Thema

Krebs und Sterben

Die 3. Brunecker Krebsgespräche stellen sich mutig einem Tabuthema
Einen Termin, den man nicht mehr missen möchte. Die Brunecker Krebsgespräche. Am vergangenen 1. Februar zum dritten Mal: Krebs und Sterben. Ein offenes Umgehen mit diesem Thema, Stimmen von Experten, von Trauernden, von Onkologen, Menschen aus der Palliativpflege, Psychologen und von einem Theologen, Bischof Ivo Muser. Der gefüllte Saal war dem Organisatoren-Team Dr. Christoph Leitner, Andreas Leiter und Verena Duregger mehr als Bestätigung für den Erfolg ihrer Idee.
Die Brunecker Krebsgespräche, sind gewachsen. Das Programm schlanker, mehr Zeit für direkte Gespräche, weniger Vorträge und ein Thema, für das es Mut, Gespür und Erfahrung braucht. Sterben.
Uns alle wird es irgendwann treffen, aber nur wenige trauen sich, sich damit aus­einanderzusetzen.
„Was kommt jetzt auf mich zu?“ „Muss ich sterben?“ „Was habe ich falsch gemacht?“ Fragen wie diese beschäftigen die Patienten, und mit ihnen ihr gesamtes Umfeld. Und doch bleiben sie mit ihrer Angst oft alleine. Denn krank zu sein, hat in unserer Leistungsgesellschaft allzu oft keinen Platz. Gerade deshalb ist ein offener Dialog über die Krankheit so wichtig: Denn Krebs geht uns alle an“! So die Ankündigung der Krebsgespräche.
Schon bei der Eröffnung durch Andreas Leiter war das Thema Sterben präsent. Eine Kerze in Memoriam für zwei Patienten, die im Rahmen der Krebsgespräche ihr Schicksal (mit)geteilt haben. Zerina Pilav, Interviewpartnerin der ersten Veranstaltung 2018 und Rudi Ladurner, Direktor des Theaters in der Altstadt sowie für den Primar der Abteilung für Innere Medizin am Krankenhaus Bruneck, Dr. Stefan Brugger, Internist, Onkologe und überzeugter Palliativmediziner. Im vergangenen Jahr mit einem sehr tiefgründigen, zum Nachdenken anregenden Beitrag auf der Bühne des Ufos und am 20. Januar 2020 im Alter von nur 53 Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Seine Arbeit und seine Person wurden von Dr. Christoph Leitner in bewegenden Worten gewürdigt.
Dr. Matthias Gockel
Dr. Herbert Heidegger
Warum es sich lohnt, über den Tod nachzudenken
Leben und Sterben. Wie sehr das zusammengehört und warum das Sterben und der Tod nicht ausgeklammert werden dürfen, hat Matthias Gockel versucht in seinem Beitrag zu vermitteln, Autor des Buches, „Sterben – Warum wir einen neuen Umgang mit dem Tod brauchen“ und seit 20 Jahren Palliativmediziner, der mehr als 9.000 Menschen betreut hat. Nicht begleitet, wie er betont, Denn: „Ich kehre an einem bestimmten Punkt um“. Sterben, so Gockel, „übersteigt unsere Vorstellungsmöglichkeiten. Und gerade deshalb müssen wir uns beizeiten damit auseinandersetzen.“ Diesen Aufruf richtete er sowohl an Patienten als auch an Mediziner. „Wir Ärzte haben noch mehr Angst als andere über den Tod zu sprechen. Wir sehen den Tod zu Unrecht als Feind. Sterben und Tod, Themen, die in uns sind, Dämonen, die in uns wohnen. Je mehr Licht wir darauf werfen, desto kürzer ihr Schatten.“ Eine Krebsdiagnose könne beides bedeuten: Lebenszeit wie jeder andere, nicht Erkrankte zu haben oder aber limitierte Zeit. „Wir Mediziner, betont Gockel, könn(t)en in vielen Fällen noch Zeit schaffen; die Frage ist: Wollen Sie noch? Können Sie noch? Wie gerne leben sie? Und wenn ihr Arzt nicht redet“, forderte Matthias Gockel, „dann tun sie es!“
Ähnliches gelte auch für die Angehörigen. „Wissen Sie, was die ihnen nahestehenden Menschen möchten? Haben sie je mit ihnen darüber gesprochen?“ In diesem Zusammenhang komme auch der Vorsorgeplanung und der Patientenverfügung eine große Bedeutung zu. „Damit nicht der Arzt oder ihre Angehörigen entscheiden müssen, was sie gewollt hätten.“
Weil ich selbst entscheiden will
Tatsächlich ging es in einem Beitrag der Krebsgespräche auch um das Thema Patientenverfügung. Dr. Herbert Heidegger, Primar der Gynäkologie am Krankenhaus Meran und Präsident des Landesethik-
Komitees, betonte die Wichtigkeit, eine solche Verfügung aufzusetzen und diese auch registrieren zu lassen. Seit dem 1. Februar 2018 hat die Patientenverfügung Rechtskraft, seit 1. Februar 2020 gibt es nicht mehr nur ein gemeindliches, sondern ein staatliches Register dafür. „Die Patientenverfügung muss dann zur Hand sein, wenn es sie braucht. Nicht in irgendeiner Schublade. Viele sind unauffindbar, schlecht gemacht oder treffen nicht die Situation.“ Deshalb solle man sich vom Hausarzt oder anderer kompetenter Seite bei der Ausstellung helfen lassen und die Verfügung entweder beim Meldeamt der Wohnsitzgemeinde oder bei einem Notar registrieren lassen. In Zukunft soll auch in der elektronischen Krankendatei vermerkt sein, ob es eine Verfügung gäbe oder nicht. In Italien haben bisher nur 0,7 Prozent der Bevölkerung, die Mehrzahl davon Frauen zwischen 26 und 40 Jahren, eine solche Erklärung abgegeben.
Sigrid Mayr und Anja Oberstaller
Astrid Fleischmann
Onko-Psychologen im Dialog: Anton Huber und Erwin Steiner
Palliativversorgung
Palliativbehandlung ist ein Menschenrecht und seit 2010 auch per Gesetzesdekret verankert. Mit Sterbehilfe hat das nichts zu tun und auch nicht unbedingt mit dem Sterben. Palliativbehandlung sollte bei der Diagnose einsetzen. Sigrid Mayr und Anja Oberstaller gaben einen Überblick über die Palliativversorgung im Sprengel Bruneck. Ziel ist die Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und Angehörigen. In Südtirol gibt es derzeit 21 stationäre Betten, zehn in Meran und elf in Bozen; fünf weitere sind in Bruneck geplant; das Projekt wurde durch den Tod von Dr. Brugger vorläufig gebremst. Hinzu kommen ambulante und mobile Palliativteams für die Versorgung zuhause. In Bozen hat Dr. Massimo Bernardo die Palliativtabteilung und das Hospiz aufgebaut; in Brixen gibt es seit 2019 einen Palliativmediziner, Dr. Thomas Völkl.
Seit 1. Januar 2020 werden die drei ambulanten Krankenpfleger in Bruneck von Dr. Giovanni Brescia unterstützt, der auf viele Jahre Intensivmedizin zurückblicken kann. „Wir sind die Brücke zwischen Krankenhaus, Sprengel und Hausarzt.“ Die Palliativbehandlung ist die Fortsetzung der bestmöglichen Therapie unter anderen Voraussetzungen. „Unabhängig vom Zeitfaktor geht es vor allem um die Lebensqualität und um Vermeidung unnötiger, invasiver Behandlungen,“ unterstrich Dr. Brescia. „Palliativmedizin ist vor allem ein Netzwerk und kann dann am besten funktionieren, wenn jeder Arzt einen palliativmedizinischen Ansatz hat“, betonte der Onkologe Dr. Christoph Leitner. „Je früher die palliativmedizinische Behandlung parallel zur Therapie einsetzt, desto besser für den Patienten.“
Trauer
Ein wichtiger Aspekt des Themenbereichs Sterben sind die Hinterbliebenen. In unserer Gesellschaft ist nicht nur das Sterben ein Tabuthema, auch die Trauer ist es. In unserer durchorganisierten Gesellschaft wird erwartet, dass nach der Beerdigung zum Alltag übergegangen wird. Dabei ist Trauer ein Moment im Leben, dem gebührend Raum gegeben werden muss, um den Verlust zu überwinden. Die Krebsgespräche haben zwei Menschen auf die Bühne geholt, die jeder auf seine Weise mit ihrer Trauer umgehen. Noah Ennemoser hat mit nur 18 Jahren seine Mutter durch eine Krebserkrankung verloren. Im Juli 2018, genau 197 Tage vor dem 1. Februar 2020. Er versorgt die frische Wunde mit Schreiben und hat gefasst und intensiv einen Text im Stil des Poetry Slam vorgetragen, der die Zuschauer im Saal zu Tränen gerührt hat (siehe Interview, S. 10). Astrid Fleischmann hingegen hat ihren Mann Georg im Jahr 2009 durch einen Gehirntumor verloren. Die Radiomoderatorin hat nach dem Tod ihres Mannes eine Ausbildung zur psychosozialen Lebensberaterin gemacht. „Die Ausbildung war meine Therapie, heute kann ich mich wieder lebendig fühlen und Lebensfreude empfinden.“ Was sie aus ihrer Geschichte gelernt hat: „Wir haben den Tod nie angesprochen, nur über das Leben gesprochen. Und das fehlt mir heute.“
Die Freiheit über alles zu sprechen – auch über den Tod
Eine ebenso ungewöhnliche wie effektive Form ihr Thema anzugehen, haben die beiden Onkopsychologen Anton Huber und Erwin Steiner gefunden: Einen Dialog auf der Bühne, in dem sie sich ausgetauscht haben über ihre Arbeit. "Was ist ihre größte Sorge?" Mit dieser Frage beginnt Anton Huber sein Patientengespräch. „Früher“, berichtet er, „wollte ich immer alles wissen, Diagnose, Vorgeschichte. Heute frage ich, was bewegt den Patienten. Eine falsche Frage ist wie eine falschgesetzte Karte im Kartenhaus.“ Erwin Steiner hingegen fragt seine Patienten: „Über was reden wir nicht?“, um an das heranzukommen, was sie bewegt. Es darf grundsätzlich alles angesprochen werden. „Die Leute werden ehrlich, sie haben genug vom Theaterspielen. Ein Ziel ist, ihre Hilfslosigkeit in Hilfsbedürftigkeit umzuwandeln, die Teil einer Beziehung ist.“ Anton Huber: “Die Angst wird kleiner, wenn ich darüber spreche. Das ist Lebenskunst: Alle Töne akzeptieren, die hellen wie die dunklen.“ Was beide von ihren Patienten gelernt haben, auch von jenen, die sich auf den Abschied vorbereiten, ist Humor.
Haben wir den Tod aus unserem Leben verdrängt?
Zum Abschluss lud Verena Duregger Bischof Ivo Muser, Matthias Gockel, den Primar der Strahlentherapie, Dr. Martin Maffei und Astrid Fleischmann zu einem Podiumsgespräch auf die Bühne. Am Gespräch beteiligte sich auch Dr. Christoph Leitner, Leiter der onkologischen Tagesklinik Bruneck. Ein gemeinsamer Nenner aller Gesprächspartner war das Wort "Beziehung".
Vierzig Prozent aller Palliativpatienten unterziehen sich der Strahlentherapie. Eine große Herausforderung für jene, die dort arbeiten. Dr. Maffei: „Das menschliche Gestalten der Strahlentherapie ist eine große Herausforderung, weil wir es hier mit Maschinen zu tun haben. Wir versuchen mit unseren Patienten dennoch Zeit zu verbringen, mit ihnen zu reden. Jenseits der reinen technischen Behandlung Beziehungen aufzubauen.“
Laut Bischof Muser müssen wir uns den Tod zumuten. „Wenn wir das Sterben und den Tod tabuisieren, betrügen wir uns um das Leben und weil es um das Leben geht, dürfen wir den Tod nicht ausklammern, müssen darüber reden. Auch mit Kindern.“ Beziehung, so der Bischof, sei ein anderes Wort für Glauben. „Und nichts wünsche ich mir mehr als gelungene Beziehungen!“ Eine Frage, die am Schluss nicht fehlen konnte: Haben sie selbst Angst vor dem Tod? Matthias Gockel: „Vor dem Tod? Nein, aber Angst im Leben nicht immer präsent zu sein.“ Bischof Ivo Muser: „Die Frage nach dem Tod ist letztlich eine Frage nach Gott. Gott gibt es nur dann, wenn der Tod nicht das letzte Wort hat.“

Thema

Die unüberwindbare Grenze der Endlichkeit

Gespräch mit dem Moraltheologen Martin Lintner über Sterben und Tod
Die Endlichkeit unseres Lebens, ist für viele Menschen eine Grenze, an der sie sich stoßen, an der sie sich der Grenzen der Selbstbestimmung bewusst werden. An dieser Grenze stellt sich dem Menschen zwangsläufig die Frage, nach dem Sinn des Lebens und ob etwas, bzw. was bleibt. Die Patientenverfügung ist ein Weg, um das Tabu mit dem Sterben und Tod behaftet sind, zu überwinden. Ein Gespräch mit dem Südtiroler Moraltheologen Martin Lintner.
Chance: Wir sind endlich. Vom Tag unserer Geburt an begleitet uns die Gewissheit des Lebensendes. Dennoch ist dieses Thema für viele Menschen ein Tabu …
Martin Lintner: Ja, interessanterweise sind Sterben und Tod noch immer Tabuthemen in unserer Gesellschaft. Dabei ist nichts so sicher und unausweichlich wie das Sterben. Auch mitten im Leben sind wir damit konfrontiert, wenn jemand, der bzw. die uns nahe steht, stirbt, oder wenn wir uns von etwas definitiv verabschieden müssen: einem Traum, einem Lebensprojekt, von etwas, was uns lieb und teuer geworden ist. Der Tod scheint irgendwie nicht zum Menschenbild der heutigen Zeit zu passen: einen gesunden, vitalen Körper zu haben, jugendlich frisch und agil zu bleiben, selbstbestimmt zu leben … Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod für viele deshalb so schwierig, weil mir hier ganz deutlich gemacht wird: Im Letzten habe ich mein Leben nicht in der Hand. Dass ich lebe und dass mein Leben endlich ist, kann ich nur annehmen, aber nicht ändern. Hier stoße ich an eine unüberwindliche Grenze, an die Unverfügbarkeit meines Lebens. Dass es mich gibt, habe ich nicht selbst beschlossen. Und dass mein Leben endlich ist, kann ich nicht ändern – selbst wenn ich mir das Leben nehmen sollte, wäre dies nur eine Art und Weise, mich dazu zu verhalten, dass mir die Endlichkeit meines Lebens vorgegeben ist. Das passt irgendwie nicht ins heute oft vorherrschende Menschenbild des selbstbestimmten Individuums.
Chance: Wie gehen Sie als Theologe mit diesem Thema um?
Martin Lintner: Die Auseinandersetzung mit dem Tod bedeutet für mich in erster Linie, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen: Wenn mit dem Tod das irdische Leben endet, was bleibt vom Leben? Bedeutet der Tod einen radikalen Abbruch des Lebens? Oder gibt es etwas, was den Tod überdauert? Hat das Leben einen Sinn, selbst dann, wenn es in seiner Verwundbarkeit und Endlichkeit erfahren, manchmal auch erlitten wird, einen Sinn, den selbst das Sterben und der Tod nicht auslöschen können? Sterben und Tod sind sozusagen die Kontrastfolie dafür, wie kostbar und wertvoll das Leben ist! Ich bezeichne das Sterben gerne als ein Überschreiten der Schwelle hinein in die Fülle des Lebens. Mein Umgang mit Sterben und Tod ist geprägt von meinem Glauben an die Auferstehung. Ich trage diese Hoffnung in mir, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, sondern dass unser irdisches Leben in der Gemeinschaft mit Gott, der Ursprung und Vollendung des Lebens ist, aufgehoben sein wird.
Chance: Ein Mensch, der eine Krebsdiagnose erhält, fällt von einem Tag auf den anderen in ein schwarzes Loch. Alles, was vorher selbstverständlich war, ist von einem Moment zum anderen nichtig. Und dennoch kann gerade solch ein Zustand der tiefen Verzweiflung, der Angst sinngebend sein… Die 3. Brunecker Krebsgespräche haben das Tabuthema: Krebs und Sterben aufgegriffen.
Martin Lintner: Ja, eine solche Diagnose stellt das Leben auf den Kopf – im wahrsten Sinn des Wortes. Da muss jemand seine Wertigkeiten völlig neu definieren. Das ist ein schmerzlicher Prozess. Ich denke da immer an die unterschiedlichen Phasen, die die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat. Auch wenn wir heute davon ausgehen, dass jeder Mensch ganz individuell mit einer solchen Situation umgeht und diese Phasen nicht notwendig eine nach der anderen verlaufen, so hat sie doch etwas Wichtiges beobachtet: Hadern, Verzweiflung, Nicht-wahrhaben-wollen, Zorn und Auflehnung, schließlich Resignation und Verzweiflung … all das sind ganz normale und menschliche Reaktionen auf eine solche Diagnose.
Bedeutsam ist für mich aber, dass Kübler-Ross davon spricht, dass die Annahme die letzte Phase darstellt. Annahme bedeutet, dass sich jemand nicht nur passiv ergibt, weil er oder sie nichts mehr ändern können, sondern die Krankheit und das Sterben als Teile des Lebens und der eigenen Persönlichkeit annimmt, sich mit ihnen aussöhnt. Dann kann eine solche Auseinandersetzung auch sinngebend sein. Sie hilft, aufmerksam zu werden für das, was wirklich zählt und wichtig ist im Leben, Prioritäten neu setzen, die Zeit dafür zu verwenden, was wichtig ist, was einem Freude bereitet, vielleicht noch unbewältigte Lebensaufgaben zu erledigen, etwas zu unternehmen, mit jemandem ein versöhnliches Gespräch suchen usw.
Chance: Werden Menschen, die glauben, besser mit so einer Krisensituation fertig?
Martin Lintner: Das ist eine interessante Frage. Es gibt viele Studien zu dieser Thematik, ob und inwiefern der Glaube einen Einfluss auf den Heilungsprozess hat oder ob er jemandem hilft, Krisensituationen zu bewältigen. Dabei hat sich gezeigt, dass dies stark davon abhängt, was und wie jemand glaubt. Wenn jemand in seinem Glauben eher angstbesetzt ist, das heißt, an einen strengen und strafenden Gott glaubt und die Krankheit zum Beispiel als Strafe Gottes begreift, dann wirkt sich dieser Glaube eher negativ aus.
Wenn jemand hingegen an einen Gott glaubt, dem er bzw. sie sich ganz anvertrauen darf, von dem er bzw. sie sich geliebt und angenommen, gehalten und getragen weiß, dann wirkt sich dieser Glaube positiv aus. Ein solcher Glaube hilft Menschen, an einem Sinn im Leben festzuhalten, der trotz Krise und Krankheit besteht. Dieser Glaube an einen umfassenden Sinnhorizont im Leben hilft, Erfahrungen von Leid, Krisen, Krankheit in ein größeres Ganzes zu integrieren und so besser zu bewältigen.
Chance: Wie stehen Sie zur Patientenverfügung?
Martin Lintner: Grundsätzlich positiv. Eine Patientenverfügung ist ein gutes Mittel, um sich mit den Fragen rund um Krankheit, Sterben und Tod auseinanderzusetzen und mit den engsten Verwandten darüber ins Gespräch zu kommen. Nach wie vor ist dieses Thema für viele ein Tabu oder es ist angstbesetzt. In vielen Familien wird darüber nicht gesprochen oder erst, wenn die Situation akut wird. Das sind dann oft emotional schwierige Situationen. Deshalb kann es hilfreich sein, bereits zu einem früheren Zeitpunkt beim Verfassen einer Patientenverfügung in einer entspannten Atmosphäre darüber ins Gespräch zu kommen, sich eventuell auch im Gespräch mit dem Vertrauensarzt bzw. der Vertrauensärztin über Krankheitsverläufe und mögliche Therapien zu informieren. Auch das kann Angst nehmen.
Ebenso bin ich überzeugt, dass es aus einer christlichen ethischen Perspektive erlaubt ist, in einer Patientenverfügung festzulegen, dass in einer bestimmten Situation gewisse Therapien oder medizinische Interventionen nicht mehr durchgeführt werden sollen. Eine Grenze besteht für mich darin, dass ich nichts wünschen kann, was den Tod unmittelbar und aktiv herbeiführt. Dies ist nach italienischem Gesetz derzeit nicht erlaubt – meines Erachtens zu Recht. Wichtig ist meines Erachtens, dass ich auch dann, wenn ich eine Patientenverfügung verfasst habe, mich alle 2-3 Jahre vergewissere, dass sie noch meinem aktuellen Willen entspricht oder sie gegebenenfalls aktualisiere.
Chance: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Martin Lintner: Für mich ist ein Wort meines Namenspatrons, des hl. Martin von Tours, wichtig geworden. Er sagte einmal in einer für ihn lebensbedrohlichen Situation: „Ich fürchte mich nicht zu sterben, aber ich weigere mich auch nicht zu leben.“ Nein, vor dem Tod fürchte ich mich nicht, eher vor dem Sterben, dass der Sterbeprozess schmerzvoll sein könnte. In Bezug auf den Tod bin ich eher neugierig: wie es sein wird; was uns erwarten wird; ob sich der christliche Glaube und die Hoffnung erfüllen werden.
Martin Lintner
Seit 2011 ordentlicher Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der PTH Brixen. Er ist Mitglied der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik (seit September 2017 1. Vorsitzender), der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie (2011–2013 Vizepräsident, 2013–2015 Präsident), von ATISM – Associazione Teologica per lo Studio della Morale, im Europa-Regional-Komitee der CTEWC – Catholic Ethicists in the World Church, sowie des Landesethikkomitees der Autonomen Provinz Bozen. Er war zwar nicht an den Krebsgesprächen beteiligt, hat sich aber intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.