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Wichtig: Selbstmedikation vermeiden

Interview mit dem Primar der Abteilung für Komplementärmedizin, Dr. Giuseppe Cristina
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Onkologe und Komplementärmediziner Dr. Giuseppe Cristina
Eine im Juni im JAMA (Journal of the American Medical Association) veröffentlichte amerikanische Studie hat gezeigt, dass der langfristige und tägliche Gebrauch von Multivitaminpräparaten die Lebenserwartung nicht verlängert. Viele Menschen erwarten sich hingegen, wenn keine Wunder, zumindest einen spürbaren positiven Effekt auf ihren Körper und sind bereit, beträchtliche Summen für diese Produkte auszugeben.
Dr. Giuseppe Cristina: Es handelt sich um eine sehr wichtige Studie, sowohl was die Anzahl der Teilnehmer als auch die Dauer der Nachbeobachtung betrifft, das Ergebnis muss aber mit Einschränkungen bewertet werden. Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie, und die Lebensweise der amerikanischen Bevölkerung unterscheidet sich von unserer. Was für eine allgemein gültige Aussage fehlt, ist eine langfristige Fall-Kontroll-Studie, die eine adäquate Antwort auf die Nutzung von Nahrungsergänzungsmitteln in einer gesunden Erwachsenenpopulation geben würde. Ohne diese besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse verallgemeinert werden. Aber nichts desto trotz, das Thema ist äußerst aktuell und hat eine dreifache Dimension: wirtschaftlich – wie Sie bereits erwähnt haben, können diese Produkte recht teuer sein – aber auch sozial und gesundheitlich. Italien ist der größte Markt in Europa, sowohl für den Konsum als auch für die Produktion von Nahrungsergänzungsmitteln durch qualifizierte und innovative Unternehmen. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung verwendet Nahrungsergänzungsmittel, um ihren Gesundheitszustand zu erhalten, sportliche Leistungen zu verbessern, chronisch-degenerative Krankheiten zu vermeiden, laufende Therapien zu ergänzen oder Rückfälle einer Krankheit zu verhindern. Das Problem ist, dass der ungesteuerte Konsum dieser Produkte unter Umständen erhebliche gesundheitliche Konsequenzen haben könnte.
Inwiefern?
Dr. Giuseppe Cristina: Um dies besser zu verstehen, muss man beim Konzept der Prävention ansetzen, das heißt, die Umsetzung von Maßnahmen, die dazu dienen, das Auftreten, die Verbreitung und das Fortschreiten von Krankheiten zu verhindern. Es gibt drei Arten der Prävention. Die primäre Prävention umfasst vor allem die Führung eines gesunden Lebensstils (gesunde Ernährung, Nichtrauchen, körperliche Bewegung usw.). Dann gibt es die sekundäre Prävention, also die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, und schließlich die tertiäre Prävention, die nach einer Diagnose zum Einsatz kommt, um eine Chronifizierung oder ein Wiederauftreten der Krankheit zu verhindern. In jedem dieser Stadien könnten Nahrungsergänzungsmittel eine positive, neutrale oder potenziell schädliche Wirkung haben.
Können Sie einige Beispiele nennen?
Dr. Giuseppe Cristina: Nehmen wir Vitamin D, das für die Gesundheit von Frauen nach der Menopause zur Vorbeugung von Osteoporose unerlässlich ist. Ohne einen effektiven Mangel kann ein Übermaß an Vitamin D jedoch Anorexie, Bluthochdruck oder Nierenversagen verursachen. Ein weiteres Beispiel betrifft Männer: Die Einnahme von Vitamin E, ohne Mangel und in zu hoher Dosierung kann das Risiko für Prostatakrebs erhöhen. Nebenbei können auch Lebensmittel, je nach Gesundheitszustand, unerwünschte Nebenwirkungen haben. Die American Cancer Society hat festgestellt, dass der regelmäßige Verzehr von Sojaprodukten gesunde Frauen vor der Entwicklung eines Brustkrebses schützen kann. Nach einer Diagnose kann der Genuss von Soja jedoch die Wirksamkeit von Tamoxifen beeinträchtigen und damit das Risiko eines Rückfalls erhöhen. Ebenso kann der Verzehr von Grapefruit, die in einem gesunden Zustand als sehr gesund gilt, bei bestimmen Erkrankungen potenziell gefährlich sein, da sie mit bestimmten Medikamenten (einschließlich Krebsmedikamenten) interagiert und deren Wirkung negativ verändern kann.
Man sollte also immer einen Arzt konsultieren, bevor man Nahrungsergänzungsmittel einnimmt, und nicht nur diese …
Dr. Giuseppe Cristina: Sich an den Hausarzt oder einen Facharzt zu wenden, ist auch vor der Einnahme scheinbar ‚harmloser‘ pflanzlicher oder natürlicher Substanzen eine gute Praxis. Nahrungsergänzungsmittel sollten nicht eingenommen werden, ohne einen tatsächlichen Mangel und eine Notwendigkeit festgestellt zu haben. Dies gilt besonders für Menschen in onkologischer Therapie und in der unmittelbaren Nachbehandlungsphase. Zusammenfassend: man sollte Selbstmedikationen vermeiden. Nahrungsergänzungsmittel sollten nur auf Anweisung eines Spezialisten eingenommen werden, nachdem niedrige Werte von bestimmten Vitaminen oder eines Minerals festgestellt wurden. Ansonsten reicht es aus, sich ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren und bewusst auf die Qualität und Quantität dessen zu achten, was wir essen. Die Prävention von Krebs beginnt auch mit gesunden Ernährungsgewohnheiten. Es ist wichtig, sich stets eines bewusst zu machen: Natürlich oder vitaminhaltig ist nicht gleichbedeutend mit gesund und/oder sicher für jeden!
Sie haben Ihre Karriere als Endokrinologe und Onkologe begonnen. Warum haben Sie sich der Komplementärmedizin zugewandt, die von Ärzten anderer Fachrichtungen nicht immer wohlwollend betrachtet wird?
Dr. Giuseppe Cristina: „Ich denke, dass die Behandlung von Krebserkrankungen – wie auch anderen Krankheiten – eine ganzheitliche Betreuung des Patienten erfordert. Radio-, Chemo-, Immuntherapie sowie die neuesten genetisch bestimmten Antikörper Therapien sind notwendig und grundlegend, um das bestmögliche klinische Ergebnis zu erzielen. Das Überleben und in einigen Fällen die Heilung haben sich im Vergleich zu vor zwanzig Jahren deutlich verbessert. Die Lebensqualität ist ein entscheidender Faktor im Heilungsprozess bei Therapien, die sich über längere Zeit erstrecken. Ein Patient mit besserer Lebensqualität ist in der Lage, alle seine Therapien ohne Unterbrechung durchzuführen, fühlt sich insgesamt besser und ist psychologisch stabiler. Dieses Ergebnis wird durch eine Kombination von innovativen Therapien, unterstützenden komplementären Therapien und einer effektiven Arzt-Patienten-Kommunikation erreicht. Ein informierter Patient, der aktiv an der Bewältigung seiner Krankheit beteiligt ist (oder, falls dies nicht möglich ist, seine Angehörigen), stellt einen großen therapeutischen Vorteil dar.
Hat Ihre Erfahrung als Onkologe Sie nach Meran geführt?
Dr. Giuseppe Cristina: „Ich würde sagen, ja. Die Komplementärmedizin ist eine zusätzliche Ressource, um die Krankheit zu bewältigen. Der Dienst für Komplementärmedizin in Meran ist ein einzigartiges Beispiel in Italien, mit Ausnahme der Toskana und eines Dienstes in Rom, der jedoch ausschließlich für Brustkrebspatientinnen gedacht ist. Onkologie und Komplementärmedizin sind eine überaus gewinnbringende Kombination in der Behandlung. Das Wissen über die Krankheit und ihre Therapien hilft, besser zu verstehen, was der Patient braucht, und eine proaktive therapeutische Haltung zu entwickeln. Darüber hinaus ermöglicht uns die zunehmende Zahl von Veröffentlichungen im Bereich der integrierten Onkologie (zu denen auch unsere Abteilung beiträgt), nur getestete, validierte, evidenzbasierte und an die klinischen Bedürfnisse des Patienten angepasste Therapien anzuwenden.

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Integratoren nur gezielt und unter Kontrolle einnehmen

Eine ausgewogene Ernährung versorgt den Organismus im Normalfall mit allem Notwendigem
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Dr. Michael Kob: "Es kommt nicht nur darauf an was, sondern auch wie und wie viel wir essen
Dr. Michael Kob ist geschäftsführender Primar des Dienstes für Diätetik und klinische Ernährung. Der Dienst überwacht die klinische Ernährung im Krankenhaus, die Gemeinschaftsverpflegung in öffentlichen Einrichtungen, führt Informations-, Präventions- und Erziehungskampagnen durch und führt Diätberatung und -begleitung durch und begleitet Patienten mit Stoffwechsel- und Essstörungen sowie mit Mangelerscheinungen. Dr. Kob ist verantwortlich für die Rezeptrubrik der Chance.
Dr. Kob, wie beurteilen Sie das Ergebnis der amerikanischen Studie über die Frage der lebensverlängernden Wirkung von Multivitamin-Integratoren?
Dr. Michael Kob: Das Ergebnis überrascht mich nicht, wenn Sie das meinen. Allerdings sind Studien immer ein Durchschnittswert! Wobei auch klar zu sagen ist, dass wir hier vor allem von einem nicht ärztlich begleiteten Gebrauch dieser Integratoren reden. Es ist eines, ob ich auf eigene Faust irgendetwas einnehme, von dem ich mir einen bestimmten Nutzen erwarte oder ob ich etwas einnehme, das ein Arzt verschrieben hat, weil ein Mangel festgestellt wurde. Hauptkonsumenten dieser ohne ärztlichen Rat eingenommenen Integratoren sind Menschen, die „healthy“ eingestellt sind, unabhängig von einer Vorerkrankung. Menschen also, die sich und ihrem Körper etwas Gutes tun wollen. Der Großteil der Inhaltsstoffe dieser Integratoren sind Vitamine und Mineralsalze, Substanzen also, die wir eigentlich täglich zu uns nehmen…
Sie meinen, man muss sie sich nicht extra kaufen?
Dr. Michael Kob: Genau. Wenn ich ausgewogen und mit Maß esse, fünf Portionen täglich an Gemüse bzw. Obst der Saison, regelmäßig und in Maßen Hülsenfrüchte und Nüsse, Vollkorn-Getreide-Produkte, etwas Fisch, wenig Milchprodukte und Fleisch, bzw. mich ausgewogen vegetarisch oder vegan ernähre, dann hat mein Organismus eigentlich alles, was er zum guten Funktionieren braucht.
Der Griff zum Multivitaminprodukt ist zum Teil auch Jahreszeit bedingt. Im Herbst und Winter während der Erkältungszeit steigt die Nachfrage.
Dr. Michael Kob: Ja, weil man sich von Vitamin C oder Zink einen Schutz vor Schnupfen oder anderen Erkältungskrankheiten erwartet. Vitamin C ist generell in rohem Gemüse, in Kartoffeln, in Obst und natürlich in Zitrusfrüchten enthalten, die es zumal im Winter frisch geerntet zu kaufen gibt. Karotten sind ein Wintergemüse und voll Vitamin C. Mehr als einen tatsächlichen Schutz durch ein Vitamin-Präparat sehe ich hier einen Placebo-Effekt.
Enthalten Multivitamin-Integratoren grundsätzlich die Vitamine und Substanzen, die wir brauchen?
Dr. Michael Kob: Wenn die Einnahme von Integratoren mit einem Arzt abgesprochen ist, kann dieser gezielt bestimmte Produkte verschreiben oder empfehlen. Das Problem vieler dieser überall erhältlichen Multivitamin-Integratoren ist, dass sie oft zu viel enthalten, 20 bis 30 Substanzen, Vitamine, Salze usw. Manche Tabletten lösen sich auch nicht vollständig im Magen auf. Es ist besser, gezielt diejenigen Substanzen einzunehmen, an denen ein Mangel oder ein besonderer Bedarf festgestellt worden ist, wie z. B. Vitamin B12, Vitamin D oder Folsäure.
Sind wir uns generell zu wenig dessen bewusst, was wir mit der Ernährung zu uns nehmen?
Dr. Michael Kob: Ich glaube schon. Und nicht nur was, sondern auch wie und wieviel wir essen. In vielen Lebensmitteln sind z. B. Zucker und Fette enthalten. Es ist gut, wenn ich rein pflanzliche Öle esse, aber ich muss mir auch dessen bewusst sein, dass in Oliven- , Raps- und Leinsamenöl – nebenbei sehr zu empfehlen– oder Nüssen und Avocados zwar gesunde, ungesättigte Fette enthalten sind, aber auch gesunde Fette haben Kalorien. Tropische Fette hingegen, wie Kokosöl oder Palmöl, enthalten gesättigte Fette, die sich negativ auf Herz- und Kreislauf auswirken können.
Wir leben in einer stressgeprägten Zeit, die Menschen nehmen sich weniger Zeit zum Essen…
Dr. Michael Kob: … und auch zum Zubereiten der Mahlzeiten. Eines der großen Probleme unserer Zeit ist das sogenannte UPF, ultra processed food, also ultrahochverarbeitete Lebensmittel. Nahrungsmittel also, die einen sehr hohen Grad an industrieller Verarbeitung durchlaufen und eine Vielzahl von Zutaten wie Zusatzstoffe, künstliche Aromen, Salze oder auch Konservierungsmittel enthalten. Das fängt bei der Tiefkühlpizza und anderen Tiefkühlgerichten an, Fast Food, Snacks, Müsli- und Müsliriegel, Süßigkeiten, Gebäck und Kuchen, Chips, Fertigsaucen, Energydrinks, Sportgetränke, Wurstwaren, Fleischersatzprodukte… In England machen sie schon die Hälfte der Lebensmittel aus, bei uns sind sie im Kommen.
Was sind die negativen medizinischen Auswirkungen dieser UPF?
Dr. Michael Kob: Neben Übergewicht, weil sie sehr fetthaltig sind, können sie zu Hyperaktivität führen, zu Gemütsstörungen, zu Herzkrankheiten, Krebs, Diabetes Typ 2.
Es gibt noch eine andere Art der Integratoren, die problematisch sein können, wenn sie nicht mit einem Spezialisten abgesprochen sind. Proteinhaltige Produkte, die vor allem junge Männer gerne nehmen, um den Muskelaufbau zu pushen oder Personen, die abnehmen wollen. Kann das gefährlich sein?
Dr. Michael Kob: Zunächst: Wer sich ausgewogen ernährt, führt seinem Körper genug Proteine zu. Zu wenig Proteine sind ein Problem, aber ebenso zu viele, vor allem tierischer Natur. Das Zuviel an Proteinen wird über Niere und Leber ausgeschieden. Wer seinem Körper dauerhaft zu viel Protein zuführt, geht ein Risiko ein: Aminosäuren fördern z. B. das Zellwachstum und könnten bei übermäßigem Konsum zur Entstehung bestimmter Tumorerkrankungen führen. Zuviel Protein wird von den Nieren und der Leber ausgeschieden, auf Dauer können diese Organe geschädigt werden. Übergewichtige, die zu viel Protein zu sich nehmen, riskieren Diabetes. Selbst bei aktiven und LeistungsportlerInnen reicht die Eiweißzufuhr durch die normale Ernährung aus. Der zusätzliche Proteinbedarf zum Muskelaufbau kann über normale Lebensmittel, z. B. Hülsenfrüchte und Nüsse, Milchprodukte oder Fisch gedeckt werden. Viele der künstlichen Proteinprodukte, Milchshakes, Eiweißbrot oder Eiweiß-Pudding u. ä. m. fallen zudem wieder in die Kategorie der ultrahochverarbeiteten Lebensmittel und können auf Dauer dem Organismus schaden, abgesehen davon, dass diese Produkte teuer sind. Die italienische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt gesunden Erwachsenen eine tägliche Zufuhr von 0,9 Gramm Eiweiß je Kilogramm Körpergewicht, LeistungssportlerInnen brauchen zwischen 1,4 bis 2 g pro Kilogramm.