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Die Wahrheit hinter den Zahlen

Interview mit dem Primar der Onkologie am Krankenhaus Bozen, Dr. Luca Tondulli
Foto: pixabay


"In den letzten 30 Jahren haben die Tumorerkrankungen bei den unter 50-Jährigen um 80% zugenommen". So eine Schlagzeile in La Repubblica vom 6. September 2023. Und weiter: "Die Diagnosen sind von knapp über 1,8 Mio. im Jahr 1990 auf über 3,2 Mio. im Jahr 2019 gestiegen. ... Bis 2030 ist mit einer weiteren Zunahme von Krebserkrankungen im Frühstadium von 31 % zu rechnen ..." - Im Jahr 2020 gab es in Italien 376.000 Neudiagnosen in allen Altersgruppen, 2023 werden es voraussichtlich 395.000 sein. Wenn man im Internet sucht, findet man die unterschiedlichsten Erklärungen für diesen Anstieg, mehr oder weniger wissenschaftlich. Die Chance hat sich an Dr. Luca Tondulli gewandt, Primar der Onkologie des Landeskrankenhauses Bozen, um zu verstehen, was diese Zahlen bedeuten und wie sie zu interpretieren sind.
Dr. Tondulli, die Krebspatienten werden jünger. Es liegen Daten vor, die gerade in den letzten drei Jahren von einer deutlichen Zunahme an Krebserkrankungen bei Menschen unter 50 oder sogar unter 40 Jahren sprechen, während Krebs im Allgemeinen doch als eine Krankheit gilt, die hauptsächlich Personen über 65 betrifft.

Dr. Luca Tondulli: Die Häufigkeit von Krebserkrankungen, die Inzidenz, nimmt zu. Zweifellos. Auch bei den unter 50-Jährigen. Wir können diese Zahlen auch in unserer täglichen Arbeit bestätigen. Die Ursachen sind unterschiedlich.
Es gibt Stimmen, die Covid, oder besser gesagt die Covid-Impfung dafür verantwortlich machen.
Dr. Luca Tondulli: Die steigende Inzidenz ist absolut nicht auf Covid zurückzuführen. Erstens, weil Tumorerkrankung durch genetische Mutationen verursacht werden, durch Zellen, die verrückt spielen. Ein Prozess, der Jahre braucht, es wäre unmöglich schon jetzt, nach so kurzer Zeit, die Folgen zu sehen. Vielmehr müssen die Ursachen vor allem in der Lebensweise gesucht werden. Vergessen wir nicht, dass 40 Prozent der Krebsfälle vermieden werden könnten. Das ist eine enorme Zahl! Viele Tumore sind auf Alkoholmissbrauch, auf Rauchen, Fettleibigkeit und zu wenig Bewegung zurückführen. Es bräuchte so wenig, um gesund zu leben! Dann gibt es auch noch umweltbedingte Faktoren, abgesehen von ungeschützter Sonneneinstrahlung und der Benutzung von Sonnenbänken gerade durch junge Menschen...
Gründe die hinreichend bekannt sein sollten. Gibt es auch noch andere?
Dr. Luca Tondulli: Ja. Der eine ist positiv, der andere leider nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Diagnostik in den letzten 30 Jahren stark verbessert hat und dass sich die gesamte Onkologie in den letzten 10 bis 15 Jahren unglaublich entwickelt hat. Diagnostik, das heißt, dass wir heute Tumore in einem viel früheren Stadium finden können, lange bevor sie symptomatisch werden. Die Folge ist, dass die Zahl der Patienten steigt. Gleichzeitig bedeutet eine frühe Diagnose auch eine größere Chance, die Krankheit wirksam zu behandeln. Wir dürfen nicht vergessen, dass Krebs heute in vielen Fällen geheilt werden kann oder aber zu einer chronischen Krankheit wird, dass man auch mit einem nicht geheilten Tumor lange und mit einer guten Lebensqualität leben kann.
Der negative Grund hingegen?
Dr. Luca Tondulli: Die Teilnahme an den Screenings, der Prozentsatz der Personen, die an dem vom öffentlichen Gesundheitssystem angebotenen Vorsorge-Programm teilnehmen, ist immer noch zu niedrig! Ganz zu schweigen von der Teilnahme an der HPV-Impfkampagne. Südtirol liegt hier italienweit an fast letzter Stelle!
Bevor wir auf das Thema Impfungen eingehen, wollte ich noch einmal auf das Screening zurückkommen. Die Zugangsparameter sind vor kurzem geändert worden.
Dr. Luca Tondulli: Richtig. Bisher wurden Frauen im Alter zwischen 50 und 65 Jahren im Zweijahres-Rhythmus zur Mammographie eingeladen, jetzt können sie schon ab 45 Jahren am Programm teilnehmen, allerdings auf Eigeninitiative. Und sie müssen das Ticket zahlen. Die obere Altersgrenze wurde auf 69 Jahr verschoben. Eine Senkung auf 45 Jahre ist in Diskussion.
Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Frau, die nach ihrem 69. Lebensjahr eine Mammographie durchführen lassen möchte, dies nicht tun kann...
Dr. Luca Tondulli: Nein. Danach gilt wieder das Prinzip der Eigeninitiative. Auf Verschreibung des Hausarztes und mit Ticket. Die Entscheidung, ob das Screening vorverlegt oder nach oben ausgeweitet wird, hängt auch von individuellen Faktoren ab, z. B. ob eine BRCA1 und BRCA2 Mutation vorliegt.
Es gibt auch eine Art, nennen wir es Selbst-Screening...
Dr. Luca Tondulli: Jeder sollte seinen eigenen Körper gut kennen und kontrollieren. Frauen durch regelmäßige Selbstuntersuchung ihrer Brüste, denn auch zwischen den Mammographien können sich Tumore entwickeln; Männer durch Selbstuntersuchung ihrer Hoden. Auch junge Männer, denn Hodenkrebs tritt oft schon in jungen Jahren auf. Das Gute daran ist, dass er, wenn er in einem frühen Stadium entdeckt wird, sehr gut geheilt werden kann! Je besser ich meinen Körper kenne, desto eher kann ich Veränderungen feststellen und sie dann umgehend meinem Hausarzt mitteilen.
Sie sagten, dass Sie auch bei Ihrer täglichen Arbeit auf der Abteilung eine Verschiebung der Altersgrenzen feststellen. Von welchen Krebsarten sind junge Menschen am meisten betroffen?
Dr. Luca Tondulli: Darmkrebs, Gebärmutterkrebs, Magenkrebs, Lungenkrebs und vor allem Melanome, die auf Sonneneinstrahlung zurückzuführen sind! Bei den Frauen ist es vor allem der Brustkrebs. Und dann wie bereits erwähnt, der Hodenkrebs. Bei jungen Patienten treten aggressivere, sich schnell entwickelnde Tumore auf. Junge Männer sind noch wenig geneigt, Vorsorgeuntersuchungen durchzuführen, Veränderungen wahrzunehmen, sie kommen oft erst dann zum Arzt, wenn der Tumor schon fortgeschritten ist.
Ich kann mir vorstellen, dass es auch für Sie als Ärzte nicht leicht ist, mit Patienten umzugehen, die in der Blüte ihres Lebens stehen.
Dr. Luca Tondulli: Jeder Patient berührt uns, und wir versuchen, jedem nicht nur gute ärztliche Hilfe, sondern auch menschlichen Beistand zu leisten. Hoffnung und Unterstützung geben, versuchen, auch das psychische Leiden zu lindern, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Abgesehen davon, dass den Patienten ja auch onkopsychologische Hilfe zur Verfügung steht. Wenn wir es mit einem Patienten zu tun haben, der unser Partner, unser Kind, unsere Schwester oder Bruder sein könnte, ist es vielleicht noch schwieriger, die "richtige Distanz" zu wahren, um unsere Arbeit gut zu machen. Ich spreche hier vor allem von jungen Patienten, bei denen die Krankheit Auswirkungen auf ihr Studium, ihre Arbeit und die reale Möglichkeit der Familiengründung hat. Das sind Krankheitsverläufe, die das Leben der Menschen stark beeinflussen, und in diesen Fällen ist viel Sensibilität angesagt.
Patienten haben Anspruch auf psychologische Begleitung. Und Sie? Das heißt, das medizinische und pflegerische Personal?
Dr. Luca Tondulli: Nein, für uns ist das, zumindest hier in Bozen, nicht vorgesehen. Ich habe an anderen Orten gearbeitet, wo eine regelmäßige Begleitung durch Psychologen angeboten wurde. Hier müssen wird das in Zukunft ernsthaft in Betracht ziehen! Oft gelingt es, alles so gut wie möglich und allein zu bewältigen, aber manchmal häuft sich alles an, und am Ende wird man nicht mehr damit fertig!
Um noch einmal auf das Thema Impfung zu sprechen zu kommen. Hat uns die Corona-Pandemie in dieser Hinsicht ein positives Erbe hinterlassen?
Dr. Luca Tondulli: Zweifellos. Dank Covid wurden in einem Jahr Ergebnisse erzielt, auf die wir unter normalen Umständen zehn und mehr Jahre gewartet hätten. Eben weil die Forschung gebündelt werden konnte. Impfstoffe vom mRNA-Typ (wie der Covid-Impfstoff) sind sehr vielversprechend. Nicht im Sinne einer traditionellen Impfung, sondern als zusätzliche Behandlung, eine Möglichkeit, dem Immunsystem zuzuspielen, damit es Tumorzellen rechtzeitig erkennt. Noch befindet sich alles in der Versuchsphase, aber ich gehe davon aus, dass wir in wenigen Jahren konkret damit arbeiten werden. Eine Ergänzung der medizinische Behandlung, die die Wirkung der modernen Krebstherapien optimiert und verstärkt. Und auch ich möchte noch einmal auf ein Thema zurückkommen: Mir ist klar, dass es viel einfacher ist, sich von, plakativen Nachrichten gefangen nehmen zu lassen und dass wissenschaftliche, eher trockene Nachrichten weniger Anklang finden, weil sie komplexer sind. Anstatt nicht fundierten Gerüchten nachzulaufen, von wegen, dass Krebserkrankungen junger Menschen durch Impfungen verursacht werden, wäre es wesentlich einfacher und effektiver, auf den eigenen Lebensstil zu achten. Also: Nicht rauchen, gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, wenig Industriezucker, ausreichend Bewegung, wenig Alkohol und Schutz vor der Sonne! Viel mehr braucht es nicht!
Plätze der Hoffnung. Der Chemotherapie-Saal im Krankenhaus Bozen
Dr. Luca Tondulli
Seit 1. Dezember 2022 Primar der Onkologie am Landeskrankenhaus Bozen, davor zwölf Jahre an der Uniklinik Verona. Sein Spezialgebiet sind Kopf- und Halskrebs, Melanome und Hautneoplasien. Nach der Facharztausbildung an der Klinik Humanitas, war er auch an der Klinik San Raffaele in Mailand tätig.

Aktuell

„Ich gehe zur Freundin“

Barbara, 40 Jahre und voller Enthusiasmus, trotz oder durch die Krankheit


Im vergangenen September ist sie allein zu ihrem Termin in der Onkologie gegangen, fest überzeugt, dass der kleine Knoten, den sie ertastet hatte, nichts Ernstes sei. Auf die Diagnose Krebs war die 39jährige Barbara nicht vorbereitet. Aber es kam anders: Stadium drei. Negativer Gentest. Insgesamt 16 Zyklen Chemotherapie. Im Anschluss eine Quadrektomie und Strahlentherapie. Aber Barbara lächelt, sie ist überzeugt, dass sie die Krankheit besiegen wird. Ohne jeden Zweifel. Hundertprozentig, sagt sie. Dank der Freundin.
Freundin, so nennt sie die Chemotherapie. Jeden Donnerstagabend, nach der Begegnung mit der Freundin, ist sie müde, hat Mühe, die Treppe zu steigen, aber sie fühlt sich auch glücklich. Sie hat das Gefühl, dass sie der Genesung einen Schritt nähergekommen ist. Der erste Moment, als ihr die Diagnose mitgeteilt wurde, war ein Schock. Es war auch sonst ein schrecklicher Tag", erinnert sie sich, "grau in grau. Nass. Und als ich das Krankenhaus verließ, dachte ich: Ich bin 39 Jahre alt, und jetzt muss ich sterben." Doch die Verzweiflung machte bald der Entschlossenheit Platz. „Ich muss meinen Kopf benutzen“, sagte sie sich. Und das hat sie getan und tut es immer noch.

Barbara wurde in der Slowakei geboren, sie lebt seit 15 Jahren in Bozen, arbeitet als Kellnerin in einem Restaurant im Zentrum von Bozen und fühlt sich dort unter Freunden, ja wie in einer Familie aufgenommen. Nachdem sie die Hotelakademie in der Slowakei abgeschlossen hatte, ging sie ins Ausland. Arbeitete in der Schweiz, in Italien, Norwegen und Deutschland. Irgendwann dachte sie: „Entweder ich gehe zurück in die Slowakei oder ich lasse mich in Italien nieder.“ Sie wählte Letzteres und hier fühlt sie sich jetzt zu Hause. Sie lebt mit ihrem Partner Stefano zusammen, und genau zu dem Zeitpunkt, als die Krankheit in ihr Leben trat, dachten sie daran, eine Familie zu gründen. Also bat sie um einen Termin in Bruneck, im Sterilitätszentrum. Die Idee war, alles für eine künstliche Befruchtung nach der Chemotherapie vorzubereiten. Doch das Schicksal entschied anders. „Sie haben keine zwanzig Tage mehr zu verlieren", erklärte ihr der Arzt des Zentrums. Zwanzig Tage, die Zeit, die für die Hormonbehandlung benötigt wird, die für die Eizellentnahme notwendig ist. Ein Traum geplatzt, ein Kapitel abgeschlossen.

„Wir machen es uns zu zweit schön“, tröstete sie Stefano, ihr Partner. Seit dem Beginn der Therapie sind sie sich als Paar noch nähergekommen als zuvor. "Es gibt viele Möglichkeiten, glücklich miteinander zu leben", sagt Barbara, und die Überzeugung, mit der sie das sagt, klingt absolut echt. Barbara gehört nicht zu den Menschen, die sich in Gedanken über die Ungerechtigkeit eines widrigen Schicksals verlieren. Sie ist es gewohnt, zu reagieren, zu agieren. Immer zu versuchen, die positiven Seiten der Dinge zu sehen.

Der erste Monat nach der Diagnose war die schlimmste Zeit. Sie geriet in den Strudel der verschiedenen Untersuchungen, die vor Therapiebeginn durchgeführt werden mussten. Eine Zeit, geprägt von Zweifeln, Ängsten, Unsicherheiten und Unwissen. Barbara verträgt die Chemotherapie gut, abgesehen von der Müdigkeit am Donnerstag. Keine Übelkeit. Vor dem ersten Mal hatte sie Angst. Und dann war sie überrascht von der angenehmen Atmosphäre auf der onkologischen Station in Bozen. "Ich hatte es mir viel, viel schlimmer vorgestellt!" Der Verlust ihrer schönen langen blonden Haare war zunächst ein Schock. Als ihr die Haare büschelweise ausfielen, wandte sie sich an eine Friseurin, die ihr das lange Haar in mehreren Etappen abschnitt. "Sie hat das einfach toll gemacht. Am Ende kam ich mit meiner neuen Perücke und einem Lächeln im Gesicht aus dem Salon.“

Ohne eitel zu sein, achtet Barbara auf ihr Äußeres. Sich gehen zu lassen, ist nicht ihre Sache. Sie hat schon immer Sport getrieben, um sich fit zu halten, und tut es auch jetzt noch, von zu Hause aus, mit Hilfe von Videos. Ein bisschen Yoga, ein bisschen Gymnastik. Durch die Krankheit hat sie das Meditieren schätzen gelernt und ihre Essgewohnheiten umgestaltet. "Früher habe ich mir nie Zeit zum Essen genommen, ich war immer in Eile. Ich habe meinen Körper ein bisschen wie einen Mülleimer behandelt", lacht sie. "Ohne besonderen Wert auf die Qualität des Essens zu legen. Ich habe nicht besonders auf die Zutaten geachtet oder darauf, woher sie kamen." Heute isst sie nicht nur langsam, sondern auch gesund, sie kauft sorgfältig und gerne ein, biologische und regionale Produkte. Sie nimmt sich Zeit zum Kochen.

Barbara liest gerne und viel und geht gerne in Bozen und in den Bergen spazieren. Zwei Aktivitäten, die ihr auch im Krankheitsalltag helfen, in der erzwungenen Pause vom aktiven Leben, der für eine Frau, die erst 40 Jahre alt ist und eigentlich in den besten Jahren sein sollte, schwer zu bewältigen ist. Das Meer ist eine weitere große Leidenschaft. Wenn alles vorbei ist, möchte sie gerne eine Woche ans Meer fahren. Und dann aber gleich wieder zur Arbeit gehen. Sie vermisst ihre Arbeit so sehr, die täglichen Begegnungen mit den Kunden und ihren Kollegen-Freunden.

In der Südtiroler Krebshilfe hat sie einen sicheren Hafen gefunden, wertvolle Unterstützung. Der erste Besuch im Büro Bozen endete mit einer herzlichen, von Tränen durchtränkten Umarmung. Die Tür öffnete ihr die Vorsitzende Maria Claudia Bertagnolli, seit Jahren ihre Kundin im Restaurant, und die Überraschung, sich in dieser Situation wiederzufinden, war für beide bewegend.

Und wie sieht sie ihre Zukunft? Barbaras Gesicht erhellt sich: "Ich sehe die Krankheit als Chance, als Ansporn, mein Leben zu ändern, mich selbst so zu lieben, wie ich bin." Die Krankheit hat sie den Wert von Beziehungen erkennen lassen, die starke Bindung zu ihrem Partner, die familiäre Beziehung zu ihren Kollegen, die Liebe zum Leben. Alles wertvolle Dinge, die vorher da waren, aber hinter der Routine des Alltags verborgen waren. Barbara lächelt: "Die Freundin hilft mir, die Krankheit zu überwinden!