Thema
Ein umhüllender Mantel
Dr. Massimo Bernardo hat den Palliativdienst in Südtirol ins Leben gerufen
Dr. Massimo Bernardo von der Geriatrie zur Palliativmedizin
Seit 2003 verfolgte Dr. Massimo Bernardo die Idee, den ersten Palliativdienst und das Hospiz in Bozen aufzubauen. Dieses wurde schließlich 2011 als eigenständiger Dienst eröffnet. Heute gibt es Hospizeinrichtungen auch in Bruneck und – in konventionierter Form – in Meran (Martinsbrunn). In Brixen und Leifers sind weitere Einrichtungen geplant. In einer zunehmend alternden Gesellschaft, in der Menschen immer länger leben und typische Alterskrankheiten entwickeln wie z. B. Krebs, ist dieser Dienst immer essenzieller.
Dr. Bernardo, Sie sind ausgebildeter Geriater. Was hat Sie dazu bewegt, sich für die Einrichtung eines Palliativdienstes einzusetzen?
Dr. Massimo Bernardo: Der Tod ist in der Geriatrie allgegenwärtig, aber damals wurde er meiner Meinung nach unangemessen behandelt: zu klinisch, ohne zu berücksichtigen, dass der Tod Teil des Lebens ist. Man neigte dazu, sich auf Behandlungen zu versteifen, die die Menschen unnötig leiden ließen. Ich habe erkannt, dass der Tod wieder in den menschlichen Kontext des Lebens zurückgeholt werden muss, um diese Arbeit gut zu machen. Die Medizin hat außergewöhnliche Fortschritte gemacht, aber sie ist zu spezialisiert geworden, hat den Blick für den Menschen und seine Familie verloren. Am Lebensende braucht es eine umfassende Perspektive, die soziale, ethische, kulturelle und pflegerische Aspekte einbezieht.
Sie haben also ab 2003 damit begonnen, die Leitung des Sanitätsbetriebes von der Notwendigkeit eines Palliativdienstes zu überzeugen?
Dr. Massimo Bernardo: Genau. Ich habe auch einen zweijährigen Masterstu-diengang in Palliativmedizin absolviert, der es mir ermöglicht hat, mich mit Themen auseinanderzusetzen, die weder in meiner medizinischen Ausbildung noch heute in der Ausbildung von Ärzten vorgesehen sind – im Gegensatz zur Ausbildung der Pflegekräfte. Ich habe zehn Jahre lang Palliativmedizin in der Geriatrie praktiziert und dabei auch Patienten unter 65 Jahren aufgenommen. Mit dem Gesetz 38 von 2010, das als erstes in Europa Palliativmedizin als Bürgerrecht definierte, wurden rigorose Versorgungsmodelle und -netzwerke definiert. Es wurde festgelegt, dass die PatientInnen und ihre Angehörigen umfassend von einem multidisziplinären Team zu betreuen sind, in das auch Freiwillige einzubeziehen sind. 2011 wurde dann der Dienst für Palliativmedizin offiziell ins Leben gerufen.
Zielgruppe dieses Dienstes sind PatientInnen mit unheilbaren Erkrankungen bzw. in einem fortgeschrittenem Krankheitsstadium ohne Aussicht auf Heilung. Das heißt nicht, dass die Palliativmedizin nur dem unmittelbar bevorstehenden Lebensende vorbehalten ist?
Dr. Massimo Bernardo: Nein. Ich weiß, das Wort palliativ macht Angst. Palliativ bedeutet aber nicht, dass der Tod unmittelbar bevorsteht. Das Wort leitet sich vom lateinischen pallium ab, einem Mantel, der umhüllt. Je früher man in die Palliativmedizin kommt, desto besser. Unser Ziel ist es, die Lebensqualität zu verbessern. Es geht nicht darum, beim Sterben zu helfen, sondern dafür zu sorgen, dass die PatientInnen in ihrer Situation so gut wie möglich leben können, ihre Leiden zu lindern. Viele PatientInnen, die zur Behandlung zu uns kommen, sagen uns später: „Warum bin ich nicht schon früher hierhergekommen?“
Wie viele Personen arbeiten in Ihrem Dienst?
Dr. Massimo Bernardo: Viel zu wenige. Wir sind neun Ärzte für die gesamte Provinz, aber wir bräuchten mindestens 18, dazu mehr Pflegekräfte und weitere Fachkräfte.
Der Palliativdienst umfasst nicht nur die Betreuung im Hospiz oder Krankenhaus, sondern auch Hausbesuche. In der gesamten Provinz?
Dr. Massimo Bernardo: Vom Brenner bis Salurn. Einige Ärzte bleiben immer im Hospiz und im Krankenhaus, während andere im gesamten Gebiet unterwegs sind. Manchmal dauert ein Patientenbesuch wegen der weiten Wege einen halben Tag.
Die Palliativmedizin ist kein sehr attraktives Fachgebiet für junge Ärzte?
Dr. Massimo Bernardo: Selten. Nur 22 Prozent der Ausbildungsplätze in der mit dem Gesetz vom 19. Mai 2020 eingeführten Facharztausbildung für Medizin und Palliativmedizin werden derzeit besetzt. Die Arbeit im Bereich des Lebensendes erfordert eine Reife, die viele junge Ärzte noch nicht haben können. Es ist eine physisch und psychisch sehr belastende Tätigkeit, da man ständig mit Leid und Tod konfrontiert ist. Bei Überlastung wird dies noch belastender. Ein großer Teil unserer Arbeit findet am Telefon oder per Videoanruf statt – im Gespräch mit PatientInnen und auch mit den Angehörigen, die im palliativmedizinischen Bereich eine entscheidende Rolle spielen. Ohne sie, ohne den territorialen Dienst, die Hausärzte und das Pflegepersonal wäre es nicht möglich, Menschen so lange wie möglich zu Hause zu betreuen. Aber wir sind zu wenige, um diesen grundlegenden Dienst langfristig in der besten Qualität gewährleiste zu können.
Welche Fachrichtungen hatten bisher Zugang zur Palliativmedizin?
Dr. Massimo Bernardo: Neun: Anästhesie und Wiederbelebung, Hämatologie, Geriatrie, Infektionskrankheiten, Innere Medizin, Neurologie, Onkologie, Pädiatrie und Strahlentherapie.
Belastend ist nicht nur die Überbelastung und das damit verbundene Arbeiten unter prekären Bedingungen, sondern auch die psychische Last, ausschließlich mit Patienten zu tun zu haben, die keine Hoffnung auf Heilung haben können?
Dr. Massimo Bernardo: Sicher, es ist auch unter diesem Gesichtspunkt eine extrem schwere Arbeit. Jeder von uns muss dafür sorgen, seine eigene Lebensqualität zu wahren, sonst wird die Last unerträglich. In unserer Gesellschaft ist das Thema Lebensende noch immer ein Tabu. Wir sollten es jedoch als integralen Bestandteil des Lebens akzeptieren. Diese Message bringen wir im Rahmen von Schulprojekten gemeinsam mit der Organisation „Il Papavero – der Mohn“ auch in die Schulen.
Was motiviert Sie in dieser Arbeit?
Dr. Massimo Bernardo: Noch heute kommen Angehörige ehemaliger PatientInnen, die zufällig im Krankenhaus sind, bei uns vorbei, um uns zu grüßen. Auch noch nach Jahren. Das gibt unserer Arbeit einen Sinn. Menschen in einem so sensiblen Moment zu begleiten, Leiden zu lindern und eine so dramatische Erfahrung in etwas Bedeutsames zu verwandeln, ist eine tiefgreifende menschliche Erfahrung, die unserer Tätigkeit Sinn verleiht und die uns erfüllt.