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Wichtig: Selbstmedikation vermeiden
Interview mit dem Primar der Abteilung für Komplementärmedizin, Dr. Giuseppe Cristina
FOTO: Ewa Urban / Pixabay
Onkologe und Komplementärmediziner Dr. Giuseppe Cristina
Eine im Juni im JAMA (Journal of the American Medical Association) veröffentlichte amerikanische Studie hat gezeigt, dass der langfristige und tägliche Gebrauch von Multivitaminpräparaten die Lebenserwartung nicht verlängert. Viele Menschen erwarten sich hingegen, wenn keine Wunder, zumindest einen spürbaren positiven Effekt auf ihren Körper und sind bereit, beträchtliche Summen für diese Produkte auszugeben.
Dr. Giuseppe Cristina: Es handelt sich um eine sehr wichtige Studie, sowohl was die Anzahl der Teilnehmer als auch die Dauer der Nachbeobachtung betrifft, das Ergebnis muss aber mit Einschränkungen bewertet werden. Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie, und die Lebensweise der amerikanischen Bevölkerung unterscheidet sich von unserer. Was für eine allgemein gültige Aussage fehlt, ist eine langfristige Fall-Kontroll-Studie, die eine adäquate Antwort auf die Nutzung von Nahrungsergänzungsmitteln in einer gesunden Erwachsenenpopulation geben würde. Ohne diese besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse verallgemeinert werden. Aber nichts desto trotz, das Thema ist äußerst aktuell und hat eine dreifache Dimension: wirtschaftlich – wie Sie bereits erwähnt haben, können diese Produkte recht teuer sein – aber auch sozial und gesundheitlich. Italien ist der größte Markt in Europa, sowohl für den Konsum als auch für die Produktion von Nahrungsergänzungsmitteln durch qualifizierte und innovative Unternehmen. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung verwendet Nahrungsergänzungsmittel, um ihren Gesundheitszustand zu erhalten, sportliche Leistungen zu verbessern, chronisch-degenerative Krankheiten zu vermeiden, laufende Therapien zu ergänzen oder Rückfälle einer Krankheit zu verhindern. Das Problem ist, dass der ungesteuerte Konsum dieser Produkte unter Umständen erhebliche gesundheitliche Konsequenzen haben könnte.
Inwiefern?
Dr. Giuseppe Cristina: Um dies besser zu verstehen, muss man beim Konzept der Prävention ansetzen, das heißt, die Umsetzung von Maßnahmen, die dazu dienen, das Auftreten, die Verbreitung und das Fortschreiten von Krankheiten zu verhindern. Es gibt drei Arten der Prävention. Die primäre Prävention umfasst vor allem die Führung eines gesunden Lebensstils (gesunde Ernährung, Nichtrauchen, körperliche Bewegung usw.). Dann gibt es die sekundäre Prävention, also die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, und schließlich die tertiäre Prävention, die nach einer Diagnose zum Einsatz kommt, um eine Chronifizierung oder ein Wiederauftreten der Krankheit zu verhindern. In jedem dieser Stadien könnten Nahrungsergänzungsmittel eine positive, neutrale oder potenziell schädliche Wirkung haben.
Können Sie einige Beispiele nennen?
Dr. Giuseppe Cristina: Nehmen wir Vitamin D, das für die Gesundheit von Frauen nach der Menopause zur Vorbeugung von Osteoporose unerlässlich ist. Ohne einen effektiven Mangel kann ein Übermaß an Vitamin D jedoch Anorexie, Bluthochdruck oder Nierenversagen verursachen. Ein weiteres Beispiel betrifft Männer: Die Einnahme von Vitamin E, ohne Mangel und in zu hoher Dosierung kann das Risiko für Prostatakrebs erhöhen. Nebenbei können auch Lebensmittel, je nach Gesundheitszustand, unerwünschte Nebenwirkungen haben. Die American Cancer Society hat festgestellt, dass der regelmäßige Verzehr von Sojaprodukten gesunde Frauen vor der Entwicklung eines Brustkrebses schützen kann. Nach einer Diagnose kann der Genuss von Soja jedoch die Wirksamkeit von Tamoxifen beeinträchtigen und damit das Risiko eines Rückfalls erhöhen. Ebenso kann der Verzehr von Grapefruit, die in einem gesunden Zustand als sehr gesund gilt, bei bestimmen Erkrankungen potenziell gefährlich sein, da sie mit bestimmten Medikamenten (einschließlich Krebsmedikamenten) interagiert und deren Wirkung negativ verändern kann.
Man sollte also immer einen Arzt konsultieren, bevor man Nahrungsergänzungsmittel einnimmt, und nicht nur diese …
Dr. Giuseppe Cristina: Sich an den Hausarzt oder einen Facharzt zu wenden, ist auch vor der Einnahme scheinbar ‚harmloser‘ pflanzlicher oder natürlicher Substanzen eine gute Praxis. Nahrungsergänzungsmittel sollten nicht eingenommen werden, ohne einen tatsächlichen Mangel und eine Notwendigkeit festgestellt zu haben. Dies gilt besonders für Menschen in onkologischer Therapie und in der unmittelbaren Nachbehandlungsphase. Zusammenfassend: man sollte Selbstmedikationen vermeiden. Nahrungsergänzungsmittel sollten nur auf Anweisung eines Spezialisten eingenommen werden, nachdem niedrige Werte von bestimmten Vitaminen oder eines Minerals festgestellt wurden. Ansonsten reicht es aus, sich ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren und bewusst auf die Qualität und Quantität dessen zu achten, was wir essen. Die Prävention von Krebs beginnt auch mit gesunden Ernährungsgewohnheiten. Es ist wichtig, sich stets eines bewusst zu machen: Natürlich oder vitaminhaltig ist nicht gleichbedeutend mit gesund und/oder sicher für jeden!
Sie haben Ihre Karriere als Endokrinologe und Onkologe begonnen. Warum haben Sie sich der Komplementärmedizin zugewandt, die von Ärzten anderer Fachrichtungen nicht immer wohlwollend betrachtet wird?
Dr. Giuseppe Cristina: „Ich denke, dass die Behandlung von Krebserkrankungen – wie auch anderen Krankheiten – eine ganzheitliche Betreuung des Patienten erfordert. Radio-, Chemo-, Immuntherapie sowie die neuesten genetisch bestimmten Antikörper Therapien sind notwendig und grundlegend, um das bestmögliche klinische Ergebnis zu erzielen. Das Überleben und in einigen Fällen die Heilung haben sich im Vergleich zu vor zwanzig Jahren deutlich verbessert. Die Lebensqualität ist ein entscheidender Faktor im Heilungsprozess bei Therapien, die sich über längere Zeit erstrecken. Ein Patient mit besserer Lebensqualität ist in der Lage, alle seine Therapien ohne Unterbrechung durchzuführen, fühlt sich insgesamt besser und ist psychologisch stabiler. Dieses Ergebnis wird durch eine Kombination von innovativen Therapien, unterstützenden komplementären Therapien und einer effektiven Arzt-Patienten-Kommunikation erreicht. Ein informierter Patient, der aktiv an der Bewältigung seiner Krankheit beteiligt ist (oder, falls dies nicht möglich ist, seine Angehörigen), stellt einen großen therapeutischen Vorteil dar.
Hat Ihre Erfahrung als Onkologe Sie nach Meran geführt?
Dr. Giuseppe Cristina: „Ich würde sagen, ja. Die Komplementärmedizin ist eine zusätzliche Ressource, um die Krankheit zu bewältigen. Der Dienst für Komplementärmedizin in Meran ist ein einzigartiges Beispiel in Italien, mit Ausnahme der Toskana und eines Dienstes in Rom, der jedoch ausschließlich für Brustkrebspatientinnen gedacht ist. Onkologie und Komplementärmedizin sind eine überaus gewinnbringende Kombination in der Behandlung. Das Wissen über die Krankheit und ihre Therapien hilft, besser zu verstehen, was der Patient braucht, und eine proaktive therapeutische Haltung zu entwickeln. Darüber hinaus ermöglicht uns die zunehmende Zahl von Veröffentlichungen im Bereich der integrierten Onkologie (zu denen auch unsere Abteilung beiträgt), nur getestete, validierte, evidenzbasierte und an die klinischen Bedürfnisse des Patienten angepasste Therapien anzuwenden.