Thema
Die unüberwindbare Grenze der Endlichkeit
Gespräch mit dem Moraltheologen Martin Lintner über Sterben und Tod
Die Endlichkeit unseres Lebens, ist für viele Menschen eine Grenze, an der sie sich stoßen, an der sie sich der Grenzen der Selbstbestimmung bewusst werden. An dieser Grenze stellt sich dem Menschen zwangsläufig die Frage, nach dem Sinn des Lebens und ob etwas, bzw. was bleibt. Die Patientenverfügung ist ein Weg, um das Tabu mit dem Sterben und Tod behaftet sind, zu überwinden. Ein Gespräch mit dem Südtiroler Moraltheologen Martin Lintner.
Chance: Wir sind endlich. Vom Tag unserer Geburt an begleitet uns die Gewissheit des Lebensendes. Dennoch ist dieses Thema für viele Menschen ein Tabu …
Martin Lintner: Ja, interessanterweise sind Sterben und Tod noch immer Tabuthemen in unserer Gesellschaft. Dabei ist nichts so sicher und unausweichlich wie das Sterben. Auch mitten im Leben sind wir damit konfrontiert, wenn jemand, der bzw. die uns nahe steht, stirbt, oder wenn wir uns von etwas definitiv verabschieden müssen: einem Traum, einem Lebensprojekt, von etwas, was uns lieb und teuer geworden ist. Der Tod scheint irgendwie nicht zum Menschenbild der heutigen Zeit zu passen: einen gesunden, vitalen Körper zu haben, jugendlich frisch und agil zu bleiben, selbstbestimmt zu leben … Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod für viele deshalb so schwierig, weil mir hier ganz deutlich gemacht wird: Im Letzten habe ich mein Leben nicht in der Hand. Dass ich lebe und dass mein Leben endlich ist, kann ich nur annehmen, aber nicht ändern. Hier stoße ich an eine unüberwindliche Grenze, an die Unverfügbarkeit meines Lebens. Dass es mich gibt, habe ich nicht selbst beschlossen. Und dass mein Leben endlich ist, kann ich nicht ändern – selbst wenn ich mir das Leben nehmen sollte, wäre dies nur eine Art und Weise, mich dazu zu verhalten, dass mir die Endlichkeit meines Lebens vorgegeben ist. Das passt irgendwie nicht ins heute oft vorherrschende Menschenbild des selbstbestimmten Individuums.
Chance: Wie gehen Sie als Theologe mit diesem Thema um?
Martin Lintner: Die Auseinandersetzung mit dem Tod bedeutet für mich in erster Linie, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen: Wenn mit dem Tod das irdische Leben endet, was bleibt vom Leben? Bedeutet der Tod einen radikalen Abbruch des Lebens? Oder gibt es etwas, was den Tod überdauert? Hat das Leben einen Sinn, selbst dann, wenn es in seiner Verwundbarkeit und Endlichkeit erfahren, manchmal auch erlitten wird, einen Sinn, den selbst das Sterben und der Tod nicht auslöschen können? Sterben und Tod sind sozusagen die Kontrastfolie dafür, wie kostbar und wertvoll das Leben ist! Ich bezeichne das Sterben gerne als ein Überschreiten der Schwelle hinein in die Fülle des Lebens. Mein Umgang mit Sterben und Tod ist geprägt von meinem Glauben an die Auferstehung. Ich trage diese Hoffnung in mir, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, sondern dass unser irdisches Leben in der Gemeinschaft mit Gott, der Ursprung und Vollendung des Lebens ist, aufgehoben sein wird.
Chance: Ein Mensch, der eine Krebsdiagnose erhält, fällt von einem Tag auf den anderen in ein schwarzes Loch. Alles, was vorher selbstverständlich war, ist von einem Moment zum anderen nichtig. Und dennoch kann gerade solch ein Zustand der tiefen Verzweiflung, der Angst sinngebend sein… Die 3. Brunecker Krebsgespräche haben das Tabuthema: Krebs und Sterben aufgegriffen.
Martin Lintner: Ja, eine solche Diagnose stellt das Leben auf den Kopf – im wahrsten Sinn des Wortes. Da muss jemand seine Wertigkeiten völlig neu definieren. Das ist ein schmerzlicher Prozess. Ich denke da immer an die unterschiedlichen Phasen, die die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat. Auch wenn wir heute davon ausgehen, dass jeder Mensch ganz individuell mit einer solchen Situation umgeht und diese Phasen nicht notwendig eine nach der anderen verlaufen, so hat sie doch etwas Wichtiges beobachtet: Hadern, Verzweiflung, Nicht-wahrhaben-wollen, Zorn und Auflehnung, schließlich Resignation und Verzweiflung … all das sind ganz normale und menschliche Reaktionen auf eine solche Diagnose.Bedeutsam ist für mich aber, dass Kübler-Ross davon spricht, dass die Annahme die letzte Phase darstellt. Annahme bedeutet, dass sich jemand nicht nur passiv ergibt, weil er oder sie nichts mehr ändern können, sondern die Krankheit und das Sterben als Teile des Lebens und der eigenen Persönlichkeit annimmt, sich mit ihnen aussöhnt. Dann kann eine solche Auseinandersetzung auch sinngebend sein. Sie hilft, aufmerksam zu werden für das, was wirklich zählt und wichtig ist im Leben, Prioritäten neu setzen, die Zeit dafür zu verwenden, was wichtig ist, was einem Freude bereitet, vielleicht noch unbewältigte Lebensaufgaben zu erledigen, etwas zu unternehmen, mit jemandem ein versöhnliches Gespräch suchen usw.
Chance: Werden Menschen, die glauben, besser mit so einer Krisensituation fertig?
Martin Lintner: Das ist eine interessante Frage. Es gibt viele Studien zu dieser Thematik, ob und inwiefern der Glaube einen Einfluss auf den Heilungsprozess hat oder ob er jemandem hilft, Krisensituationen zu bewältigen. Dabei hat sich gezeigt, dass dies stark davon abhängt, was und wie jemand glaubt. Wenn jemand in seinem Glauben eher angstbesetzt ist, das heißt, an einen strengen und strafenden Gott glaubt und die Krankheit zum Beispiel als Strafe Gottes begreift, dann wirkt sich dieser Glaube eher negativ aus.Wenn jemand hingegen an einen Gott glaubt, dem er bzw. sie sich ganz anvertrauen darf, von dem er bzw. sie sich geliebt und angenommen, gehalten und getragen weiß, dann wirkt sich dieser Glaube positiv aus. Ein solcher Glaube hilft Menschen, an einem Sinn im Leben festzuhalten, der trotz Krise und Krankheit besteht. Dieser Glaube an einen umfassenden Sinnhorizont im Leben hilft, Erfahrungen von Leid, Krisen, Krankheit in ein größeres Ganzes zu integrieren und so besser zu bewältigen.
Chance: Wie stehen Sie zur Patientenverfügung?
Martin Lintner: Grundsätzlich positiv. Eine Patientenverfügung ist ein gutes Mittel, um sich mit den Fragen rund um Krankheit, Sterben und Tod auseinanderzusetzen und mit den engsten Verwandten darüber ins Gespräch zu kommen. Nach wie vor ist dieses Thema für viele ein Tabu oder es ist angstbesetzt. In vielen Familien wird darüber nicht gesprochen oder erst, wenn die Situation akut wird. Das sind dann oft emotional schwierige Situationen. Deshalb kann es hilfreich sein, bereits zu einem früheren Zeitpunkt beim Verfassen einer Patientenverfügung in einer entspannten Atmosphäre darüber ins Gespräch zu kommen, sich eventuell auch im Gespräch mit dem Vertrauensarzt bzw. der Vertrauensärztin über Krankheitsverläufe und mögliche Therapien zu informieren. Auch das kann Angst nehmen.Ebenso bin ich überzeugt, dass es aus einer christlichen ethischen Perspektive erlaubt ist, in einer Patientenverfügung festzulegen, dass in einer bestimmten Situation gewisse Therapien oder medizinische Interventionen nicht mehr durchgeführt werden sollen. Eine Grenze besteht für mich darin, dass ich nichts wünschen kann, was den Tod unmittelbar und aktiv herbeiführt. Dies ist nach italienischem Gesetz derzeit nicht erlaubt – meines Erachtens zu Recht. Wichtig ist meines Erachtens, dass ich auch dann, wenn ich eine Patientenverfügung verfasst habe, mich alle 2-3 Jahre vergewissere, dass sie noch meinem aktuellen Willen entspricht oder sie gegebenenfalls aktualisiere.
Chance: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Martin Lintner: Für mich ist ein Wort meines Namenspatrons, des hl. Martin von Tours, wichtig geworden. Er sagte einmal in einer für ihn lebensbedrohlichen Situation: „Ich fürchte mich nicht zu sterben, aber ich weigere mich auch nicht zu leben.“ Nein, vor dem Tod fürchte ich mich nicht, eher vor dem Sterben, dass der Sterbeprozess schmerzvoll sein könnte. In Bezug auf den Tod bin ich eher neugierig: wie es sein wird; was uns erwarten wird; ob sich der christliche Glaube und die Hoffnung erfüllen werden.Martin Lintner
Seit 2011 ordentlicher Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der PTH Brixen. Er ist Mitglied der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik (seit September 2017 1. Vorsitzender), der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie (2011–2013 Vizepräsident, 2013–2015 Präsident), von ATISM – Associazione Teologica per lo Studio della Morale, im Europa-Regional-Komitee der CTEWC – Catholic Ethicists in the World Church, sowie des Landesethikkomitees der Autonomen Provinz Bozen. Er war zwar nicht an den Krebsgesprächen beteiligt, hat sich aber intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.