Thema
Vom Tod reden ist nicht lebensgefährlich
Marie de Hennezel hat ab 1984 die Palliativversorgung in Frankreich mitbegründet
FOTO: Stéphane Grangier
Ein Glück, ihr zu begegnen. Sie strahlt Sanftheit und Kompetenz, Engagement und Entschiedenheit aus. Ihre Stimme ist sanft und eindrucksvoll wie ihre Art zu sprechen, langsam, bestimmt. Sie ist ganz Empathie und furchtlos. Marie de Hennezel. Sie hat 27 Bücher geschrieben. Vor allem über das Thema Tod und Sterben, aber auch über das Altern, über Liebe im Alter und sogar ein Herbarium über 25 Heilpflanzen. Die Psychologin und Psychotherapeutin gilt als Pionierin der Palliativ-Versorgung in Frankreich und hält in ganz Frankreich Vorträge zu diesem Thema. Ausgangspunkt war ihre Begegnung mit dem französischen Präsidenten François Mitterand (1916 – 1996; 1981 – 1995 Präsident), ihr Mentor und Förderer. Das war im Jahr 1984.
Das Jahr 1984 war ein Schicksalsjahr für Sie?
Marie de Hennezel: Das kann man so sagen. Ich begegnete François Mitterand und wir sollten die folgenden zwölf Jahre bis zu seinem Tod in engem Kontakt miteinander stehen.
François Mitterand war zu dem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren Präsident von Frankreich und er war seit drei Jahren an Prostatakrebs erkrankt.
Marie de Hennezel: Als wir uns kennenlernten, 1984, sagte er mir, dass er am Ende der Lebenszeit angekommen sei, die die Ärzte ihm gegeben hatten. Drei Jahre. Ich sagte ihm damals, wer kann schon wissen, wie lange sie noch zu leben haben? Das hängt ab, von dem, was sie noch auf Erden machen müssen und das hängt von ihrer Einstellung ab. Und ich wusste, dass er diese Antwort von mit erwartet hatte. In den folgenden zwölf Jahren haben wir immer wieder über den Tod gesprochen, über den Tod. Und über Spiritualität. Ich fragte ihn, ob er gläubig sei. Er antwortete mir, mit dem Kopf nicht, dann legte er seine Hand auf sein Herz und sagte, hier schon.
Auf François Mitterand geht die Eröffnung der ersten Palliativ-Abteilung an einem Krankenhaus in Paris zurück. Deren Pionier-Team sie als Psychologin angehörten.
Marie de Hennezel: Sterben war 1984 ein absolutes Tabu-Thema in Frankreich. Ein Kongress in Nizza sorgte damals für Aufsehen: Ärzte erklärten, dass sie ihren Patienten aus Verzweiflung ein Cocktail mit drei Substanzen verabreichten, das in zwei Tagen zum Tod führte. Man wusste damals weder wie Menschen am Lebensende begleiten, noch wie ihre Leiden lindern. Die Folge dieser Erklärung verursachte einen Skandal und führte zur Einberufung einer ministeriellen Kommission, die letztendlich die Einrichtung von Abteilungen für Palliativ-Versorgung beschlossen hat. Das war 1985-1986.
Und Mitterand unterstützte das, weil er selbst von diesem Thema so betroffen war?
Marie de Hennezel: Vermutlich hat er an sich selbst gemerkt, wie wichtig es ist, dieses Thema offen ansprechen zu können und eine entsprechende Begleitung in dieser so wichtigen Phase des Lebens zu haben. Die erste Abteilung wurde schließlich 1987 im Hôpital international de l'université de Paris, im Internationalen Krankenhaus der Universität Parias eröffnet. Das medizinische Personal kümmerte sich darum, Schmerzen und leiden zu lindern, als Psychologin hatte ich eine zentrale Rolle und musste mich sowohl um die Sterbenden und ihr psychisches Wohlergehen, als auch um die Familien und das medizinische Personal kümmern. Wir standen ganz am Anfang und mussten uns alles erarbeiten.
Wenn sie die Situation in Frankreich heute mit jener damals vergleichen?
Marie de Hennezel: Oh, es hat sich vieles verändert. Die Forschung hat enorme Fortschritte gebracht. Es gibt neue Therapien, neue Medikamente, man kann Schmerzen wesentlich effizienter sedieren, auch dank der Molekularbiologie. Aber was zu bedauern ist, ist die Tatsache, dass auch heutzutage noch die Ärzte, auch die jungen Ärzte nicht für die Palliativversorgung ausgebildet sind. Das gleiche muss ich von den Psychologen sagen. Es gibt große Unterschiede von Fakultät zu Fakultät. Nehmen wir die Ärzte: in manchen Studiengängen sind 40 Stunden Ausbildung in Palliativversorgung vorgesehen, in anderen nur zwei! Und auch für Psychologen ist es kein Pflichtfach, dabei bräuchte es einen eigenen Studiengang für Palliativ-Care!
Im Pflegebereich sieht es anders aus?
Marie de Hennezel: Ja. Es ist mir immer wieder eine Freude, wenn bei meinen Vorträgen KrankenpflegerInnen auf mich zukommen und mich bitten Bücher zu signieren und mir erzählen, dass meine Bücher Lehrstoff sind.
Im Jahr 2016 wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, das für große Aufregung sorgte…
Marie de Hennezel: Sie meinen das Gesetz Claeys-Leonetti? Damit wurden die 1999 erlassenen Bestimmungen zur Palliativversorgung noch verstärkt und festgeschrieben. Jeder Patient hat demnach das Recht auf eine Palliativ-Behandlung. Das Recht eine Person des Vertrauens zu bestimmen, die im Fall für ihn entscheiden kann. Das Recht, auf eine verpflichtende Patientenverfügung und auf Therapieverweigerung sowie das Recht, bei starken Schmerzen und Leiden tief sediert zu werden um sozusagen schlafend für immer „einzuschlafen“.
Aber ist das nicht ein Verstoß gegen den Hippokrates-Eid, den jeder Arzt ablegt?
Marie de Hennezel: Es gibt in der Tat auch Ärzte, die sich gegen dieses Gesetz auflehnen, die sagen, wir dürfen keine Sterbehilfe leisten. Aber jemanden so sedieren, dass er schläft und schmerzfrei ist, bzw. jemandem die Freiheit lassen, zu entscheiden, wann er keine Therapie mehr will, weil es keine Heilung gibt, das ist in meinen Augen ebenso legitim wie zu sagen, ich will alles probieren, was es gibt, um mein Leben zu verlängern und hat mit aktiver Sterbehilfe nichts zu tun.
Das Lebensende ist also immer noch, auch nach all diesen Jahren mit einem Tabu belegt?
Marie de Hennezel: Ja, es noch sehr große Widerstände. Das Tabu besteht nach wie vor 40 Jahren und es gibt immer noch zu viele Menschen, die sich diesem Thema verschließen. In meinen Vorträgen sage ich immer, „Es ist nicht lebensgefährlich vom Tod zu reden“. Im Gegenteil. Wenn ich jemandem zur Seite stehe in diesem wichtigen Augenblick seines Lebens, lerne ich etwas über das Leben, aber ich lerne auch etwas über meinen eigenen Tod. Wir müssen über das Lebensende reden. In der Familie, mit Trauernden, überall, müssen offen sein. Dieses Schweigen verursacht so viel Einsamkeit.
Was ist für Sie das Wichtigste in der Begleitung eines Menschen am Lebensende?
Marie de Hennezel: Zu akzeptieren, dass das Sterben, der Tod, Teil des Lebens sind und dass es ein absolutes Muss ist, diese Menschen entsprechend zu begleiten, sie und die Menschen, die ihnen nahestehen und die Menschen, die sich ihrer annehmen. Das ist eine menschliche Pflicht! Aber heute ist die Medizin zu technisch geworden und verliert mehr und mehr an Menschlichkeit. Den Angehörigen versichere ich, dass sie keine Angst vor dieser Aufgabe zu haben brauchen, ich sage ihnen, verschließen sie sich nicht dieser Aufgabe, wenn sie sich ihnen stellt, sie können so viel dadurch lernen.
Jemanden im Sterben begleiten, ist eine Schule für das Leben?
Marie de Hennezel: Ja. Der Tod ist ein Thema, das mich immer begleitet, und ich kann ihnen versichern, dass mir das ungemein viel gibt. Ich habe durch diese Nähe zum Tod, zu Sterbenden, zu Menschen, die sich auf den letzten Weg begeben, verstanden, wie wertvoll das Leben ist.
Der Kampf gegen das Schweigen um das Lebensende ist ihre Mission?
Marie de Hennezel: Ja ich glaube schon. Es ist das, was ich hier auf Erden am besten kann. Ich habe wohl eine Gabe, ich sage das in aller Bescheidenheit, aber es stimmt, ich habe diese Gabe in aller Ruhe, ohne Furcht vom Tod zu reden. Ich habe die Gabe der Empathie und des Zuhören Könnens, des Schweigen Könnens, wenn es nötig ist, die Gabe, jemanden zu berühren, wenn er es braucht, eine taktile Präsenz. Und manche Menschen brauchen die Erlaubnis zum Sterben. Sie brauchen, dass ihre Angehörigen ihnen versichern: Du hattest ein schönes Leben, jetzt kannst Du in Frieden gehen und wir werden Dich in unseren Herzen bewahren.
Haben Sie selbst Angst vor dem Sterben?
Marie de Hennezel: Spontan würde ich sagen nein, aber ich weiß es nicht…