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Ich habe sehr klare Vorstellungen

Das Südtiroler Gesundheitswesen: Top-Standards aber auch viele Baustellen
Interview mit Landeshauptmann und Gesundheitslandesrat Arno Kompatscher


Sein Terminkalender ist mehr als wohlgefüllt, sein Arbeitspensum groß. Am 29. März 2022 ist eine neue Kompetenz hinzugekommen. Seit dem Abgang von Thomas Widmann ist Landeshauptmann Arno Kompatscher auch zuständig für das Gesundheitsressort. Natürlich war er auch vorher involviert, die zusätzliche Verantwortung aber hat ihm einen noch tieferen Einblick gewährt.
Wie steht das Südtiroler Gesundheitssystem ihrer Meinung nach da?
LH Arno Kompatscher: Gut. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Bürgern insgesamt eine gute Versorgung bieten. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Baustellen.
Eine davon hängt mit dem Personalmangel zusammen?
LH Arno Kompatscher: Zweifelsohne. Arbeitskräftemangel ist ja nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Regionen ein großes Problem, wir werben uns gegenseitig Leute ab. Und es ist nicht zu leugnen, dass auch die Zweisprachigkeit einer der Gründe dieses Problems ist, aber nicht nur. Wir haben mehr Personal als je, aber der Bedarf steigt.
Wo liegt das Hauptproblem in der Personalbeschaffung? Es geht ja nicht nur um Ärzte, sondern auch um das Pflegepersonal.
LH Arno Kompatscher: Das Problem ist in erster Linie finanzieller Natur, sowohl was die (Jung)Ärzte betrifft, als auch das Pflegepersonal. Bei den Ärzten haben wir schon einen ersten Schritt getan. Das Problem liegt in der Facharztausbildung. In Italien arbeiten die Assistenzärzte fast zum Nulltarif, in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhalten sie hingegen ein volles Gehalt. Wir haben jetzt als erste Region in Italien unsere Facharztausbildung nach österreichischem Modell ausgerichtet. Und der erste Erfolg ist schon in Sicht: In kurzer Zeit hatten wir 130 Jungärzte in unseren Krankenhäusern.
Das Problem liegt aber auch in der Bezahlung der fertig ausgebildeten Ärzte?
LH Arno Kompatscher: Das stimmt. Das Grundgehalt von Ärzten und Primaren entspricht zwar ungefähr dem internationalen Standard, aber in den anderen deutschsprachigen Ländern gibt es mehr Möglichkeiten des Nebenverdienstes, der Intramoenia-Tätigkeit. Dies wollen wir jetzt auch hier ausbauen: dass die Ärzte auch am Abend nach Dienstschluss, an den freien Tagen und samstags Privatvisiten im Krankenhaus anbieten können.
Aber führt das nicht zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft?
LH Arno Kompatscher: Genau das wollen wir vermeiden. Ich bin ein absoluter Verfechter des öffentlichen Gesundheitssystems. Aber wenn die Ärzte Visiten auch außerhalb der Arbeitszeit anbieten können, wirkt sich das insgesamt positiv auf die Wartelisten aus. Wir werden weniger Ärzte verlieren. Und abgesehen von der Visite werden ja alle eventuell notwendigen Folgeuntersuchungen über das öffentliche Gesundheitswesen abgewickelt.
Arbeitskräfte aus dem Ausland sehen sich oft auch mit dem Problem der Studientitel konfrontiert. Und die Zweisprachigkeitsprüfung…
LH Arno Kompatscher: …ist mit Sicherheit auch eine Hürde. Das will ich nicht abstreiten. Zur Studientitelanerkennung habe ich in den vergangenen Jahren zusammen mit anderen Regionen in Rom vorgearbeitet und Fortschritte erzielt. Wir haben konkrete Zusagen des Gesundheitsministers Orazio Schilacci, dass wir die Titel-Anerkennung hier durchführen können und dass generell Titel aus allen europäischen Ländern anerkannt werden können. Unsere Vorstellung geht in Richtung aktive Anwerbung von ärztlichem und Pflegepersonal mit fertigem Vertrag, mit Anerkennung, Wohnangeboten für Bau, Kauf oder Miete, KiTa usw. Außerdem arbeiten wir bereits für den kommenden Herbst an einem neuen Ausbildungsvertrag für Pflegekräfte, der schon während der Ausbildung an der Claudiana ein Grundgehalt von etwa 600 Euro vorsieht.
In den letzten Jahren sind in Südtirol viele Privatkliniken eröffnet worden…
LH Arno Kompatscher: Im Augenblick kommen wir nicht umhin, uns auch privater Leistungen zu bedienen. Aber ich war sehr offen mit den Betreibern: Nach dem italienischen Gesetz ist eine Auslagerung ja nur bei nachgewiesenem Bedarf möglich. Jetzt brauchen wir noch diese Leistungen, aber in absehbarer Zukunft werden es immer weniger!
Baustelle Nummer zwei?
LH Arno Kompatscher: Die Digitalisierung. Hier sind wir hintendran, weil es trotz aller Bemühungen noch nicht gelungen ist, die früheren vier Gesundheitsbetriebe tatsächlich in einem zu vereinen. Es herrscht zum Teil noch Kirchturmdenken vor. Es geht ja nicht darum, alles zu zentralisieren. Ziel ist die Aufteilung der Aufgaben zwischen Landeskrankenhaus und Grundversorgungskrankenhäusern, vereint in einem Betrieb. Zusätzlich braucht es eine enge Zusammenarbeit mit den Schwerpunktkrankenhäusern und der wohnortnahen Versorgung.
In dieser Hinsicht spielt die Kommunikation eine wichtige Rolle.
LH Arno Kompatscher: Das wäre auch die dritte Baustelle. Oder besser eine Mission. Ein konkretes Projekt. Eine effiziente Kommunikation auf horizontaler und vertikaler Ebene, eine neue Kultur des Miteinanders, des Sich-Abstimmens und zwar auf allen Ebenen: Verwaltung, Pflege, Ärzteschaft, Allgemeinmedizin, Krankenhaus und Politik.
Stichpunkt Allgemeinmedizin. Der Generationen-Wechsel ist ein großes Problem. Die Bewerber stehen nicht gerade Schlange.
LH Arno Kompatscher: Nein und das ist ein ungemein wichtiger Bereich. Auch hier sind wir schon aktiv. Gelder des famosen Wiederaufbaufonds PNNR werden genutzt, um die Gruppenmedizin zu fördern, um Zentren einzurichten. Sie sind schon im Bau! Wir wollen Allgemeinärzte mit Diagnostikgeräten ausstatten, wie es europaweit bereits Standard ist, für Ultraschalluntersuchungen, EKG, Röntgenaufnahmen. Das muss nicht ans Krankenhaus weitergeleitet werden. Und eben eine gute Kommunikation, zwischen Allgemeinarzt und Facharzt mittels Videokonferenzen, Telemedizin… Und es braucht weniger unangemessene Verschreibungen, die auch Ergebnis der mangelnden Kommunikation sind. Südtirol liegt hier im negativen Sinn deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Da können erheblich Kosten und Ressourcen gespart werden. Ein weiterer Punkt, worum wir uns auch bemühen, ist die Anerkennung der Allgemeinmediziner als Fachärzte.
Südtiroler sind absolute Impfskeptiker. Sie nehmen die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen zum Teil nicht wahr. Abgesehen von Covid, Impfungen können auch Krebserkrankungen vorbeugen!
LH Arno Kompatscher: Was das Impfen betrifft, geht diese Herausforderung bis auf Andreas Hofer zurück. Es stimmt, hier bekommen wir regelmäßig rote Karten und leider werden auch die Vorsorgeuntersuchungen nur zum Teil wahrgenommen. Hier braucht es noch mehr Aufklärungsarbeit. Bei einzelnen Aktionen haben wir dann wieder positive Ergebnisse, wie z.B. bei der Hepatitis-C Kampagne, da waren wir besser als der italienische Durchschnitt. Bei HPV sind wir leider Schlusslicht.
Das Ressort Gesundheit ist mit 1.464 Millionen Euro im Haushalt 2023 der größte und wohl auch einer der komplexesten Aus- und Aufgabenbereiche des Landeshaushaltes, nach der Bildung mit 1.076 Millionen Euro. Wie schaffen Sie dieses Pensum zusammen mit Ihren Verpflichtungen als Landeshauptmann?
LH Arno Kompatscher: Ich bin gewohnt, viel zu arbeiten. Ein Landesrat nimmt ja nicht alle operativen Aufgaben des Ressorts wahr. Das Gesundheitswesen ist gut strukturiert. Wir halten intensive Dienstsitzungen ab, mit einem Kernteam oder auch im größeren Team, um alle Punkte abzuarbeiten. Das erfordert viel Vorarbeit. Dann gilt es für mich, Entscheidungen zu treffen. Option 1 oder Option 2… Und ich habe sehr klare Vorstellungen!
Südtirol ist die erste Provinz in Italien, deren öffentliches Gesundheitswesen bei medikamenten-intensiven Patientengruppen (z. B.Tumore, Herzerkrankungen, Psychopharmaka) eine kostenfreie pharmako-genetische Untersuchung durchführt. Klare Vorstellungen?
LH Arno Kompatscher: Auf jeden Fall. In diesem Bereich sind wir Vorreiter! Statt des Systems Trial & Error ziehen wir es vor, gezielt zu agieren. Diese Untersuchungen ersparen den Patienten Leid und ermöglichen es, jedem eine individualisierte Therapie auf den Leib zu schneidern. Gleichzeitig kann das Gesundheitssystem enorme Summen, die anderweitig zum Wohle der Patienten einsparen investiert werden können.

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Das Recht auf Vergessen

Was passiert in den interparlamentarischen Arbeitsgruppen?


Was machen die Parlamentarier in Rom eigentlich, fragen sich so manche, vor allem angesichts der oft leeren Bänke im Plenumssaal. Renate Gebhard ist eine der drei Südtiroler SVP-Abgeordneten in der italienischen Abgeordnetenkammer. Sie ist von Dienstag früh bis Donnerstagabend in Rom und verbringt die meiste Zeit in den Sitzungssälen der interparlamentarischen Arbeitsgruppen, die vormittags und nachmittags tagen.
Insgesamt gibt es 14 Kommissionen, auf die sich die drei SVP-Abgeordneten aufteilen. Renate Gebhard sitzt unter anderem in der interparlamentarischen Gruppe, die sich mit Gesetzesinitiativen zum Thema Krebs befasst. Ein Gesetzesvorschlag wurde zwar schon zweimal von der entsprechenden Gesetzgebungskommission diskutiert, ist aber noch nicht abgeschlossen. „Wir machen jetzt Druck, damit es endlich vorangeht und zur Verabschiedung kommt“, unterstreicht Renate Gebhard. Es handelt sich um die Aktivierung des nationalen Krebsplanes 2022-2027, der sich an den Zielen des europäischen Krebsplanes orientiert. Ziele sind unter anderem die Prävention unter Berücksichtigung der Risikofaktoren, die Früherkennung, der allgemeine Zugang zu therapeutischen Behandlungen sowie die Lebensqualität der Patienten und der geheilten Patienten sowie die Bereitstellung von (europäischen) Mitteln.
Ein wichtiger Aspekt in diesem Gesetzesentwurf ist das sogenannte „Recht auf Vergessen“ (diritto all'oblìo) für ehemalige Krebspatienten im Hinblick auf die soziale Eingliederung, die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und das Recht, keine inakzeptablen Formen der Diskriminierung aufgrund einer vorausgegangenen Krebserkrankung zu erleiden. Auch auf europäischer Ebene wird ein "Right to be forgotten" ("Recht auf Vergessen") diskutiert. Einige Länder, wie Portugal, Frankreich und Luxemburg haben es bereits eingeführt. Demnach sind ehemalige Krebspatienten zehn Jahre nach ihrer Heilung nicht mehr verpflichtet ihre Krankheit anzugeben, wenn sie z. B. Versicherungen abschließen, einen Bankkredit aufnehmen oder an einem Wettbewerb bei Polizei oder Heer teilnehmen möchten.
„Es handelt sich hierbei um eine äußerst wichtige Initiative“, betont Dr. Guido Mazzoleni, Präsident des Ärztebeirats der SKH. Allerdings sollte der Gesetzestext die verschiedenen Kategorien von Krebserkrankungen mit ihren unterschiedlichen Prognosen berücksichtigen, ebenso wie die Tatsache, ob es sich um eine frühe Diagnose handelte. „Bei Hodenkrebs kann man schon nach drei Jahren von Heilung sprechen, bei anderen Krebsarten später“, so Mazzoleni. „Die meisten Krebserkrankungen sind heute heilbar und die Menschen haben ein Recht, dieses Kapitel definitiv zu schließen!“