Thema

Was bleibt

Ein junger Mann stirbt an Krebs und hinterlässt seine Lebensgeschichte
Ein junger Mann erhält eine Diagnose. Hodenkrebs in fortgeschrittenem Stadium, bereits metastasiert. Seine kleine Tochter Emma ist gerade 12 Wochen alt. Er nimmt den Kampf gegen die Krankheit auf, nach zwei Jahren, am 7. März 2024, verliert er ihn. Vor seinem Tod nimmt der 36jährige Mark Marsh-Hunn mit professioneller Hilfe ein Hörbuch für seine Tochter auf. Seine Eltern müssen mit der Trauer um den Tod ihres Sohnes fertig werden.
Und denken dabei auch an andere.
Peter Marsh-Hunn ist bekannt in Südtirol. Generationen haben dank ihm Englisch gelernt. Gründer der Piccadilly-School for English, Prüfer für Sprach-Zertifikationen, Kursleiter an der Freien Universität Bozen und heute auch Guide für amerikanische Touristen, die Südtirol besuchen. Seine Frau, Gerti Renner, ist ebenfalls Lehrerin. Vor zwei Jahren, zurück von einem längeren Aufenthalt in Süditalien, erhalten sie eine Nachricht von ihrem Sohn Mark, der seit 15 Jahren in Freiburg lebt und arbeitet. Der begeisterte Alt-Historiker ist Lehrbeauftragter an der Fakultät für Alte Geschichte an der Universität Freiburg. Er schreibt Bücher, nimmt an Ausgrabungen teil, erforscht das Alltagsleben der alten Griechen und schreibt seit neun Jahren an einer Art historischen Roman, geschrieben im Stil eines Film-Scripts, weiß junge Menschen für sein Fachgebiet zu begeistern. Er kündet den Eltern einen dringenden Video-Call an. Was er ihnen mitteilen wird, reißt ihre Welt entzwei. Eine Diagnose. Hodenkrebs in fortgeschrittenem Stadium, Metastasen in Gehirn und Lunge. Die ersten Anzeichen hatte Mark lange mit Covid-Symptomen verwechselt und sich immer wieder mit negativem Ergebnis auf das Virus getestet.
„Mark war ein hundert Prozent offener und ehrlicher Mensch“, sagt Peter Marsh-Hunn. Und dies galt auch für seinen Umgang mit der Krankheit. Krebs war kein neues Thema in der Familie. Gerti Renner selbst erkrankte vor vielen Jahren an Krebs, Peters Mutter sogar zweimal und auch der jüngere Sohn von Gerti und Peter, Daniel, war an Hodenkrebs erkrankt, der glücklicherweise früh diagnostiziert und geheilt werden konnte. Tests ergeben keinen Hinweis auf eine familiäre genetische Mutation.
Mark nimmt den Kampf auf. Die Uniklinik Freiburg ist deutschlandweit und auch darüber hinaus bekannt für die modernen Therapieeinrichtungen. Mehrere Chemo- und Strahlentherapien, eine Immuntherapie, auf die der bereits geschwächte Organismus nicht anspricht, Reha-Therapien aufgrund einer durch die Therapien verursachten Polyneuropathie und auch die Suche nach Alternativen, zusätzlich zur Schulmedizin. Naturheilkunde, Ketodiät. Er versucht, so viel Zeit wie möglich zuhause zu verbringen, Familienleben mit seiner Partnerin Hanna und der kleinen Emma. Zeiten der Hoffnung wechseln ab mit Rückschlägen. Vater Peter: „Wir haben immer gehofft, dass er nicht stirbt, aber wir haben darüber gesprochen, dass er sterben könnte.“
Ein Glücksfall für die Eltern: Neben der Wohnung ihres Sohnes in Freiburg befindet sich eine kleine Garçonniere eines befreundeten Arztes. Er stellt diese den Eltern kostenlos zur Verfügung. „Wir haben die letzten zwei Jahre hauptsächlich in Freiburg verbracht, konnten helfen, wann es uns gebraucht hat, aber wir störten nicht die Privacy der jungen Familie.“ Im Sommer 2023 verbrachte Mark mit seiner kleinen Tochter und Partnerin Hanna noch einen fast unbeschwerten Urlaub in Südtirol. Bei den Schwiegereltern im Vinschgau und in Bozen bei seinen Eltern. Wanderungen im Sarntal, in Durnholz und Reinswald. Die Illusion einer Normalität. Familienfotos mit lachenden Gesichtern. Mark mit Emma auf dem Rücken. Mark mit Hanna und Emma, mit den Eltern und dem Bruder, mit seiner Mutter Gerti. Im Herbst ist Mark noch einmal zu Besuch in Südtirol. Bei den Schwiegereltern bricht er am Frühstückstisch zusammen, wird ins Krankenhaus Bozen transportiert, wo neue Metastasen im Gehirn diagnostiziert werden. „“Dann ging es abwärts“, erinnert sich Peter. „Ich habe ihn nach Freiburg zurückgebracht.“ Eine dunkle Zeit, unterbrochen von kleinen Lichtblicken.
Nachdem die Immuntherapie nicht anschlägt, weiß Mark, dass seine Tage gezählt sind. Er hat keine Angst vor dem Tod, aber dass er seine kleine Emma nicht ins Leben begleiten kann, erfüllt ihn mit Trauer. Seine Partnerin Hanna stößt auf eine Webseite: Familienhörbuch. Nimmt Kontakt auf.
Wenige Tage später kommt eine Frau aus Köln nach Freiburg. Einen Nachmittag lang spricht sie mit Mark. Einfühlsam. Sich kennenlernen. Vertrauen aufbauen. Erfahren, was ist ihm wichtig. Welche Erinnerungen und Erlebnisse. Was möchte er von sich selbst weitergeben. Seine Familie, seine Herkunft, seine Werte und Interessen. Die erste Liebe. Themenbereiche werden abgesteckt, eine Liste erstellt.
Am nächsten Tag, erinnert sich Vater Peter, kam sie mit Geräten. Sie haben Musikeinlagen besprochen, eine Playlist erstellt. „Dann hat Mark zwei Tage lang gesprochen. Die Fragen stellte er sich selber, sprach Themen an.“ Die Fotos, die dabei aufgenommen werden, zeigen einen Menschen mit einem sanften, friedvollen Gesichtsausdruck. Zurück in Köln, wird das Material hochprofessionell bearbeitet und geschnitten. Das fertige Audio wird der Familie zugestellt.
„Für unseren Sohn war dies ungemein tröstlich, deshalb liegt mir so viel daran, andere Menschen auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen“, betont Peter Marsh-Hunn. „Er war glücklich und ganz ruhig während der Aufnahmen. Konzentriert. Er blühte förmlich auf.“ Auch wenn er sie nicht mehr in seine Arme nehmen kann, wird die kleine Emma die Stimmen ihres Vaters hören können. Eine Stimme, aus der unendliche Liebe spricht.
Das Weihnachtsfest 2023 verbringt die Familie noch zusammen. Der Tod wird offen angesprochen. Mark geht es schlechter, er hört weniger und hat Sehstörungen. Er schreibt sein Testament, legt Dinge fest, verbringt viel Zeit mit seiner Tochter.
Peter und seine Frau Gerti gehen offen mit ihrer Trauer um. Jeder auf seine Weise, aber auch gemeinsam. Sie sind sich bewusst, dass es Jahre dauern wird, dass immer eine offene Wunde zurückbleiben wird. Während der Zeit in Freiburg haben sie psychologische Hilfe für Angehörige in Anspruch genommen. „Aber wir haben das nicht als hilfreich für uns empfunden,“ sagt Peter. Sie schließen sich nicht zuhause ein. Besuchen Konzerte, treffen sich mit Freunden. Verbringen viel Zeit in der Natur. In der Wohnung in Bozen erinnert vieles an ihren Sohn. Mit anderen Menschen reden sie wenig über ihre Trauer. „Es hat keinen Sinn, mit jemandem darüber zu reden, der das nicht selbst erlebt hat“, sagt Peter Marsh-Hunn. Auf leere Beileidsfloskeln legen sie keinen Wert.
Nicht zuletzt hat auch Marks Haltung ihnen geholfen, seine Offenheit. Peter Marsh-Hunn: „Wir versuchen den gesunden Menschenverstand walten zu lassen und zum Glück sind wir beide sehr beschäftigt!“ Vor allem sind sie darauf bedacht, ihren jüngeren Sohn Daniel nicht zu bedrängen. Nicht zu klammern, nennt es Peter. „Er liebt Snowboarden, Radtouren, Klettern, Reisen in nicht ungefährliche Gegenden… Manchmal sind wir besorgt,“ gibt er zu. Er schaut ins Leere: „Irgendwann werden wir die Audiobiographie von Mark anhören.“

Thema

Eine Stimme für das Leben

Die gemeinnützige Vereinigung „Familienhörbuch“ gibt Eltern mit lebensverkürzender Diagnose die Möglichkeit ihren Kindern eine Audiobiografie zu hinterlassen.
Das erste Familienhörbuch hat Judith Grümmer 2014 aufgenommen – FOTO: Familienhörbuch GmbH
Eine Medizin-Journalistin beim Deutschlandfunk, die sich in den 80er Jahren viel mit Hospiz und Palliativ befasst hat. Es ist die Zeit, in der AIDS bekannt wird, in der die ersten Palliativ-Strukturen gegründet werden. Als sie Mutter wird, fragt sie sich: „Was würde ich tun, wenn ich unheilbar erkranken würde?“ Ihre Antwort: „Ich würde Hör-Kassetten vollquatschen.“ Das war die Geburt der Idee. Für die Umsetzung brauchte Judith Grümmer viele Jahre. Nach einem Umweg über Senioren, richtete sie den Fokus auf junge Erwachsene und entschied, dieses Angebot muss kostenfrei sein. 2014 startete sie zunächst allein, ab 2017 im Team und 2019 gründete sie die gemeinnützige GmbH, „Das Familienhörbuch“.
„Alles, was eine Stimme hat überlebt“ steht in der Dachzeile der Homepage von Familienhörbuch. Die Idee ist denkbar einfach. Unheilbar erkrankte Eltern mit minderjährigen Kindern leiden vor allem darunter, sie nicht ins Erwachsenenalter begleiten zu können. Das Familienhörbuch lässt sie zu Wort kommen, verleiht ihrer Stimme Dauer. Was man weitergeben möchte, ändert sich von Person zu Person. Der größte Spaß als Kind: Durch Pfützen springen, auf Bäume klettern, Fußballspielen… Wie man seinen Partner kennen gelernt hat. Der erste Kuss. Wie man Schwangerschaft und Geburt des/der Kindes/r erlebt hat. Welche Werte man hat. Was einen glücklich macht. Welche Dinge man seinen Kindern weitergeben möchte. Liebe. Freude. Erfahrungen. Auch Abschiedstrauer. Ein Leben in Worten. Ein Geschenk für das Leben.
Die Stimme von Vater oder Mutter ist ein Schatz für die Hinterbliebenen. Die Stimme und die Lebensgeschichte rufen Erinnerungen und Bilder der ganzen Person wach. „Es gibt kein zu früh für das Familienhörbuch“, betont Carmen Dreyer, Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit bei Familienhörbuch. „Wir ermutigen die Menschen, früh mit uns Kontakt aufzunehmen, wenn sie noch Kraft haben. Manche hören sich gewisse Teile des Familienhörbuchs noch zusammen mit Partner und Kindern auf der Couch oder kuschelnd im Bett an.“ Das Familienhörbuch ist in Kapitel unterteilt, die auch in verschiedenen Momenten gehört werden können, wenn Kinder schon größer sind. Es gibt auch sogenannte Tresor-Kapitel, die möglicherweise erst dem Erwachsenenalter vorbehalten sind.
Das Familienhörbuch besteht aus sechs Festangestellten und einem großen Team an freiwilligen Mitarbeitern. Rund 80 AudiobiografInnen, die eine spezifische Weiterbildung am Zentrum für Palliativmedizin in Bonn absolviert haben, ein ehrenamtliches Psychologinnenteam, ein wissenschaftliches Begleitteam, das aus ExpertInnen für Palliativmedizin und Onkologie sowie PsychologInnen besteht, über 30 Sounddesigner, Tontechniker und (Hörbuch)Produzenten. Mitarbeiter, die sich um Verwaltung, Fundraising und Spenden kümmern. Das Psychologen-Team steht auf Wunsch auch den Familienangehörigen zur Verfügung. Laut Satzung werden Familienhörbücher für lebensverkürzend erkrankte Menschen mit Kindern unter 18 Jahren erstellt. Die Kinder können leiblich, adoptiert, Stiefkinder oder auch Pflegekinder sein. „Bisher mussten wir niemanden abweisen. Auch wenn die Finanzlage vielleicht etwas knapp wurde, im letzten Moment kam immer wieder etwas herein“, berichtet Carmen Dreyer. Die Erstellung eines Familienhörbuchs kostet zwischen 5.000 und 6.000 Euro. Die AudiobiografInnen reisen entweder an oder die betroffene Person kommt zu ihnen, es können aber auch online Familienhörbücher erstellt werden.
Das längste bisher erstellte Familienhörbuch dauert 15 Stunden, das kürzeste 50 Minuten. Der Schnitt liegt bei sechs bis sieben Stunden. Zu hören ist nur die Stimme des Vaters oder der Mutter. Die AudiobiografInnen bleiben im Huintergrund, aber ihr Beitrag ist wichtig, um den Betroffenen zu helfen, ihre Erinnerungen zu ordnen, das Hörbuch zu strukturieren. Grundsätzlich ist das Team immer im Einsatz. „Einmal haben wir ein Hörbuch am ersten Weihnachtsfeiertag erstellt, weil sich der Zustand eines Betroffenen, der Anfang Januar einen Termin hatte, unerwartet verschlechtert hat.“
Mit der Erstellung eines Familienhörbuchs sind rund hundert Arbeitsstunden verbunden. Zunächst lernen sich AudiobiografInnen und Betroffene in einem Gespräch kennen. Sie besprechen mögliche Themen. Die Betroffenen können eine Playlist mit Lieblingsmusik vorgeben. Die Aufnahme nimmt durchschnittlich drei Tage (oder sechs halbe Tage) in Anspruch. Das gesamte Material wird anschließend von den Sounddesignern und Tontechnikern professionell überarbeitet, geschnitten, mit Musik und Ton unterlegt.
Seit 2017 wurden 526 TeilnehmerInnen in das Projekt aufgenommen, 829 Kinder haben das Geschenk eines Familienhörbuchs erhalten. „Im vergangenen Jahr haben wir 178 erstellt, dieses Jahr werden es schätzungsweise um die 200“, sagt Carmen Dreyer. Der Verein ist zu 100 Prozent über Spenden finanziert, 50 Prozent über Stiftungen, 50 Prozent über private Spender. „Es gibt Firmen, die uns eine Rest-Cent-Aktion schenken, die Post-Code-Lotterie hat uns schon mehrmals unterstützt, die Familien von Betroffenen unterstützen uns…“
Wissenschaftlich begleitet wird Das Familienhörbuch vom Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen und für Palliativmedizin des Uniklinikums Heidelberg. Die gemeinnützige Vereinigung war schon Gegenstand von drei Forschungsprojekten, aktuell läuft eine Fragenbogenaktion mit den ersten dreihundert Familien, die eine Audiobiografie aufgenommen haben, um zu erfassen, welche möglichen Auswirkungen die Erstellung des Hörbuchs auf die psychosoziale Stabilität und die persönliche Bewältigung der Erkrankungssituation hat. Alle würden es wieder tun“, betont Carmen Dreyer. Langfristiges Ziel ist, das Familienhörbuch zu einem institutionellen Angebot im Rahmen des Gesundheitswesens, bzw. der Trauerbegleitung zu machen.
Die AudiobiografInnen nehmen alle zwei Jahre an einer mehrtägigen Weiterbildung teil, es gibt Einzel- und Gruppen-Supervision. „Wir haben mehrere AudiobiografInnen, die mehrere Sprachen sprechen, um auf die Bedürfnisse mehrsprachige Familien eingehen zu können.“ Die AudiobiografInnen sind über ganz Deutschland verteilt, aber sie sind auch in Frankreich oder der Schweiz tätig. „Wir haben auch schon Familienhörbücher in den USA, in Australien oder in kroatischer Sprache aufgenommen.“ Grundsätzlich werden Anfragen aus dem Ausland angenommen.
Warum die Entscheidung, nur Journalisten als AudiobiografInnen zu akzeptieren? „Das Gespräch soll so ähnlich sein, wie wenn man im Zug jemandem begegnet und ihm spontan sein Leben erzählt,“ erklärt Carmen Dreyer. „Eine kurze Begegnung, getragen von einem spontanen Vertrauen, aus der eine gut strukturiert erzählte Lebensgeschichte entsteht." Dafür schienen Judith Grümmer, der heute 65jährigen Gründerin von Familienhörbuch, in Gesprächsführung geschulte JournalistInnen am geeignetsten. Ihr größter Wunsch, neben einer institutionellen bzw. dauerhaften Unterstützung und Sicherheit: „Dass wir als Gesellschaft lernen, uns dem Thema der Sterblichkeit auch von jungen Menschen zu stellen, dass wir sie in unserer Mitte lassen, sie begleiten und sie mit in die Zukunft nehmen.“
Väter und Mütter, die mit einer unheilbaren Krankheit und einer lebensverkürzenden Diagnose konfrontiert sind und minderjährige Kinder haben, können sich unter kontakt@familienhoerbuch.de um die Aufnahme eines Familienhörbuchs bewerben.
Informationen: www.familienhoerbuch.de
Diese Videos geben einen Einblick in Das Familienhörbuch (in deutscher Sprache):
www.youtube.com/watch?v=lCSJHw3k84E
www.youtube.com/watch?v=GOURDZWf8So&t=8s