Aktuell

Der Notstand ist noch nicht vorbei – im Gegenteil!

Die gastroenterologische Abteilung in Bozen kämpft mit wenig Platz und langen Wartezeiten
Dr. Piazzi zeigt die drei Phasen und drei Schichten der Schutzkleidung: Schutzanzug, Bleiweste und ein weiterer Kittel. Dazu Haube, Visier, doppelte Handschuhe und FFP3-Maske. Und das im Hochsommer!
„Am Ende ging ja alles doch recht gut aus.“ Dr. Lucia Piazzi, stellvertretende Leiterin der Abteilung Gastroenterologie am Krankenhaus Bozen, atmet fast auf, auch wenn für sie bzw. ihre Abteilung der Notstand auch nach Beendigung des Lockdowns noch lange nicht vorüber ist. „Das Ausmaß dieser Epidemie, die sich zur Pandemie entwickelte, wurde anfangs, als die ersten Nachrichten aus der Lombardei kamen, völlig unterschätzt“, betont Dr. Piazzi.
Als die Situation dann eskalierte, hat sich ihre Abteilung aber umso schneller darauf eingestellt. Notstand ist in ihrer Abteilung ohnehin ein Dauerzustand, das Team kämpft seit jeher mit Platzmangel und langen Wartelisten. Eine Situation, die sich mit Covid-19 sicherlich nicht verbessert hat und sich auch im Nachhinein nicht verbessern wird. „Vor März haben wir täglich insgesamt 40 endoskopische Untersuchungen durchgeführt, jetzt sind es zwischen 20 und 25!"
Nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie wurden endoskopische Untersuchungen nur an stationären Patienten bzw. bei dringenden Fällen aus der Notaufnahme vorgenommen. Routineuntersuchungen, nicht vorrangige endoskopische Untersuchungen, Screening-Koloskopien mussten hingegen verschoben werden. Die Abteilung ist auch Mitte Juli noch am Abarbeiten der Termine vom Frühjahr.
„Die Pandemie hat unsere Arbeit zudem extrem verkompliziert“, unterstreicht Dr. Lucia Piazzi. „Aufgrund des begrenzten Platzes und der Prävention und Kontrolle von Covid-Infektionen haben wir alle mit der Endoskopie verbundenen Abläufe neu organisieren müssen, um die Patienten und natürlich auch das Personal keinerlei Risiken auszusetzen.“ Schutzkleidung musste schnellstens beschafft werden, die komplexe Sequenz des Anziehens mit Schutzanzug, Doppelhandschuhen, FFP3-Masken und Visier in die Arbeitsabläufe eingebaut werden. „Die Sicherheitsmaßnahmen haben die Abläufe verlangsamt. Auch, weil wir zumindest am Anfang nicht sofort eine angemessene Menge an Schutzkleidung zur Verfügung hatten. Wir waren gezwungen, von einem Tag auf den anderen zu planen. Aber eines ist sicher, die Qualität der Dienstleistung ist davon nicht beeinträchtigt worden,“ betont die Primarin.
Die Pandemie scheint eingegrenzt, aber das Problem der Wartelisten besteht nach wie vor. Eines der vier Endoskopieambulatorien kann nicht genutzt werden, weil es kein Fenster hat und die neuen Vorschriften nach jeder Untersuchung nicht nur eine gründliche Sanifizierung, sondern auch eine Lüftung vorsehen. Die Abteilung arbeitet deshalb mit nur drei Untersuchungszimmern und einem Raum für Ultraschall und Ultraschall-Endoskopie. Auch das Wartezimmer und der Aufwachraum haben covid-bedingt eine begrenzte Kapazität, um den Sicherheitsabstand von einem Patienten zum anderen zu gewährleisten. Konkret heißt das, statt fünf nur drei Patienten auf einmal. Und: „Außerdem haben wir zu wenig Pflegepersonal. Nicht nur, weil sie auf Covid-Stationen verlegt wurden, einige sind auch jetzt (noch) nicht zurückgekehrt wegen Arbeitsausgleich und Ferien. „Das heißt", so Dr. Piazzi, „wir sind absolut an der Grenze unserer Möglichkeiten.“
Wie hat Lucia Piazzi persönlich die Pandemie erlebt? „Es war sicher eine schwierige und komplizierte Zeit, aber ich hatte nie das Gefühl, es nicht zu schaffen. Wir haben mit größter Vorsicht gearbeitet und jeden Patienten so behandelt, als sei er Covid-19-positiv." Seit die normale endoskopische Tätigkeit wieder aufgenommen wurde, durchläuft jeder Patient vor dem Zugang zur Abteilung eine akkurate telefonische Triage. Direkt vor der Untersuchung muss zusätzlich ein Fragebogen ausgefüllt werden, um die Patienten nach hohem oder niedrigem Risiko einer SARS-CoV-2-Infektion zu klassifizieren. „In der Zwischenzeit“, so Piazzi, „werden nicht nur dringende, sondern auch vorrangige Untersuchungen wieder durchgeführt.“
Auch das Screeningprogramm ist durch die Covid-Pandemie beeinträchtigt worden. Nach Aufhebung des Lockdowns ist die Darmkrebsvorsorge nun wieder angelaufen, auch die Wartelisten sind nun wieder für Vorsorge-Koloskopien geöffnet. Allerdings: Das Darmkrebs-Screening-Programm sieht vor, nach einem positiven Test auf okkultes Blut im Stuhl innerhalb von dreißig Tagen eine Darmspiegelung durchzuführen. „Davon“, so Dr. Lucia Piazzi, „sind wir weit entfernt! Uns fehlt ein Endoskopieraum (oder besser gesagt zwei, weil wir seit Jahren auf einen zusätzlichen Untersuchungsraum warten) und uns fehlt das notwendige Pflegepersonal!“ Sogar die Screening-Untersuchungen im Follow-Up-Programm von Krebspatienten mussten verschoben werden. Und wer sich wegen eines Darmkrebsfalles in der Familie alle fünf Jahre einer Darmspiegelung unterzieht, muss sich erinnern, wenigstens ein Jahr vorher vorzumerken. „Wir können unmöglich jemanden einschieben, der sich nur zwei Monate vorher daran erinnert“, unterstreicht die Primarin.
Um das Raum- und Zeitproblem auf Dauer in den Griff zu bekommen, ist es unerlässlich neue, größere Räumlichkeiten für die Endoskopie zu finden und die Zahl der Mitarbeiter, insbesondere des Pflegepersonals, der Abteilung zu erhöhen. Die einzige Möglichkeit zumindest kurzfristig die Wartezeiten zu verkürzen, ist, auf zusätzliche Leistungen, das heißt Überstunden, zurückgreifen. Dieser Vorschlag liegt von Seiten des Sanitätsbetriebs auch tatsächlich vor. Einige Ärzte der Abteilung für Gastroenterologie haben dies auch bereits akzeptiert. „Von Seiten des Pflegepersonals", so die stellvertretende Primarin Lucia Piazzi, „liegt derzeit noch immer keine Antwort vor (Stichtag 6. Juli 2020, Anm. d. Red.).
Dr. Piazzi hat vorgeschlagen, den Arbeitsablauf durch die Einführung von Abstrichen und serologischen Untersuchungen auf Covid für alle Patienten vor der Untersuchung zu beschleunigen. „Wir könnten damit beruhigter und vor allem mit leichterer Kleidung besser arbeiten und die Untersuchungszeiten pro Patient damit um Einiges verkürzen. Außerdem könnten wir mehr Patienten gleichzeitig aufnehmen.“ Und während die Primarin darauf wartet, dass diese Prozedur endlich eingeführt werden kann, werden die Wartelisten mit jedem Tag länger…

Aktuell

Eine Zeit der Reife

Primarin Sonia Prader, Brixen: Mit dem Team zusammengewachsen
Es mag seltsam klingen, aber rückblickend sagt Dr. Sonia Prader, Primarin der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe am Krankenhaus Brixen, dass Covid unter bestimmten Gesichtspunkten, eine positive Zeit war. Positiv, weil sie mit ihrem Team noch mehr zusammengewachsen sei, weil man vor allem als Arzt und nicht als „Bürokrat“ gefordert war, weil durch einen konstanten Informationsfluss und perfekte Zusammenarbeit alles angemessen organisiert werden konnte, weil kein Mitarbeiter ihrer Abteilung, weder Hebammen, noch Pflegerinnen, noch Ärzte im Krankenhaus infiziert worden seien. „Und wir haben Frauen aus Gröden entbunden, die in Quarantäne waren!“
Am zweiten Januar hat Dr. Prader ihren Dienst in der Abteilung aufgenommen, nur zwei Monate später kam der Lockdown. Zu kurze Zeit, um Routine aufzubauen, aber doch genug, um die Abteilung so weit zu kennen, um sie covid-gerecht und im Team umstrukturieren zu können. „Am Anfang war ich mehrere Tage nur damit beschäftigt, das Team zu beruhigen, über das Wenige, das bekannt war aufzuklären und den Blick auf schrittweises, vorsichtiges Agieren zu fokussieren. Das Personal hatte verständlicherweise Ängste und Unsicherheiten, derer es Herr zu werden galt. Welche Gefahren bestehen für mich und meine Familie, kann ich mich schützen…? Es ging darum, alles von einer emotionalen auf eine rationale Ebene zu bringen. Dann lief es.“
Das größte Problem stellten die onkologischen Patientinnen dar. „Wir mussten je nach Erkrankung und Dringlichkeit die Tumor-Nachsorgetermine um drei bis sechs Monate verschieben. Wir haben uns sofort nach dem Lockdown ans Telefon gesetzt und die Patienten kontaktiert. Im März gingen wir davon aus, dass im Juli längst alles wieder im Lot sein werde…“
Dringende Brustoperationen wurden auch während des Lockdowns durchgeführt (10 – 15) ebenso wie gynäkologische Eingriffe (5-7) in Bozen. „In der ersten Phase haben wir nur dringende Notfälle und Kaiserschnitte durchgeführt. Aber schon nach Ostern hatten wir den onkologischen Betrieb wieder auf Vor-Covid hochgefahren.“ Alle Patientinnen, die chirurgisch versorgt werden mussten, auch Kaiserschnitte, wurden einem Coronavirus-Abstrich unterzogen und anschließend auch einem Antikörpertest. „Nicht für unsere Sicherheit, wir waren schließlich auf das Beste geschützt, sondern im Interesse der Patientinnen und ihres Umfelds und des Krankenhauses“, betont Dr. Sonia Prader.
Persönlich sieht Primarin Prader die Covid-19-Pandemie als Reifezeit. Sich von heute auf morgen auf etwas einzustellen, das so absolut nicht vorhersehbar war, sei eine gute Schule. „Ich habe gelernt, wie ich in einer Krisensituation funktioniere: offensichtlich nach dem Motto, packen wir es an.“
Wenn es etwas gebraucht habe als Eigenschaft, dann vor allem Pragmatismus und die Fähigkeit Unsicherheit zu akzeptieren und schnell Entscheidungen zu treffen. „Auf der anderen Seite gab es täglich aktualisierte Vorgaben und Leitlinien, auf der anderen Seite hieß es, sofort reagieren.“ Zwei Extreme, die die Situation im gesamten Bezirk Eisacktal gekennzeichnet hätten. „Schlussendlich hat sich die enge Zusammenarbeit im Team bewährt, eine gesunde Mischung aus Menschen, die eher vorsichtig und zögernd handeln und Menschen die instinktiv handeln. Beides hat es gebraucht, um praktisch vernünftige Entscheidungen zu treffen!“ Die Pandemie sei insgesamt eine wichtige Zeit für das ganze Krankenhaus gewesen. „Man hat gelernt, dass man sich aufeinander verlassen kann!“
Unter den Patienten seien ebenfalls ganz unterschiedliche Reaktionen zu erkennen gewesen, Menschen, die so taten als sei nichts und solche, die aus Angst übervorsichtig waren. „Eines steht fest“, so Dr. Sonia Prader, „Covid hat mit allen etwas gemacht, auch wenn man sich dessen vielleicht noch nicht bewusst sein mag.“ Vielleicht, meint sie, könne man sogar von einer Art kollektivem Trauma sprechen.
Krankenhaus Brixen
Die Pandemie habe viele Menschen durch die Konfrontation mit ihrer Angst, vor dem bedrohlich Unbekannten, verunsichert, die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod, mit der eigenen Endlichkeit und jener von nahen Verwandten und Bekannten. „Wichtig finde ich, dass es zu einer Aufarbeitung dieser essentiellen Themen und damit zu einer schrittweisen Bewältigung kommt. Die Politiker haben eine tolle Arbeit gemacht, indem sie in der Akutphase beruhigt und durch die Wogen geführt haben, doch nun sollte die offene Diskussion über Verbesserungsmöglichkeiten und Vorbereitung auf weitere Krisensituationen erfolgen. Bisher habe ich den Eindruck, dass die aktive Auseinandersetzung mit den Grenzen des Systems noch gescheut oder als wenig wichtig erachtet wird.“ Wenn man sich nicht äussere, sich nicht bewusst mache, was diese Erfahrung auch längerfristig in Gang gesetzt haben - mit jedem Einzelnen wie auch mit dem System - wie man sich vorbereiten und mit unabänderlichen Ereignissen umgehen kann, dann bleibe die erlebte Angst, die bei manchen bis zur Panik und vollkommenen Lähmung führe und werde sich in der nächsten Krise wieder ausbreiten. „Wenn Pauschalisierungen erlaubt sind, würde ich sagen: Südtiroler haben eine bewundernswerte Eigenschaft, sie sind Macher. Corona könnte uns helfen, eine andere Seite zu entdecken: die emotional-psychische Verarbeitung durch Bewusstmachung. Dies offen und gemeinsam anzugehen, ließe die Gesellschaft reifen.“
Deshalb brauche es jetzt vor allem Zeit und Gespräche, meint Dr. Sonia Prader. Zeit um äußerlich und innerlich zur Ruhe zu kommen, Zeit das Erlebte zu verarbeiten, Zeit um sich klar zu werden, was diese Erfahrung für die Zukunft, jeden Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet, Zeit um Versäumtes abzuarbeiten und aufzuholen. „Sprechen wir darüber, das hilft uns allen und macht uns als Gemeinschaft stärker.“