzter Arbeitstag nach vielen Jahren, die sie sozusagen in der ersten Line verbracht haben, im Kampf gegen diese Krankheit, die als Geißel der Menschheit gilt. Die Therapien haben sich in den letzten zwanzig Jahren grundlegend geändert. Neue Techniken, neue Verfahren, revolutionäre Forschungsergebnisse und neue Medikamente. Nicht leicht dabei immer auf dem letzten Stand zu bleiben und das Wichtigste nicht aus den Augen zu verlieren – die Beziehung zum Patienten. Was werden sie ab morgen tun, ein Arzt, der sozusagen auf dem Höhepunkt seines Wissens und seiner Erfahrung steht?
Dr. Graiff: Keine Sorge, es ist nicht so, dass ich ab morgen die Hände in den Schoß lege. Ich habe noch Vieles abzuschließen, bürokratische Angelegenheiten und so. Ich bin weiterhin Mitglied verschiedener Kommissionen, des Ethik-Komitees, ich bin Revisor verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften, ich bin in Forschungsprojekte eingebunden. Und ich werde mein Projekt der „Donatori di Musica“ weiterhin betreuen, werde mich im Volontariat einsetzen und ich schließe auch nicht aus, dass ich irgendetwas Neues beginne. Eine Tür schließt sich, die nächste öffnet sich!
Chance: Sie sind Mitbegründer der Donatori di Musica”, ein Projekt, das 2007 gestartet ist und 2013 mit dem Alexander Langer Preis ausgezeichnet wurde. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Wartesaal der Onkologie in einen Konzertsaal zu verwandeln?
Dr. Graiff: Im Gespräch mit einem Kollegen, Dr. Maurizio Cantore aus Carrara. Diese Konzerte sind weit mehr als nur ein kulturelles Angebot, es geht vielmehr darum, eine Dimension zu schaffen, in der Patienten und wer sie behandelt, einander unbefangen begegnen können, abgehoben vom Klinikalltag. Die Kunst mit ihrer universellen Sprache und der gemeinsame Musikgenuss setzen Emotionen frei und verbinden Patienten, Angehörige und all jene, die im Krankenhaus mit ihnen zu tun haben."Donatori di Musica": Musik verbindet Patienten, Ärzte und Angehörige . Der Wartesaal wird zum Konzertsaal.
Chance: Sie sind seit der Mitte der siebziger Jahre mit Onkologie befasst. Wenn sie zurückblicken, was sind ihrer Ansicht nach die wichtigsten Veränderungen?
Dott. Graiff: Es ist heute alles viel komplizierter und komplexer. Heute muss man wählen können, sich zwischen vielen Möglichkeiten für eine Therapie bzw. eine Kombination von Therapien entscheiden. Das Verhältnis zum Patienten hat sich von Grund auf verändert. In den Siebzigern hat man den Patienten als Person völlig aus den Augen verloren, sich nur auf den Organismus und sein Problem konzentriert. Ich war dem gegenüber immer sehr skeptisch eingestellt. Unser Körper ist ein Zusammenspiel, man kann nicht zwischen Körper, Seele und Geist unterscheiden. Danach wurde der Kranke in den Mittelpunkt gestellt. Auch das war nicht richtig, auf diese Weise wurde der Patient entmündigt. Alles drehte sich um ihn, aber er hatte nichts mitzureden.
Chance: Ideal wäre die goldene Mitte …
Dr. Graiff: Genau. Arzt und Patient müssen ein Bündnis schließen, in Beziehung zueinander treten, um die Behandlung gemeinsam anzugehen. Um diese Krankheit zu behandeln, braucht es höchstes klinisches Können, einen Spezialisten, der dem Patienten zuhört und auf seine Bedürfnisse eingeht und einen Patienten, der bereit ist, seine Verantwortung zu übernehmen. Ein Arzt ist mehr als nur ein „Techniker“, ein guter Arzt sollte auch eine gute Allgemeinbildung haben, sich auskennen in Philosophie, Literatur, Wissenschaften und Kunst...
Chance: Und was zählt am meisten in der Beziehung Arzt – Patient?
Dr. Graiff: Die menschliche Nähe, die Ehrlichkeit. Es muss eine parithetische Beziehung sein, asymmetrisch nur in Bezug auf das medizinische Wissen. Echte Empathie heißt, dass man dem Patienten auch nein sagen kann und er versteht es.
Chance: Ihre Generation hat die klinische Onkologie entwickelt, und Sie waren der erste Primar dieser Abteilung.
Dr. Graiff: Ja, es stimmt, ich habe meinen Beitrag geleistet zur modernen Onkologie, ebenso wie diese Abteilung. Wir haben gemeinsam nach neuen Wegen gesucht. Unser Team ist Teil einer internationalen Gruppe und was wir gemeinsam vorangetrieben haben, steht heute in Lehrbüchern, die die Geschichte der Onkologie geschrieben haben.
Chance: Sie haben an wichtigen Forschungen mitgearbeitet?
Dr. Graiff: Heutzutage ist Forschung an das Testen gewisser Produkte gebunden. Für mich besteht echte Forschung aus dem Umsetzen von Hypothesen. Wir haben immer danach getrachtet, an unabhängigen Studien mitzuarbeiten und nicht an jenen, die von der Pharmaindustrie vorangetrieben werden. Wir haben uns fern gehalten von „Moden“, vom „me too“. Forschung ist nicht Dash kontro Dixan. Marketing darf nicht der Motor der Forschung sein.
Chance: Erinnern Sie sich noch, wann Sie das erste Mal an den Beruf des Arztes dachten?
Dr. Graiff: Nein, aber mir kommt ein Foto von mir in den Sinn: Ich war drei oder vier Jahre alt und ging in den Kindergarten in der Venedigerstraße und hörte mit einem Plastikstetoskop ein anderes Kind ab.
Chance: …und die Entscheidung für die Onkologie?
Dr. Graiff: Im zweiten Jahr Medizin habe ich ein Praktikum in einem Forschungslabor gemacht. Das hat mich damals begeistert. Danach war mir klar, dass ich klinisch tätig sein möchte. Ich habe immer danach getrachtet, meine Arbeit mit dem notwendigen Ernst wahrzunehmen und war immer darum bemüht, nicht zu vergessen, dass jeder neben seinem Verstand auch ein Herz hat.
Chance: Und die Arbeit in diesem schwierigen Bereich hat sie nie belastet? Menschlich oder psychisch?
Dr. Graiff: Nein, ich glaube meine starke Motivation und meine humanistische Grundhaltung, meine Kultur haben mir immer geholfen, ein Gleichgewicht zu wahren.
Chance: Was nehmen Sie mit aus all diesen Jahren Onkologie mit?
Dr. Graiff: Ich habe sehr viele Menschen und ihre Lebensgeschichte kennengelernt, und viele von ihnen treffe ich immer noch hin und wieder! Ich habe mich von ihnen aufgenommen gefühlt und ich habe sie aufgenommen. Mir bleibt die Erinnerung an einige Behandlungen, die besonders gut gelungen sind und die Erinnerung an außergewöhnliche Gelegenheiten, um Kenntnisse bezüglich Ethik und Verantwortung zu vertiefen.
Chance: Welches Bild würde ihrem Beruf, ihrer Tätigkeit entsprechen?
Dr. Claudio Graiff: Wir sind jeden Tag im Schützengraben, immer an der Front.